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Kulturalistische Antiaufklärer: Postkoloniale Theorie

Eingereicht on 6. Juni 2016 – 9:02

In diesen Tagen erscheint im Kölner Papy Rossa Verlag der von Felix Wemheuer herausgegebene Sammelband »Marx und der globale Süden«. Wir drucken daraus vorab und stark gekürzt den Aufsatz von Vivek Chibber,

der dort unter dem Titel »Kapitalismus, Klasse und Universalismus – Auswege aus der Sackgasse postkolonialer Theorie« veröffentlicht wird. Übersetzung aus dem Englischen von Ralf Ruckus. Die Anhänger der postkolonialen Theorie distanzieren sich von den Begriffen Kapitalismus, Klasse und Universalismus. Statt dessen ­sehen sie nur kulturelle Unterschiede und haben unter Linken ­reichlich Verwirrung gestiftet. Eine Kritik.

Vivek Chibber. Nach einer langen, scheinbar endlosen Pause ist der globale Widerstand gegen den Kapitalismus zurückgekehrt. Es ist mehr als vier Jahrzehnte her, seit antikapitalistische Bewegungen mit solcher Wucht auftraten. Sicher gab es ab und zu Erschütterungen, kurze Episoden, die das neoliberale Projekt zeitweise aus der Bahn warfen, aber nicht so wie wir es in den letzten beiden Jahren in Europa, dem Nahen Osten und in den Amerikas erlebt haben. Wie weit sich die Bewegungen entwickeln und wie tief ihre Auswirkungen sein werden, ist noch nicht vorhersehbar, aber die linken Diskurse haben sie bereits verändert. Plötzlich steht das Thema Kapital und Klasse wieder auf der Tagesordnung, nicht als abstrakte oder theoretische Diskussion, sondern als drängende politische Frage.

Die Wiederkehr der Bewegungen zeigt jedoch, dass der Rückzug der letzten drei Jahrzehnte einen Tribut gefordert hat. Die für arbeitende Menschen verfügbaren politischen Ressourcen sind in den letzten Jahrzehnten nie geringer gewesen. Die Organisationen der Linken – Gewerkschaften und politische Parteien – sind ausgehöhlt oder schlimmer noch, sie wurden zu Komplizen des Austeritätsmanagements. Die Schwäche der Linken zeigt sich jedoch nicht nur politisch oder organisatorisch – sie reicht bis in die Theorie. Die Niederlagen der letzten Jahrzehnte waren von dramatischen Verwerfungen an der intellektuellen Front begleitet. Es gab zwar keine Abkehr von radikaler Theorie oder dem Einsatz für eine radikale Agenda, und an vielen Universitäten gibt es wohl immer noch beeindruckend viele selbsternannte progressive oder radikale Intellektuelle, wenigstens in Nordamerika. Die Bedeutung von Radikalismus hat sich jedoch verändert. Dank des Einflusses poststrukturalistischen Denkens gelten sozialistische Konzepte entweder als suspekt oder werden schlichtweg abgelehnt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Vorstellung, dass der Kapitalismus eine reale Struktur besitzt, die Akteuren reale Zwänge auferlegt, dass Klasse in realen Ausbeutungsbeziehungen wurzelt oder dass die Arbeiter ein reales Interesse an kollektiver Organisation haben – Vorstellungen, die fast zwei Jahrhunderte lang in der Linken allgemein anerkannt wurden –, gelten als hoffnungslos veraltet.

Diese Kritik an Materialismus und politischer Ökonomie kam aus allen Teilen des poststrukturalistischen Milieus, fand jedoch einen besonders scharfen Ausdruck in der neuesten Schöpfung dieser Strömung, die als postkoloniale Theorie bekannt wurde. Der Angriff auf Materialismus und politische Ökonomie wurde in den letzten Jahrzehnten nicht von der frankophonen philosophischen Tradition angeführt, sondern interessanterweise von einer Schar von Theoretikern aus Südasien und anderen Teilen des globalen Südens. Die vielleicht bedeutendsten und einflussreichsten darunter sind Gayatri Chakravarty Spivak, Homi Bhabha, Ranajit Guha und die Gruppe Subaltern Studies, aber auch der kolumbianische Anthropologe Arturo Escobar, der peruanische Soziologe Anibal Quijano und der argentinische Literaturtheoretiker Walter Mignolo und andere mehr gehören dazu. Häufigstes Ziel ihrer Kritik ist natürlich die marxistische Theorie, aber ihr Zorn richtet sich auch gegen die Aufklärung als solche.

