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Freihandel und Stacheldraht

Eingereicht on 23. Februar 2016 – 9:53

Georg Fülberth. Migration nützt den Aufnahmeländern – wenn diese Akkumulationszentren sind. Wird jedoch dort kein Profit gemacht, sind einige Flüchtlinge willkommene Facharbeitskräfte. Sie werden außerdem als Lohndrücker ausgenutzt

Die Flüchtlingsfrage ist in diesem Land gegenwärtig das zentrale politische Thema. Wie man sich zu ihr verhält, das ist auch ein Gradmesser moralischer Integrität. Die Abgründe an Verkommenheit und Niedertracht, die sich in immer kürzeren Abständen auftun, machen bisweilen sprachlos. Ob aber andererseits jede offizielle, aufnahmefreundliche Position von Mitgefühl und Humanität motiviert ist, muss bezweifelt werden. Man darf vielmehr Berechnung und Interesse vermuten. Die ganze Angelegenheit besitzt also, wie alles, eine materielle Grundlage: Es geht um Ökonomie.

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Flüchtlingskrise. Schon stellen sich zwei Fragen. Erstens: Was ist eine Krise? Zweitens: Wessen Krise wäre sie dann?

In der Medizin bezeichnet der Begriff »Krise« den kritischen Punkt eines Krankheitsverlaufs: entweder Exitus oder Genese. Dies ließe sich zunächst ja vor allem auf die Flüchtlinge selbst anwenden, bei denen es oft genug um Leben und Tod geht. Aber das ist offenbar gegenwärtig nicht gemeint. Seit es Flüchtlinge gibt, ist ihre Situation zugleich ihre Krise. Häufig interessiert das niemanden so recht. Kommen die Flüchtlinge den Alteingesessenen zu nahe, kriegen letztere die Krise. Darum handelt es sich jetzt. Seit Jahrzehnten kommen Flüchtlinge in Südeuropa an, ohne dass dies in Deutschland besonders zur Kenntnis genommen worden wäre. An Griechenland interessierte vor allem sein Schuldenstand. Von einer Flüchtlingskrise spricht man in der Bundesrepublik erst richtig laut, seit die Fliehenden in immer größerer Zahl auch hier ankommen.

Internationale Konventionen

Um sie wieder loszuwerden oder gar nicht erst aufnehmen zu müssen, so wird verkündet, müssten die Fluchtursachen bekämpft werden. Welche sind gemeint?

Internationale Konventionen legen fest, wem das Recht, aufgenommen zu werden, zugesprochen wird: politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge. In beiden Fällen wird zugleich eine Grenze gezogen. Der Schutz gilt nur so lange, wie die Fluchtursachen bestehen. Endet die Verfolgung oder der Krieg, sind die Herkunftsländer wieder sicher, und die Geflohenen müssen zurück, falls sie nicht vorher doch die Staatsangehörigkeit ihrer Aufnahmeländer erworben haben. Es handelt sich in der Regel somit um nicht auf Dauer angelegte Migration.

Wer politisch Verfolgten Asyl zusichert, geht davon aus, dass es sich um eine relativ kleine Menschengruppe handelt, deren Unterbringung keine großen Probleme bereitet. Im 19. Jahrhundert waren die Schweiz und Großbritannien die klassischen Asylländer. Niemand wäre dort auf die Idee gekommen, »Fluchtursachen« zu bekämpfen. Die Iren, die massenhaft nach England kamen, flohen nicht vor politischer Verfolgung, sondern vor dem Hunger. Die meisten wanderten in die USA aus. Darunter waren auch politisch Verfolgte, aber nur eine Minderheit. Die Behörden dort fragten im übrigen nicht nach den Gründen, denn die Vereinigten Staaten verstanden und verstehen sich ja grundsätzlich als Einwanderungsland.

Will die Bundesrepublik politische Verfolgung als Fluchtursache bekämpfen? Das muss sie wohl, denn sie ist Mitglied der Vereinten Nationen und bekennt sich also auch zu deren Erklärung der Menschenrechte. Wollte sie diese Grundsätze in praktische Politik umsetzen, befände sie sich in permanentem Krieg, und zwar gegen die Mehrheit oder zumindest eine starke Minderheit der UN-Mitgliedsländer, überall dort, wo politische Verfolgung stattfindet. Das mag zwar nach dem Herzen des derzeitigen Bundespräsidenten sein, scheitert aber am Opportunitätsprinzip, höflicher ausgedrückt: an real bestehenden Machtverhältnissen und Wirtschaftsbeziehungen (z. B. zu Erdöl exportierenden Ländern).

