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Frankreichs umkämpfte Arbeitsrechts-„Reform“: Stand 6. Juni 2016

Eingereicht on 7. Juni 2016 – 11:35

Bernard Schmid. Proteste in Frankreich: Ein Photograph in Paris und ein Streikposten aus Fos-sur-Mer liegen nach wie vor im Koma * Um zumindest ein bisschen Ruhe in die Protestfront zu bekommen

(und um das Arbeitsgesetz zu retten), hat die Regierung vielen Forderungen in Teilbereichskämpfen nachgegeben: Angriff auf die Arbeitszeitregelungen für die Bahnbeschäftigten vom Tisch, ebenso Stellenabbau bei den Fluglotsen * Doch der Bahnstreik geht vorerst weiter * Premierminister Manuel Valls kündigt an, er wolle die Züge von Gendarmen steuern lassen, und beruft sich auf Überschwemmungen und ins Haus stehendes Sportereignis * Besorgnis um Beginn der Fußball-EM * Platzbesetzerbewegung schwächelt, doch unternimmt sie neue Aktionen, darunter einen Marsch in Richtung Banlieues * Elektrizitätswerker drehen den Werften in Saint-Nazaire den Saft ab und gewähren Hunderttausenden von Haushalten günstigere Stromtarife * Vorbereitung auf frankreichweite Zentraldemonstration am 14. Juni

Die Wirtschafts-Tageszeitung Les Echos (arbeit„geber“nahe, doch intelligenter als das deutsche Handelsblatt, was freilich nicht sonderlich schwerfällt) ist unzufrieden. Denn ihrer Auffassung nach ist die amtierende französische Regierung derzeit erheblich zu großzügig und verfährt nach dem Gießkannenprinzip, um sich den sozialen Frieden zu erkaufen. Und so rechnet die Zeitung nun bange vor, was „die Geschenke“ (sic) von François Hollande angeblich den französischen Staatshaushalt kosten würden – vgl. http://www.lesechos.fr/economie-france/budget-fiscalite/021984229807-budget-ce-que-vont-couter-les-cadeaux-de-hollande-2002724.php -; und ihre Redaktion vergisst bittere Tränen über das Schicksal der armen geplagten Bahngesellschaft SNCF. Diese, respektive ihre Zukunft, sei durch die Regierung eiskalt „geopfert“ worden (vgl. http://www.lesechos.fr/idees-debats/cercle/cercle-157543-le-jour-ou-le-gouvernement-a-sacrifie-la-sncf-2002919.php ). Man hat förmlich den armen Guillaume Pepy – aktuell Unternehmenschef bei der SNCF – vor Augen, wie er soeben frisch gekreuzigt wurde.

Bei der Bahn: Warum wird weiterhin gestreikt? Aus guten Gründen, weil…:

Der Hintergrund dazu: Seit dem Wochenende des 28./29. Mai hat die Regierung (vertreten durch Transportminister Alain Vidalies) begonnen, z.T. über die Köpfe der SNCF-Direktion hinweg einige Zugeständnisse an die Bahnbeschäftigten zu machen. Die geplanten neuen Arbeitszeitregelungen für die Beschäftigten der SNCF, die u.a. den Wegfall von bis über zwanzig Ruhetagen pro Jahr sowie von 22 Doppelruhetagen jährlich (künftig dreißig statt 52) sind weitgehend faktisch vom Tisch: Das Personalpolitik-Dokument „RH 0077“, das diese Themen der Arbeits- und Ruhezeiten bei der SNCF regelt, soll nicht abgeändert werden. Dadurch ist zumindest der schwerste Angriff vorläufig abgewehrt. Jedenfalls… – jedenfalls für diejenigen Bahnbeschäftigten, die direkt bei der SNCF angestellt sind.

Doch bis im Jahr 2023 soll der Bahnverkehr nunmehr vollständig für die Konkurrenz privater Anbieter geöffnet werden, bis dahin erfolgt die Freigabe des Schienenverkehrs an private Konkurrenten der (im Staatsbesitz befindlichen Aktiengesellschaft) SNCF schrittweise. Im Hinblick darauf soll bis am 30. Juni d.J. eine CCN oder convention collective de branche, also ein Branchen-Kollektivvertrag abgeschlossen werden, der dann sowohl für die SNCF als auch ihre künftigen Konkurrenten gelten wird. Der Entwurf für einen solchen Branchen-Kollektivvertrag wurde ebenfalls im Sinne der jüngsten Zugeständnisse bei der Arbeitszeit angepasst. Allerdings enthält er einen Artikel 49, welcher, wenn er Anwendung finden wird, als „Öffnungsklausel“ wirkt. Und der örtliche, auf bestimmte Beschäftigtengruppen bezogene oder „betriebsbedingte“ (in wirtschaftlichen Gründen wurzelnde) Abweichungen nach unten zulässt, also schlechtere Bedingungen ermöglicht.