Der dort anzutreffende Universalismus – also der Anspruch auf Gültigkeit bestimmter Katego­rien unabhängig von Kultur und Region – erregt die Vertreter der postkolonialen Theorie am meisten. Laut ihrer Analyse zeigt der Marxismus das tödliche intellektuelle Erbe der Aufklärung in dieser Hinsicht am deutlichsten. Für Marxisten haben bestimmte Kategorien wie Klasse, Kapitalismus, Ausbeutung und dergleichen über die Kulturen hinweg Gültigkeit. Diese Kategorien beschreiben ihrer Meinung nach ökonomische Praktiken nicht nur im christlichen Europa, sondern auch im hinduistischen Indien und im moslemischen Ägypten.

Anhänger der postkolonialen Theorie halten diesen universalisierenden Eifer für äußerst problematisch – als Theorie und, ebenso wichtig, als Leitfaden für politisches Handeln. Die Besorgnis über den Gebrauch universaler Kategorien sitzt so tief, dass sie oft nicht als Kritik unzulässiger oder falscher Verallgemeinerungen geäußert wird, sondern als deren komplette Ablehnung. Die Postkoloniale Theorie präsentiert sich selbst nicht bloß als Kritik der radikalen Aufklärung, sondern als deren Alternative.

Angriff auf den Universalismus

In einem der am häufigsten zitierten Texte der postkolonialen Studien erklären die Herausgeber die Gründe für den Angriff gegen universalisierende Kategorien. Die europäische Beherrschung der kolonisierten Welt beruhe teilweise auf dieser Art von Konzepten. »Die Annahme des Universalismus«, so wird uns erzählt, »ist grundlegendes Merkmal der Konstruktion kolonialer Macht, weil die ›universalen‹ Merkmale der Menschheit die Eigenschaften derer sind, die Positionen politischer Herrschaft innehaben.« Der Universalismus leiste kolonialer Beherrschung Vorschub, indem er einige äußerst spezifische Momente europäischer Kultur auf die Stufe genereller Eigenschaften der Menschheit hebe, die auf globaler Ebene gelten sollen.

Kulturen, die diese äußerst spezifischen Eigenschaften nicht besäßen, würden als rückständig eingestuft. Ihnen müsse angeblich Zivilisation beigebracht werden, da sie nicht in der Lage wären, sich selbst zu regieren. Laut den Herausgebern des hier zitierten Buches »ist der Mythos der Universalität somit eine grundlegende Strategie imperialer Kontrolle […], basierend auf der Annahme, dass ›europäisch‹ gleichzusetzen ist mit ›universal‹.«[i]

Wir erkennen in dieser Argumentation zwei der unter Vertretern der postkolonialen Theorie am meisten verbreiteten Ansichten. Die erste ist eine formale, metatheoretische Vorstellung, nach der Behauptungen einer Universalität an sich verdächtig seien, weil sie soziale Heterogenität leugneten. Deswegen wendet sich die Kritik des Universalismus in derartigen Texten oft gegen dessen homogenisierende, gleichmachende Wirkung. Es wird befürchtet, dass er Unterschiedlichkeit ignoriert und damit jede Praxis oder soziale Konvention missachtet, die nicht mit dem übereinstimmt, was auf die Stufe der Universalität gehoben wird. Und diese Missachtung sei ein Akt der Unterdrückung, der Ausübung von Macht. Die zweite Ansicht ist von weitreichender Bedeutung, nämlich, dass die Universalisierung in besonderer Weise an der europäischen Herrschaft beteiligt gewesen sei. Dies sei eine Folge der extremen Dominanz westlicher Theorien in der intellektuellen Welt. In dem Maße, in dem sie zum begrifflichen Rahmen für Untersuchungen oder zur Anleitung politischer Praxis werden, statteten sie diese mit einem hartnäckigen Eurozentrismus aus. Die auf die Aufklärung zurückgehenden begrifflichen Gerüste und Theorien trügen das Mal ihrer geographischen Herkunft.

