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Interview mit einem Teilnehmer an der Nuit debout-Bewegung

Eingereicht on 11. Mai 2016 – 15:28

Interview mit Jean-Marie Kneib, dr.math., Arbeitspsychologe und Teilnehmer an der Nuit debout-Bewegung seit dem 31. März dieses Jahres, geführt von Bernard Schmid, Paris. Eine gekürzte Fassung davon erschien in der Tageszeitung ,Neues Deutschland’ vom 11.5.2016

Frage ND: Sie haben seit dem Beginn der Platzbesetzerbewegung quasi täglich an ihren Versammlungen teilgenommen. Manche Stimmen vergleichen diesen Protest mit der Bewegung des französischen Mai 1968. Halten Sie einen solchen Vergleich für berechtigt?

JMK: Ich glaube, die Dinge sind nicht miteinander vergleichbar. 1968 handelte es sich um eine Bewegung hin zu mehr Individualität, für mehr sexuelle Freiheit, angesichts eines antiquierten Familienmodells und anderer überkommener Normen. Das Kapital hat dies in den darauffolgenden Jahren wohl verstanden, hat den Impuls aufgegriffen, umgebogen und benutzt, um die Arbeitsbeziehungen zu individualisieren: ungleiche Löhne je nach persönlichem Sich-Einbringen, unterschiedliche Arbeitszeiten in den Unternehmen…

ND: …Wie die beiden französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello es in ihrem Buch Le Nouvel esprit du capitalisme (1999) ausführlich zu analysieren versuchten.

JMK: Und 1968 ging es Vielen auch darum, dass sie nicht mehr diszipliniert und geschlossen hinter ein und derselben Gewerkschaftsfahne hinterherlaufen wollten, sondern wollten ihre eigenen Slogans erfinden. Heute handelt es sich dagegen eher um eine umgekehrte Bewegung. Das Kapital hat es geschafft, die Arbeitsverhältnisse zu individualisieren, gleichzeitig zu prekarisieren. Und hier wollen nun viele Menschen wieder Kollektivität in die Arbeitsverhältnisse bringen, diese kollektiv diskutierbar machen. Zum Beispiel bei den kleineren lokalen Nuit debout-Veranstaltungen, denen ich beiwohnte, im Pariser Stadtteil Denfert-Rochereau oder im Vorort Malakoff, wurde dies sehr deutlich. Dort kamen etwa kleine (Schein-)Selbstständige zu Wort, die ihre Arbeit, ihre Probleme schilderten. Eine ähnliche Rolle spielten die Taxifahrer, die zum Platz der Republik kamen. Das ist eine Niederlage für die wirtschaftsliberale Vision von Gesellschaft. Diese hätte gerne, dass wir alle vor dem Fernsehbildschirm oder vor Facebook hocken, jeder für sich.

Einer der zentralen Slogans fordert derzeit ja auch die congervence des luttes, das „Zusammenkommen der Kämpfe“. Vor dem Hintergrund des Ausgeführten glaube ich, dass diese derzeitige Bewegung vielleicht stärker ist als die von Mai 1968, in dem Sinne, dass sie kollektive Belange dort wieder begründet, wo sie verschwunden schienen.

Frage ND: Hat die Arbeit denn noch einen zentralen Stellenwert in dieser Platzbesetzerbewegung? Manche behaupten, nein…

JMK: Es ist kein Zufall, dass die Sache sich an dem Entwurf für ein „Arbeitsgesetz“ entzündete, und nicht etwa an dem derzeit ebenfalls diskutierten Gesetzentwurf zur Inneren Sicherheit – Loi Urvoas – oder an den Protesten gegen den Ausnahmezustand. Diese Bewegung wirft die Frage nach dem zentralen Stellenwert von Arbeit, von Erwerbsarbeit in dieser Gesellschaft auf, hinter den Fragen nach Prekarität, nach Elend oder nach der Arbeit „illegaler“ Einwanderer. Wenn man bei den Debatten auf dem besetzten Platz der Republik hinhört, dann schält sich die Frage nach der Nützlichkeit von Arbeit heraus: Was bringt es überhaupt, zu arbeiten, wenn Andere sich daran bereichern – und wenn man den Planeten darüber kaputt macht? Oder, wenn man sich die Bewegungskomponente Hôpital debout ansieht, die das Krankenhauswesen betrifft: Welchen Nutzen hat Arbeit in diesem Gesundheitswesen, wenn die Arbeitsorganisation doch keine Zeit lässt, sich um die Patienten, um die Alten zu kümmern? Allgemeiner bringt das geplante „Arbeitsgesetz“ diese Nicht-Anerkennung der Arbeitenden insofern auf den Punkt, als es dafür sorgt, dass sie viel leichter gekündigt werden können.