Solange Diktaturen stark sind, produzieren sie relativ wenige politische Flüchtlinge. Ihre innere Opposition können sie klein- und ihre Grenzen dicht halten. Deutschland zwischen 1933 und 1945 war keine Ausnahme: Die innerstaatliche rassistische Erklärung der Jüdinnen und Juden zu Feinden durch den deutschen Faschismus erfolgte unabhängig von deren politischer Haltung. Die Antihitlerkoalition hat tatsächlich diese Fluchtursache beseitigt.

Erst wenn eine Diktatur schwächelt, entsteht eine Opposition von merklicher Masse. Diese flieht in der Regel nicht, sondern bleibt so lange, wie sie eine Chance sieht, die bestehende Herrschaft zu stürzen. Zur Opposition gehört im Nahen Osten und Afrika nicht in erster Linie eine wohlduftende Zivilgesellschaft, sondern der nach Pech und Schwefel riechende Islamismus. Ergebnis der Auseinandersetzung sind häufig Failing states, die Leben und Wohlfahrt ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht mehr garantieren können. Jetzt spätestens setzt die Massenflucht ein. Staaten kollabieren aber nicht nur aufgrund ihrer inneren Konflikte. Es kommen noch zwei weitere Ursachen hinzu. Die erste sind militärische Interventionen von außen. In Syrien nahmen sie einen gerade ausbrechenden, von auswärtigen Mächten zusätzlich angefachten Bürgerkrieg zum Anlass. Der Irak von Saddam Hussein lieferte nicht einmal diesen Anlass: Die Despotie war noch stabil. Militärische Interventionen haben ihrerseits Ursachen. Hierzu gehört, was wir hier versuchsweise den zweiten Imperialismus nennen wollen.

Zwei Fluchtursachen

Herrgott nochmal: Müssen wir denn solche begrifflichen Konstrukte bemühen, wenn wir uns empirisch feststellbare Tatsachen erklären wollen? Geht wohl nicht anders. Der erste, also der klassische Imperialismus war seit zirka 1870 die systematische Ausdehnung der Herrschaft von konkurrierenden kapitalistischen Staaten über nicht oder nur geringfügig industrialisierte Gebiete in Form von Kolonien, neu einverleibten Teilen des Staatsgebietes, Einflusssphären zwecks Bezug von Rohstoffen, Waren- und Kapitalexport und Besiedlung.

Das ging so bis 1945. Dann endete der erste Imperialismus. Manche Leute bildeten sich ein, dieses System internationaler Herrschaft habe wegen der Entkolonialisierung für alle Zeit aufgehört zu bestehen. In Wirklichkeit trat es in eine mehrere Jahre währende Latenzphase ein. Die hochentwickelten kapitalistischen Länder gaben unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika ihre bisherigen Kämpfe gegeneinander auf. Auch damals waren die USA, was sie heute unverändert sind: eine imperialistische Macht, die aber nicht gegen andere kapitalistische Länder kämpfte, sondern gegen die Sowjetunion und deren Verbündete. Im Schatten des Systemkonflikts etablierten sich u. a. im Nahen Osten und Afrika, teilweise aus antikolonialen Befreiungsbewegungen hervorgegangenen Diktaturen. Mit dem Wegfall des Kalten Krieges, der offenbar mit zu den Garantien ihrer Stabilität gehörte, wurden sie wieder zur Disposition gestellt.

Damit begann der zweite Imperialismus. Er weist – deutlicher als der erste – zwei verschiedene Varianten auf: eine globale und eine regionale. Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen für den Versuch eines globalen Imperialismus, China, Russland, die Türkei, Saudi-Arabien, der Iran und die Europäische Union für den regionalen. Letzterer bezweckt die Einflussnahme auf das Umfeld dieser Mächte. Durch das Bündnis mit den USA hat die Europäische Union Anteil auch an der globalen Version des zweiten Imperialismus. Die Interventionskriege im Nahen Osten und in Afrika werden von diesen imperialistischen Akteuren geführt. Halten wir fest: der zweite Imperialismus ist eine von zwei Fluchtursachen.