Antiuniversalismus ist unter Vertretern der postkolonialen Theorie aufgrund der dem Universalismus zugeschriebenen Mitwirkung an kolonia­ler Herrschaft zur Losung geworden. Wegen des enormen Einflusses der postkolonialen Theorie auf die akademische Kultur gehört der Antiuniversalismus zudem unter vielen Linken zum allgemeinen Grundverständnis ebenso wie die Ablehnung der »großen Erzählungen«, die mit Marxismus und progressivem Liberalismus zusammenhängen. Heutzutage spiele sich das Geschehen im »Fragment« ab, an den Rändern, in Bräuchen und kulturellen Konventionen, die einer besonderen Umgebung eigen sind und nicht einer verallgemeinernden Analyse untergeordnet werden können.

Generelle Zwänge des Kapitals

Gerade Begriffe wie Kapitalismus oder Klasseninteresse werden als Musterbeispiele für all das ausgemacht, was an der marxistischen Theorie verdächtig sein soll. Gyan Prakash von der Gruppe Subaltern Studies bringt diese Meinung in einer seiner Breitseiten gegen das aufklärerische (marxistische) Denken genau auf den Punkt. Werden soziale Formationen durch das Prisma des Kapitalismus betrachtet, führe das zwangsläufig zu eine Art Reduktionismus, behauptet er. Alle sozialen Phänomene erschienen als bloße Reflexe ökonomischer Verhältnisse. »[D]en Kapitalismus zum grundlegenden Thema [historischer Analyse] zu machen«, laufe deswegen darauf hinaus, »die Geschichtsabläufe zu homogenisieren, die in sich heterogen bleiben«, schreibt er.[ii] Diese Tendenz mache Marxisten blind für die Besonderheit lokaler sozialer Verhältnisse. Entweder entgingen ihnen Bräuche und Konventionen, die von kapitalistischen Dynamiken unabhängig sind, oder sie nähmen einfach an, dass irgendeine vorhandene Eigenständigkeit sich schnell verflüchtigen würde. Mehr noch, die bloße Vorstellung, dass soziale Formationen unter dem Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Dynamik – ihrer Produktionsweise – analysiert werden könnten, sei nicht nur falsch, sondern auch eurozentristisch und diene der imperialen Herrschaft. »Wie viele andere europäische Ideen des 19. Jahrhunderts«, notiert Prakash, »sollte die Inszenierung der eurozentristischen Erzählung von Produktionsweisen als ›Geschichte‹ als das Gegenstück zum territorialen Imperialismus im 19. Jahrhundert erkannt werden.«

In seinem einflussreichen Buch »Provincializing Europe« hat der indische Historiker Dipesh Chakrabarty dieser Argumentation Struktur gegeben.[iii] Die Vorstellung eines universalisierenden Kapitalismus, so schreibt er, mache sich zweier Sünden schuldig. Erstens werde die Geschichte nichtwestlicher Gesellschaften verleugnet, indem sie in ein von der europäischen Erfahrung abgeleitetes Schema hineingepresst werde. Statt die Autonomie und Besonderheit regionaler Erfahrungen zu respektieren, würden Marxisten regionale Geschichte in eine Unzahl von Variationen eines Themas verwandeln. Jedes Land werde nach dem Ausmaß der Übereinstimmung mit oder der Abweichung von einem idealtypischen Begriff des Kapitalismus eingestuft. Somit könnten die Geschichtsabläufe von Regionen nie mehr sein als Fußnoten der europäischen Erfahrung. Das Telos aller nationalen Geschichtsabläufe bleibe dasselbe, mit Europa als Endpunkt. Der zweite mit der Vorstellung von Kapitalismus verbundene Fehler bestehe in der Eliminierung jeglicher Kontingenz aus der historischen Entwicklung. Ihr Glaube an die universalisierende Dynamik des Kapitalismus mache Marxisten blind für »Diskontinuitäten, Brüche und Verschiebungen im geschichtlichen Prozess«, so Chakrabarty. Befreit von Störungen durch menschliche Handlungsmacht werde Zukunft vorhersehbar, auf ein bestimmbares Ende zulaufend.