Aus Sicht der Gewerkschaften handelt es sich bei diesem Artikel 49 des geplanten Branchenkollektivvertrags um eine direkte Übernahme des Artikels 2 im Entwurf für das geplante „Arbeitsgesetz“, das gleichsam wie eine Blaupause wirkt. Besagter Artikel 2 des „Arbeitsgesetz“-Entwurfs sieht vor, dass in stärkerem Ausmaß als bislang Unternehmens-Kollektivverträge „nach unten“ (in für die Lohnabhängigen ungünstigem Sinne) von den Branchenvereinbarungen abweichen dürfen. Vor allem bei der Arbeitszeitpolitik. (Vgl. http://canempechepasnicolas.over-blog.com/2016/06/sncf-la-cgt-denonce-les-manoeuvres-de-la-direction-du-pouvoir-et-de-ses-courroies-de-transmission-syndicales.html ).

Doch die Botschaft, die öffentlich herüberkam, lautete vor allem, dass jedenfalls für die direkt bei der SNCF Beschäftigten die drohende Gefahr abgewendet sei. Daraufhin hob zunächst die Branchengewerkschaft der – an der Spitze rechtssozialdemokratischen – CFDT ihren Streikaufruf bei der SNCF am 30. Mai d.J. auf (vgl. http://www.lemonde.fr/economie/article/2016/05/30/sncf-la-cfdt-leve-son-preavis-de-greve-l-unsa-le-maintient_4929058_3234.html ); inzwischen folgte auch die ihr mehr oder minder nahe stehende Branchengewerkschaft des „unabhängigen“ Gewerkschaftszusammenschlusses UNSA. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/sncf-l-unsa-ferroviaire-suspend-son-preavis-de-greve_1480283.html ).

Unterdessen streiken vor allem die Branchengewerkschaft der CGT-Eisenbahner (CGT-Cheminots) sowie die linke Basisgewerkschaft SUD-Rail weiter, erstens weil noch manche offene Forderungen unerfüllt sind, zum Zweiten, weil sie auch den Rückzug des umkämpften Gesetzentwurfs zum Arbeitsrecht („Arbeitsgesetz“) fordern. Insbesondere aber prangern beide Gewerkschaftsverbände den besagten Artikel 49 im geplanten Branchen-Kollektivvertrag für den Eisenbahnverkehr an. Von der dritten Branchengewerkschaft im Bunde, jener des Dachverbands FO, hört man in diesem Zusammenhang derzeit nicht mehr viel. Am 02. Juni wurde der Arbeitskampf, unterstützt durch CGT & SUD, zunächst an nahezu einhundert Prozent der betroffenen Arbeitsstellen fortgeführt. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr/economie/emploi/carriere/vie-professionnelle/droit-du-travail/sncf-la-cgt-cheminots-et-sud-rail-annoncent-la-reconduction-de-la-greve-pour-jeudi_1478761.html ).

Die französische Regierung sowie die Unternehmensdirektion der SNCF tun unterdessen Alles, um die Auswirkungen des Streiks und seinen Erfolg herunterzuspielen. Vergangene Woche behauptete die Direktion am Mittwoch, den 1. Juni – dem ersten voll durchgestreikten Tag bei der SNCF seit dem Beginn des unbefristeten Streiks (am Abend des 31.05.) -, es seien 17 Prozent des Personals im Ausstand gewesen. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr/economie/greve/greve-des-transports/sncf-17-du-personnel-est-en-greve-mercredi-selon-la-direction_1478203.html ). Am Freitag, den 03. Juni beliefen sich ihre Angaben auf nur noch 10,5 Prozent Beteiligung am Streik. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/05/25/97002-20160525FILWWW00097-sncf-taux-de-greviste-en-baisse-a-106.php ). Es ist ein altbekannter „Klassiker“, dass die Angaben zur Streikbeteiligung von oben heruntergespielt werden. Die SNCF-Direktion rechnet in ihre Prozentzahlen etwa stets auch Büropersonal und „weiße Kragen“ mit hinein, die in ihrem Leben keinen Zug steuern und auch hinter keinem Schalter mit Publikumsverkehr hocken.