Kommen wir zu einer weiteren. Es ist das europa- und weltweite Regime des Marktradikalismus, das seit dem Ende des Kalten Krieges etabliert wurde und industriell schwächere Nationen zu Opfern von globalen und regionalen Zentren (in Europa: Deutschlands) macht. Beschönigende Umschreibungen lauten: Globalisierung und Freihandel. Das klingt neutral. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Variante ökonomischer und politischer Herrschaft, die Reichtum nicht nur innerhalb der einzelnen Länder, sondern auch zwischen ihnen von den ökonomisch Schwachen zu den Starken umverteilt. (Der Leser kann das auch Neoliberalismus nennen, der im hier zu behandelnden Fall also nicht nur innerstaatlich wirkt.) Dieses System internationaler sozioökonomischer Übervorteilung nimmt verschiedene Formen an. In Europa macht die Einheitswährung es Ländern wie Griechenland unmöglich, ihre Wirtschaft zumindest zeitweilig zu schützen. Überregional können die Ökonomien weniger entwickelter Gesellschaften von Waren aus den Zentren überschwemmt und an eigenständiger Entfaltung gehindert werden. Ausbeutung ihrer Rohstoffe macht sie quasi zu Monokulturen und wird zum Entwicklungshemmnis. Zerstörung bisheriger Lebensgrundlagen und/oder die Aussicht, die eigene Existenz in den Staaten, die für die Verheerungen verantwortlich sind, besser fristen zu können, erzeugt Flüchtlingsströme. Wenn Kriege oder unmittelbare individuelle Verfolgung nicht als Migrationsgrund nachgewiesen werden können, spricht man auch gern von »Wirtschaftsasylanten«, die kein Recht auf Aufnahme hätten. Sie dienen als Vorwand für rechtspopulistische Mobilisierungen, die aber auch die Menschen aus Kriegsgebieten und die politisch Verfolgten treffen sollen und treffen. Reden wir also auch einmal selbst von diesen angeblichen Wirtschaftsflüchtlingen, und fragen wir: Was ist denn schon dabei?

Push and pull

Wer sich gern merkwürdig ausdrückt, spricht im Zusammenhang mit Migration auch schon mal vom Push- und vom Pull-Effekt. Ersteres meint Flucht und Vertreibung, letzteres die Anziehung, die Akkumulationszentren auf die Bewohner weniger dynamischer Regionen ausüben. Ein Beispiel war England im 19. Jahrhundert. Irische Arbeiterinnen und Arbeiter kamen dorthin und verhinderten dadurch vielleicht sogar, dass aus der industriellen auch eine soziale Revolution wurde. Zur gleichen Zeit wurden die Vereinigten Staaten von Amerika zum Ziel von Wirtschaftsmigration – und sie sind es bis zur Gegenwart.

Ein weiteres Beispiel ist Deutschland. Im 19. Jahrhundert exportierte es noch Arbeitskräfte: Hungersnöte, britische Textilimporte und die einheimische industrielle Revolution (die zum Beispiel Handweber brotlos gemacht hatte) trieben sie nach Übersee. Diese Bewegung verlangsamte sich erst, nachdem Deutschland selbst ein Wirtschaftszentrum geworden war. Auch politisch Verfolgte gehörten zu dieser Migration, aber ihr Anteil dürfte nicht größer gewesen sein als der von Schuldnern, die sich vor ihren Gläubigern in Sicherheit brachten.

Ab 1949 wurde die Bundesrepublik Deutschland – wie schon seit 1945 die westlichen Besatzungszonen – zum Einwanderungsland, selbst wenn sie sich bis heute weigert, dies auch juristisch zur Kenntnis zu nehmen. Die Mehrzahl der Geflüchteten und Vertriebenen aus den gemäß dem Potsdamer Abkommen abgetrennten Ostgebieten kam dahin. Zwischen 1949 und 1961 folgten 2.686.942 Bürgerinnen und Bürger der DDR, die meisten von ihnen nicht Freiheits-, sondern Wirtschaftsflüchtlinge, die niemand als solche beschimpfte – und das wäre auch nicht nett gewesen. Wer bessere Lebensbedingungen sucht, nimmt ein Menschenrecht wahr, das die US-Verfassung als »pursuit of hapiness« (Streben nach Glück) bezeichnet und das als universelles definiert werden darf.