In »Provincializing Europe« bestätigt Chakrabarty, dass der Kapitalismus ungefähr im Verlauf des letzten Jahrhunderts tatsächlich global wurde. Während er die Tatsache der Globalisierung anerkennt, bestreitet er jedoch, dass dies gleichbedeutend ist mit dessen Universalisierung. Das erlaubt ihm und den seiner Denkweise folgenden Theoretikern, die offensichtliche Tatsache anzuerkennen, dass die Marktabhängigkeit in die entferntesten Ecken der Welt vorgedrungen ist, während sie weiterhin bestreiten, dass die Kategorie Kapitalismus für deren Analyse eingesetzt werden kann.

Die Anhänger der postkolonialen Theorie machen einen kleinen, aber entscheidenden Fehler. Sie stimmen Marx zwar zu, wenn dieser den Kapitalismus anhand des ihm innewohnenden Antriebs zur Ausdehnung bestimmt. Der indische Historiker Ranajit Guha fasst Marx’ Argumentation wie folgt zusammen: »Diese [universalisierende] Tendenz geht auf die Selbstausbreitung des Kapitals zurück. Seine Funktion besteht in der Schaffung eines Weltmarktes, der Unterwerfung aller vorhergehenden Produktionsweisen und der Ersetzung aller rechtlichen und institutionellen Begleitformen solcher Produktionsweisen und allgemein des gesamten Gebäudes vorkapitalistischer Kulturen durch Gesetze, Institutionen, Werte und andere Elemente einer Kultur, die der bürgerlichen Herrschaft dienlich sind.«

Marx behauptet aber gar nicht, dass das Kapital alle Institutionen grundlegend transformieren muss, sondern dass die eingesetzten Institutionen diejenigen sein werden, die »der bürgerlichen Herrschaft dienlich sind«. Es stimmt, dass dies die Auflösung großer Teile der vorkapitalistischen rechtlichen und normativen Konventionen verlangt. Ob dies jedoch geschieht oder nicht und wie weit die Auflösung gehen muss, hängt davon ab, was der Kapitalismus braucht, um sich zu reproduzieren – um seine Selbstausbreitung fortzusetzen. Es ist durchaus möglich, dass die Akkumulation weitergeht, während das Ancien régime weitgehend intakt bleibt.

Kapitalisten streben nach Profiten, weil sie im Falle eines Scheiterns ihrer Firma von Marktrivalen überholt werden. Wohin der Kapitalismus auch geht, dieser Imperativ wird ihm folgen. Alles, was er braucht, um sich zu reproduzieren, ist, dass ökonomische Akteure diesem Imperativ Folge leisten – dem Imperativ der Unternehmen, nach größeren Märkten und höheren Profiten zu streben, indem sie ihre Rivalen aus dem Feld schlagen. Wenn nun die Kapitalisten gedrängt werden, nichts Anderes zu tun als zu akkumulieren, werden sie kulturelle und rechtliche Institutionen daran messen, ob diese der Erreichung dieses Ziels förderlich sind. Wenn die vorhandenen Institutionen die Kapitalakkumulation bremsen, das Privateigentum nicht respektieren oder die Arbeitskräfte vom Zwang, Arbeit zu suchen, abschotten, wird das Kapital gegen sie zu Felde ziehen. Kapitalisten streben nach einer Ausweitung ihrer Unternehmungen und der bestmöglichen Rendite, und solange ihre Unternehmungen problemlos verlaufen, interessieren sie die vorgefundenen Konventionen und Gebräuche einfach nicht.