Seit dem vergangenen Freitag, 03. Juni verhält sich der rechtssozialdemokratische Regierungschef Manuel Valls nun höchst offensiv. Er fordert die Bahnbeschäftigten lautstark zur Einstellung ihres Streiks auf und bemüht dabei auch die „Solidarität“ als Argument, in diesem Falle die Solidarität mit den Opfern der Überschwemmungen in der vorigen Woche, welche auch Teile des Bahnverkehrs u.a. im Großraum Paris beeinträchtigten. Vor diesem Hintergrund sei der Fortgang des Streiks „absolut unverständlich“, tönte Valls. (Vgl. http://www.lemonde.fr/economie-francaise/article/2016/06/03/mouvements-sociaux-la-sncf-s-installe-dans-la-greve-valls-s-impatiente_4932597_1656968.html ). Sollte sein Aufruf nicht fruchten, sollten die Bahnbeschäftigten nicht spuren, dann droht Valls für diesen Fall damit, die Lokführer/innen durch Gendameriebeamte zu ersetzen – also Staatsbedienstete, die historisch dem französischen Verteidigungsministerium unterstehen und von ihrem Status her Militärangehörige bilden. (Vgl. http://www.challenges.fr/reforme-code-travail/20160604.CHA0131/sncf-valls-appelle-a-l-arret-le-plus-vite-possible-de-la-greve-totalement-incomprehensible.html ).

Unterdessen jammert die Führung der SNCF am heutigen Montag (06.06.16) in der Öffentlichkeit herum, der Fortgang des Arbeitskampfs koste sie täglich fünfzehn bis zwanzig Millionen Euro. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/06/06/97002-20160606FILWWW00079-sncf-la-greve-coute-de-15-a-20-m-eur-par-jour-a-l-entreprise.php ). Ebenfalls am heutigen Montag wollen Bahnbeschäftigte erneut in Paris demonstrieren. (Vgl. http://canempechepasnicolas.over-blog.com/2016/06/ce-6-juin-pour-remettre-la-sncf-sur-les-rails-les-cheminots-sont-a-paris.html ).

Andere Sektoren

Auch in anderen Sektoren hat die Regierung – vordergründig oder real – Ballast abgelassen, um zumindest zu verhindern, dass sich allzu starke Kräfte gleichzeitig im derzeitigen Sozialprotest bündeln.

Im staatlichen Schulwesen etwa wurde eine Erhöhung der Einkommen sowie eine verbesserte Laufbahnentwicklung für die Lehrer/innen im Zeitraum 2017 bis 2020 angekündigt. (Vgl. http://www.huffingtonpost.fr/2016/05/31/un-milliard-euros-an-profs-education-nationale_n_10216348.html?ir=France und http://www.liberation.fr/france/2016/05/31/najat-vallaud-belkacem-annonce-une-hausse-de-la-remuneration-des-enseignants-des-2017_1456248 sowie http://www.lemonde.fr/education/article/2016/05/31/les-pistes-du-gouvernement-pour-revaloriser-le-salaire-des-professeurs_4929292_1473685.html ). Dabei war das öffentlich-rechtliche Schulwesen (Anm.: in Frankreich existiert daneben ein stark ausgebauter Privatschulzweig) bislang von den jüngsten Streikbewegung nur in eher unwesentlichem Ausmaß betroffen. Doch sollte hier Trubel vorgebeugt werden. Und ferner zählte die Lehrer/innen/schaft jedenfalls bis in jüngster Vergangenheit bei Wahlen zur Kernklientel der französischen Sozialdemokratie (auch wenn dies ebenfalls, wie in anderen Bereichen, vorbei sein dürfte).

Bei den Fluglotsen und –lotsinnen, die ursprünglich vergangene Woche vom 03. bis 05. Juni (Freitag bis Sonntag) streiken sollten, wurden die geplanten Stellen-Abbaumaßnahmen für die kommenden drei Jahre zurückgenommen. Die Streikaufrufe aller beteiligten Gewerkschaften wurden daraufhin ebenfalls zurückgezogen (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/06/02/97002-20160602FILWWW00122-greve-controleurs-aeriens-la-cgt-leve-son-preavis.php und http://www.francetvinfo.fr/economie/greve/greve-des-transports/tous-les-syndicats-de-controleurs-aeriens-ont-leve-leur-preavis-de-greve-annonce-le-secretaire-d-etat-aux-transports_1479971.html ); zuletzt jener der CGT. (Vgl. http://www.franceinfo.fr/fil-info/article/controleurs-aeriens-la-cgt-aviation-civile-leve-son-preavis-de-greve-secretaire-national-de-l-usac-794611 ).