Der Zustrom aus dem Osten war wunderbar für die Bundesrepublik. Er senkte die Lohnkosten und erhöhte die Gewinne, aus denen damals tatsächlich erhebliche Portionen wieder investiert wurden: Wachstum! An Willkommenskultur hat es nicht gefehlt. Der soziale Wohnungsbau wurde gefördert, der »Lastenausgleich« brachte Umverteilung vor allem zwischen Alteingesessenen und »Neubürgern« (so nannte man sie). Kapitalverkehrskontrollen sorgten dafür, dass vor allem im Lande selbst investiert wurde. Seit Mitte der fünfziger Jahre reichte der Zustrom aus dem Osten allein nicht aus. Da sie nach Eintritt der Vollbeschäftigung in der BRD nicht mehr viel zu tun hatten, eröffneten die deutschen Arbeitsämter Filialen in Südeuropa und warben dort Jobsuchende an. Nachdem 1961 die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR geschlossen war, wurde dies noch dringlicher. Mit der Willkommenskultur war es allerdings weniger weit her als gegenüber den deutschen Landsleuten. Und als sich um 1973 eine Abflachung des Wachstums eher vorankündigte als bereits abzeichnete, wurde ein Anwerbestopp verhängt. Aber ab 1990 gab es wieder kräftigen Zuzug: Aussiedler(innen) aus der gerade sich auflösenden Sowjetunion wurden aufgenommen und fanden Arbeitsplätze angesichts eines durch die Wiedervereinigung stimulierten quasi-keynesianischen kurzfristigen Aufschwungs.

Die ökonomische Erfolgsgeschichte der BRD war also zugleich eine Geschichte der Einwanderungen in diesen Staat. Das lässt sich verallgemeinern: Migration nützt den Aufnahmeländern, wenn diese Akkumulationszentren sind. Dann werden Zuwanderer zu sogenanntem Humankapital, sprich: zur Quelle von Mehrwert. Dies gilt allerdings nur dann, wenn weitere Kapitalsorten bereitgestellt sind: Anlagekapital und Finanzmittel, sei es als Eigenkapital oder Kredite, die, da produktiv investierbar, auch wieder getilgt werden können. Wovon reden wir? Unverändert von der Bundesrepublik Deutschland einschließlich ihrer Vorgeschichte: Sie verfügte trotz der Kriegszerstörungen über ein im Kern intaktes Industriepotential, das dann durch den Marshallplan mobilisiert worden ist. Für diese BRD wurden Flüchtlinge zum Segen, während sie für arme Gesellschaften, denen solche Voraussetzungen fehlen, tatsächlich eine Belastung werden können, zum Beispiel für die Nachbarn Syriens oder auch für Griechenland.

Angela Merkel wusste, in welcher Gesellschaft sie mittlerweile lebt, und erklärte: »Wir schaffen das«. Andere, die ihre eigene Lage ebenso realistisch einschätzen, sagen für sich und »ihr« Land das Gegenteil. Beide haben recht. Damit kommen wir zur europäischen Krise.

Koalition der (Wider-)Willigen

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Kanzlerin meinten zu wissen: Immigration in die BRD bringt Facharbeitskräfte, an denen es sonst bald mangeln würde, und Ungelernte, die Löhne drücken können. Sie zahlen, wenn beschäftigt, in die Sozialkassen ein und beleben (durch ihre, wenn auch kleinen, so doch massenhaften, Einkäufe aufgrund von Transferleistungen an sie, da und dort wohl auch von mitgebrachten Ersparnissen) die Nachfrage. Also könnte es wieder werden wie einst in den fünfziger und sechziger Jahren, in die man sich ja bis in Teile der Linken hinein so gern zurücksehnt.