Allgemeine Widerstandsgründe

Der Kapitalismus breitet sich in alle Ecken der Welt aus, angetrieben von seinem unstillbaren Hunger nach Profit, und indem er das tut, indem er einen immer größeren Teil der Weltbevölkerung unter seine Herrschaft bringt, schreibt er eine wahrhaft universale Geschichte, die Geschichte des Kapitals. Anhänger der postkolonialen Theorie müssen sich das eingestehen, auch wenn sie das als sachlich falsch erachten. Noch mehr stört sie die zweite Komponente der materialistischen Analyse, die die Ursprünge des Widerstands betrifft. Es ist unbestritten, dass der Kapitalismus im Zuge seiner Ausbreitung auf Gegenwehr trifft – von Arbeitern, Bauern, die um ihr Land kämpfen, indigenen Bevölkerungsgruppen usw. Der positive Bezug auf diese Kämpfe kann als Art Visitenkarte von Verfechtern postkolonialer Theorie gelten. In diesem Punkt scheinen sie sich mit Vertretern eines marxistischen Verständnisses kapitalistischer Politik einig zu sein, aber die Ähnlichkeit der Herangehensweise ist nur oberflächlich. Während Marxisten Widerstand von unten als Ausdruck realer Interessen von Arbeitern verstehen, vermeidet die postkoloniale Theorie typischerweise jede Erwähnung objektiver, universaler Interessen. Aus dieser Sicht sind die Ursprünge des Kampfes lokal, der Kultur der Arbeiter eigen, sie ergeben sich aus den Besonderheiten des Ortes und der jeweiligen Geschichte – und sie sind nicht Ausdruck von Interessen, die auf bestimmte universale Grundbedürfnisse zurückgehen.

Analysen, die den Widerstand als Ausdruck gemeinsamer, universaler Triebkräfte sehen, werden angefeindet, weil sie den Akteuren ein Bewusstsein unterstellten, das für den entwickelten Westen bezeichnend sei. Kämpfe auf materielle Interessen zurückzuführen bedeute, Arbeitern »mit einer bourgeoisen Rationalität auszustatten, weil nur in einem solchen System der Rationalität der ›ökonomische Nutzen‹ einer Handlung (oder eines Objektes, einer Beziehung, einer Institution etc.) ihre Sinnhaftigkeit bestimmt«.[iv] All dies geht auf die poststrukturalistische Philosophie zurück und soll verhindern, dass essentialisierte, von der Aufklärung weitergegebene Kategorien verwendet werden. Arturo Escobar erklärt, dass »uns die poststrukturalistische Theorie des Subjektes […] zwingt, die liberale Vorstellung des Subjektes als selbstbeschränktes, autonomes, rationales Individuum aufzugeben. Das Subjekt wird in einer Vielzahl von Bereichen mittels historischer Diskurse und Praktiken – und in ihnen – geschaffen.«[v]

Während Marxisten und Vertreter materialistische Theorien also an einem Konzept menschlicher Bedürfnisse, auf deren Grundlage sich Widerstand formiert, festhalten, lehnen heutige Anhänger des Poststrukturalismus – mit der postkolonialen Theorie als prominentester Vertreterin – diese Vorstellung ab und bevorzugen eine, nach der sich Individuen vollkommen durch Diskurse, Kultur, Bräuche etc. konstituieren. Insoweit es Widerstand gegen Kapitalismus gebe, müsse dieser als Ausdruck lokaler und spezifischer Bedürfniskonzepte verstanden werden. In Chakrabartys Worten wird der Kampf gegen das Kapital durch »unendliche Inkommensurabilitäten« lokaler Kulturen angetrieben, steht also außerhalb der universalisierenden Erzählungen der Aufklärung.