Die Frage nach nützlicher Arbeit taucht in der Platzbesetzerbewegung auch in der Form der freiwilligen, ehrenamtlichen Arbeit auf. Sehen sie sich die rund 100 Freiwilligen an, die den harten Kern ausmachen und ehrenamtlich den Empfang, die Logistik, die Essensausgabe, den Ordnerdienst… betreiben. Sie arbeiten über fünfzig Stunden die Woche! Weil es für sie eine nützliche Tätigkeit ist, die man für man ein gemeinsames Ziel verrichtet. Und es ist eben keine Erwerbsarbeit. In meinen Augen würden sich die Gewerkschaften täuschen, wenn sie nun als Alternative zum Bestehenden die 32-Stunden-Woche in den Mittelpunkt rücken möchten, wie die CGT den Anschein gibt. Eine auf 32 Stunden wöchentlich reduzierte Arbeit, aber die keinen Sinn hat und den Planeten zerstört – das interessiert die Leute von Nuit debout nicht.

Frage ND: Stimmen Sie der These zu, dass es in den derzeitigen Sozialprotesten einen Generationenkonflikt gibt – zwischen eher gewerkschaftlich organisierten und am Arbeitsleben orientierten Älteren, und den Jüngeren auf der anderen Seite?

JMK: Nein, für mich das ist keine Generationenfrage. Auf dem Platz der Republik findet man auch viele 40- und 50jährige. Ich sehe viel eher Widersprüche in der Bewegung, die dann überwunden werden können, wenn sie eine positive Dynamik entwickelt.

Der erste Widerspruch: Die Platzbesetzerbewegung spricht von der convergence des luttes. Aber sie „konvergiert“ leichter mit afrikanischen Oppositionellen, die auch auf dem Platz mitmachen, als mit den Gewerkschaften. Es gibt die Furcht vor der Gefahr einer récupération (Vereinnahmung, Einbindung), die zum Teil eingebildet und zum Teil auch real ist. Aber es kommt der Moment, wo man dieses Verhältnis klarstellen muss. Récupération findet dann statt, wenn es einen untransparenten, unausgesprochenen Prozess der Einflussnahme gibt. Aber von Angesicht zu Angesicht und offen mit einer Gewerkschafts- oder politischen Organisation zu diskutieren, ist das Gegenteil davon.

Wichtig ist in meinen Augen auch das Erlernen demokratischer Prozesse. Dies findet statt, wenn jemand einen Standpunkt – rational argumentierend – vor einer Versammlung von 1.000 Menschen begründet, und auch bereit ist, inhaltlichen Widerspruch hinzunehmen. Ein solcher Prozess bringt normalerweise Regeln hervor, seine eigenen Regeln, und dies braucht Zeit. Aber im Namen demokratischer Offenheit lässt man auch eine Vielzahl von Menschen zu Wort kommen, die Selbstdarstellung betreiben, die betrunken ans Mikrophon gehen… So lange die Bewegung eine aufstrebende Dynamik hat, ist sie davon nicht gefährdet. Diese Bewegung spricht viele Probleme offensiv an, die seit zwanzig Jahren in der französischen Gesellschaft (Medien, Parteien, Gewerkschaften) diskutiert worden sind, sie hat keine Angst. Aber wenn die Dynamik zurückgeht, dann besteht die Gefahr, dass die kontraproduktiven Elemente zunehmen.

Frage ND: Was für Perspektiven sehen Sie für diese Bewegung?

JMK: Wahrscheinlich wird diese Bewegung in etwas Interessantes einmünden. Jedenfalls wenn man eine positive Lösung für die genannten Probleme in den Vollversammlungen findet und eine Verbindung (convergence) mit den Gewerkschaften hinbekommt. Und zwar selbst dann, wenn die Protestbewegung es nicht schaffen sollte, das geplante „Arbeitsgesetz“ zu verhindern. Von Anfang an hieß es, es gehe contre la Loi travail et son monde: „gegen das Arbeitsgesetz und gegen die Welt, die es hervorbrachte“.

Diese Platzbesetzerbewegung wird nicht zum Großteil von Gewerkschaften getragen, sondern eher von Jungen, Prekären, Erwerbslosen und nicht gewerkschaftlich oder politisch gebundenen Personen. Sie ist auch nicht überwiegend als Abwehrkampf auf die Verteidigung einer bestehenden Errungenschaft, eines sozialen „Besitzstands“ ausgerichtet wie etwa die Bewegung gegen die „Rentenreform“ von 2010. Letztere war hauptsächlich gewerkschaftlich organisiert und auf die Verteidigung einer konkreten sozialen Errungenschaft ausgerichtet; nachdem sie eine Niederlage erlebte, lief sie auseinander. Derzeit ist die Protestbewegung jedoch anders strukturiert. Der Fortgang der Bewegung hängt nicht hauptsächlich vom Schicksal des Gesetzentwurfs, sondern von der Lösung ihrer inneren Widersprüche ab.

Quelle:  www.labournet.de… vom 11. Mai 2016

 

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