Es gibt aber ein paar Unterschiede. Erstens: Das wirtschaftliche Wachstum ist geringer als damals, die Umverteilungsmasse also ebenso. Dies ließe sich beheben, wenn Neuankömmlinge durch ihre Arbeit zur Steigerung des Sozialprodukts beitrügen. Dem jedoch steht zweitens die Veränderung des institutionellen Umfelds entgegen. Es gibt keine Kapitalverkehrskontrollen und keine Vermögenssteuer mehr. Horizontale Umverteilung – also sozusagen von der Mittelschicht zu den Ärmeren, seien es Einheimische oder Flüchtlinge – ist, anders als damals, kaum denkbar. Der nationale Notstand, der einst ausgerufen wurde, sollte zugunsten der »Volksgenossen« behoben werden. Aber für Wildfremde? Außerdem findet die Mittelschicht längst, angesichts des Zinsraubs an ihren Ersparnissen tue sie schon genug für Ausländer, deren Schulden weginflationiert würden, und außerdem sei man da und dort ja auch persönlich in der Flüchtlingshilfe tätig. An eine vertikale »Umfairteilung« des erwirtschafteten Reichtums von oben nach unten ist schließlich gar nicht zu denken. Deren Verhinderung ist Regierungsprogramm von Merkel bis Vizekanzler Gabriel. Also versucht die Kanzlerin ihre Willkommenskultur auf die gesamte EU auszudehnen: Burden sharing, Lastenverteilung.

Darauf haben die Nachbarn nun gerade gewartet. Seit Jahrzehnten stöhnen sie unter der Bedrängung ihrer Industrien durch die deutschen Exporte. Jetzt sei es an der Zeit, der BRD endlich einmal zu zeigen, dass man sich von ihr nicht alles gefallen lasse. Dafür hätte es längst Grund genug gegeben. Nationalismus bringt aber erst dann demagogischen Mehrwert, wenn er sich gegen Schwächere richtet, in diesem Fall gegen Flüchtlinge. Die Heuchelei, mit der die BRD sich als Moral- und Immigrationseuropameisterin aufspielt, weckt berechtigten Ärger. Tatsächlich hat Polen viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, nach Frankreich, Italien, Portugal und Spanien kommen Immigranten aus Afrika (und auch aus Osteuropa).

Eine Wiedereinführung von innereuropäischen Grenzkontrollen kann der Kanzlerin und dem BDI nicht gefallen. Diese behindern den Warenverkehr und das größte Heiligtum der Europäischen Union: den Freihandel. Ungehinderter Verkehr von Kapital, Gütern und Dienstleistungen ja – aber auch von Menschen? Hier gilt zweierlei Recht: innerhalb des Schengen-Raums Freizügigkeit, aber keine ungeregelte Zuwanderung von außen. Die Stacheldrahtzäune sollen nicht zwischen den europäischen Staaten errichtet werden, sondern außerhalb. Finanzminister Schäuble vergleicht die drei Milliarden Euro, die Erdogan bekommen soll, wenn er die Grenze dicht macht, mit dem Marshallplan. Mit Investitionen dürfte das aber weniger zu tun haben als mit einer Art Zuschuss zu den Internierungskosten der Festgehaltenen. Der Wert der Türkei für die EU steigt in dem Maße, in dem dieses Land der EU den ungewollten Zuzug vom Halse hält und ihr ermöglicht, auf neue Binnengrenzen zu verzichten.

Regime-Change?

Kommen wir zu den Fluchtursachen zurück: zum zweiten Imperialismus und zur marktradikalen Weltwirtschaftsordnung. Da diese nicht aufgegeben werden, lassen jene sich nicht wirksam bekämpfen. Bliebe dann die Bewältigung ihrer Folgen. Sie setzte voraus, die öffentliche Hand so auszustatten, dass genügend Wohnungen und Infrastruktur zur Verfügung stehen, und zwar sowohl für die Migranten als auch für die bereits abgehängten Teile der Einheimischen. Wenn schon der internationale Regime-Change vermieden wird, wäre der innenpolitische umso dringlicher, vor allem eine andere Steuerpolitik. Das ist aber – außerhalb einer ergebnislos demonstrierenden Linken und trotz der ständigen Mahnungen der Gewerkschaft ver.di – ein Tabuthema.

Also kein Regime-Change, nirgends? Doch: Wenn innerhalb der einzelnen Nationalstaaten Teile der Mittel- und Unterschichten bei unverändert klein gehaltener Verteilungsmasse gegeneinander und gegen Flüchtlinge aufgebracht und ausgespielt werden, verschiebt sich die politische Tektonik nach rechts. Das ist ungemütlich, aber marktkonform. Stacheldraht außen, AfD, Jobbik, Front National, UKiP, FPÖ, Kaczyński und Konsorten drinnen: Man darf darüber diskutieren, ob das ein Systemwandel ist oder die Veränderung eines Systems zur Kenntlichkeit.

Quelle: Junge Welt vom 23. Februar 2016

 

 

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