Die Frage ist nun, ob es unzulässig ist, Akteuren verschiedener Kulturen und Zeitperioden universale Bedürfnisse und Interessen zuzuschreiben. Zweifellos sind von Menschen geschätzte und angestrebte Dinge größtenteils kulturell bestimmt. In diesem Punkt sind sich Fürsprecher der postkolonialen Theorie und Progressive einig. Hat Escobar jedoch recht, wenn er behauptet, dass Akteure von Diskursen und Bräuchen nicht nur beeinflusst, sondern ganz und gar in ihnen geschaffen werden? Natürlich können wir sehen, dass viele – wenn nicht sogar die meisten – Werte und Meinungen kulturell geprägt sind; es ist jedoch auch ein Kern von Werten und Meinungen zu erkennen, der Menschen verschiedener Kulturen gemein ist. Um ein wichtiges Beispiel zu geben: Es existiert keine Kultur auf der Welt, noch hat es je eine solche gegeben, in der die Akteure nicht auf ihr physisches Wohlergehen achten. Die Sorge um die Befriedigung bestimmter Grundbedürfnisse – Lebensmittel, Unterkunft, Sicherheit etc. – war und ist Teil des normativen Repertoires von Menschen, unabhängig von Ort und Zeit. Nie hat es eine dauerhafte Kultur gegeben, welche die Absicherung der Grundbedürfnisse ignoriert oder aufgegeben hätte, weil die Befriedigung dieser Bedürfnisse Voraussetzung für die Reproduktion einer Kultur ist.

Erst die Sorge der Menschen um ihr Wohlergehen verankert den Kapitalismus in jeder Kultur, in die er sich eingeschleust hat. Marx beobachtete, dass – sobald sich kapitalistische Verhältnisse etabliert haben und die Akteure deren Anforderungen unterworfen sind – schon der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« die Arbeiter veranlasse, sich ausbeuten zu lassen. Das gilt ungeachtet der Kultur und Ideologie – wenn sich Menschen in der Position eines Arbeiters oder einer Arbeiterin befinden, werden sie sich der Arbeit zur Verfügung stellen.

Die gleiche Sorge um das Wohlergehen, das Arbeiter in die Arme von Kapitalisten treibt, bringt sie auch dazu, gegen die Bedingungen ihrer Ausbeutung zu kämpfen. Das erbarmungslose Streben der Unternehmer nach Profit findet seinen unmittelbarsten Ausdruck im ständigen Versuch, die Produktionskosten zu minimieren. Die offensichtlichsten sind natürlich die Löhne. Höhere Profitmargen setzen deren Senkung voraus, was zwangsläufig zu einer Verschlechterung des Lebensstandards der Arbeiter führt, also zu einem mit unterschiedlicher Intensität durchgeführten Angriff auf ihr Wohlergehen.

Wenn wir nun das Streben der Unternehmer nach Kontrolle über andere produktionsbezogene Kosten hinzunehmen – die verlängerte Nutzung überalterter Maschinerie und die damit verbundenen erhöhten Verletzungsgefahren, die Erhöhung von Arbeitstempo und -intensität, Verlängerung des Arbeitstages, Angriffe auf die Altersversorgung usw. –, können wir sehen, dass die Akkumulation systematisch mit dem Interesse der Arbeiter an einer Erhaltung ihres Wohlergehens kollidiert. Arbeiterbewegungen sind oft darauf ausgerichtet, diese grundlegenden Bedingungen der Reproduktion abzusichern, und nicht etwa auf die Durchsetzung eines höheren Lebensstandards.

Die Sorge um ihr Wohlergehen ist es also, die die Proletarier zunächst dazu bringt, sich ausbeuten zu lassen, um dann aber später den Kampf um die Bedingungen ihrer Ausbeutung aufzunehmen. Dieser besondere Aspekt ihrer menschlichen Natur hält sie in einer antagonistischen, wechselseitigen Abhängigkeit vom Kapital gefangen. Es ist in ihrem Interesse, Beschäftigung zu suchen, damit sie sich reproduzieren können; Bedingung für die Sicherung einer Beschäftigung ist jedoch, dass sie sich der Autorität des Unternehmers unterwerfen, der ihr Wohlergehen gefährden wird, auch wenn er gleichzeitig ihre Arbeitsaktivität nutzt. Die erste Dimension dieses Prozesses – ihre Unterwerfung unter den Arbeitsvertrag – zeigt, warum der Kapitalismus in allen Ecken des Globus Fuß fassen und sich festigen konnte. Die zweite Dimension – der Kampf um die Bedingungen ihrer Ausbeutung – zeigt, warum die Klassenreproduktion in jeder Region, in der sich der Kapitalismus etabliert hat, Klassenkampf hervorgebracht hat. Die Kehrseite der Universalisierung des Kapitals ist der universale Kampf der Arbeiter um die Sicherung ihres Wohlergehens.

Wegbereiter des Exotismus

Seit mehr als fünf Jahren versetzt eine gewaltige Wirtschaftskrise die globalen Märkte in Aufruhr und erschüttert Nationalökonomien von den USA bis Ostasien, von Nordeuropa bis zum südlichen Afrika. Sollte je ein Zweifel daran bestanden haben, dass das Kapital universal geworden ist, so können wir ihn jetzt gewiss begraben. In gleicher Weise sind auf der ganzen Welt Bewegungen gegen den Neoliberalismus entstanden, deren Forderungen sich auf bemerkenswert wenige Anliegen konzentrieren: ökonomische Absicherung, mehr Rechte, die Aufrechterhaltung grundlegender Versorgungsleistungen und Schutz vor den erbarmungslosen Anforderungen des Marktes.

Es wirkt bizarr, dass wir uns in einer solchen Zeit mit einer Theorie herumschlagen müssen, die sich durch das Niederreißen eben jener begrifflichen Säulen einen Namen gemacht hat, die uns dabei helfen, die politische Situation einzuschätzen und eine effektive Strategie zu entwerfen. Die Verfechter postkolonialer Theorie haben eine Menge Tinte verschüttet in ihrem Kampf gegen Windmühlen, die sie selbst schufen. Indem sie dies taten, leisteten sie einer massiven Wiederkehr von Nativismus und Orientalismus Vorschub. Es geht nicht nur darum, dass sie mehr Wert auf das Lokale legen als auf das Universale. Ihre Aufwertung des Lokalen, ihre Fixierung auf kulturelle Besonderheiten und vor allem ihr Beharren auf Kultur als Quelle von Handlungsmacht hat genau dem Exotismus den Weg bereitet, den die Linke einst an kolonialen Darstellungen des Nichtwestens verabscheute.

Im gesamten 20. Jahrhundert war es der Fixpunkt antikolonialer Bewegungen, wenigstens der linken, dass Unterdrückung falsch ist, wo auch immer sie stattfindet, weil sie grundlegenden menschlichen Bedürfnissen widerspricht – der Würde, der Freiheit, dem elementaren Wohlergehen. Jetzt hat die postkoloniale Theorie im Namen des Antieurozentrismus jedoch genau den kulturellen Essentialismus wiederauferstehen lassen, den Progressive – zu Recht – der ideologischen Rechtfertigung imperialer Herrschaft bezichtigten. Wenn Menschen ihre Rechte vorenthalten werden, gibt es dafür dann keine bessere Rechtfertigung, als die bloße Vorstellung von Rechten und universalen Interessen als kulturell befangen anzugreifen? Die Wiederbelebung einer internationalen und demokratischen linken Bewegung wird nur dann möglich sein, wenn die beiden Universalismen anerkennen – unsere gemeinsame Menschlichkeit und deren Bedrohung durch einen brutal universalisierenden Kapitalismus.

Quelle: www.jungewelt.de… vom 6. Juni 2016

 

 

[i] Bill Ashcroft, Gareth Griffiths, Helen Triffin (Hg.): The Postcolonial Studies Reader, London 1995

[ii] Gyan Prakash: Postcolonial Criticism and Indian Historiography, in: Social Text, Nr. 31/32 (1992)

[iii] Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe, Princeton 2007

[iv] ders.: Rethinking Working Class History: Bengal 1890–1940, ­Princeton 1989

[v] Arturo Escobar: After Nature: Steps to an Anti-essentialist Political Ecology, in: Current Anthropology, 40 (1), Februar 1999

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