Allerdings kündigt sich nun an, dass die Piloten bei Air France ihrerseits vom 11. bis 14. Juni d.J. streiken könnten, also zu Beginn der Fußball-EM. Bei ihnen geht es um eine Absenkung ihrer Einkommen, welche seit dem 1. Juni dieses Jahres greift, sowie um Arbeitsbedingungen. (Vgl. http://actu.cotetoulouse.fr/greve-pilotes-air-france-perturbations-craindre-toulouse-euro-2016_37640/ und http://www.lemonde.fr/economie/article/2016/05/30/les-pilotes-de-la-compagnie-air-france-se-preparent-a-des-arrets-de-travail_4929238_3234.html ).

Bei den LKW-Fahrern wurde, wie wir bereits berichteten, bereits in der vorletzten Maiwoche 2016 ein wichtiges Zugeständnis angekündigt: Die Ausweitung und „Flexibilisierung“ der wöchentlichen Arbeitszeiten – nach Bedarf des Unternehmens -, die durch das geplante „Arbeitsgesetz“ ermöglicht wird, soll nicht für die Fahrzeiten von LKW-Fahrern hinter dem Steuer gelten. Dafür soll ein besonderes Dekret verabschiedet werden. Allerdings wurde kurz darauf, jedenfalls für einige Tage, das genaue Gegenteil unternommen: Um die akut drohende Treibstoffknappheit an vielen Tankstellen abzuwehren, wurden ab dem Wochenende des 21./22. Mai Überstunden- und Ruhezeitregeln sowie Begrenzungen der Wochenendarbeit im Gütertransport per LKW vorläufig außer Kraft gesetzt. (Vgl. http://www.actuel-hse.fr/content/raffineries-bloquees-derogation-temporaire-aux-temps-de-conduite-et-de-repos und http://www.wk-transport-logistique.fr/actualites/detail/93867/transports-d-hydrocarbures-derogation-temporaire-aux-temps-de-conduite-et-de-repos.html ). Siehe auch eine Kritik dazu: http://www.communisteslibertairescgt.org/Derogation-travailler-plus-pour-casser-les-greves.html ).

Einen Rückzieher unternahm Staatspräsident François Hollande jüngst auch bei dem Vorhaben, das Budget für Forschungs- und Wissenschaftsförderung im Staatshaushalt um 134 Millionen Euro jährlich zu kürzen. Am 30. Mai d.J. erklärte Hollande seinen Verzicht auf diese Massnahme (vgl. http://www.francetvinfo.fr/politique/francois-hollande-renonce-a-amputer-le-budget-de-la-recherche-de-134-millions-d-euros_1475057.html ). Dazu hatte ihn zuvor eine Gruppe von Nobelpreisträgern aufgefordert. Auch hier ging es darum, politischen Ärger zu vermeiden bzw. zu verringern und eine Frontbegradigung vorzunehmen. In dieselbe Kategorie zählt auch die Nachricht, dass Hollande die geplante Verringerung der vom Staat an die Kommunen um- bzw. zurückverteilten Mittel für das laufende Jahr beschränkte. Unzufrieden sind nun allerdings die Départements (Verwaltungsbezirke) und Regionen, denn die Verringerung der Mittel aus der Umlage an sie wurde wiederum nicht zurückgenommen… Vgl. http://www.courrierdesmaires.fr/62373/dotations-les-maires-voient-le-verre-a-moitie-plein-departements-et-regions-le-voient-vide/ .

Allgemeine Lage

Ansonsten macht sich die französische Regierung sich nach wie vor erhebliche Sorgen um die drohende Beeinträchtigung der Fußball-Europameisterschaft, Euro 2016’, welche vom 10. Juni bis 10. Juli dieses Jahres in Frankreich ausgetragen werden soll. Noch vor wenigen Wochen wurde öffentlich verlautbart, Staatschef François Hollande – er bleibt derzeit auf stolzen 14 Prozent Beliebtheitswerten hocken, doch so viel, doch so viel – baue „auf die Fußball-EM, um in der öffentlichen Gunst wieder zuzulegen“. (Vgl. http://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2017/article/2016/05/19/hollande-balle-au-pied_4921889_4854003.html ). Wenn man schon sonst politisch-inhaltlich nichts, aber auch gar nichts vorzuweisen hat… Doch daraus wird nun wohl nichts, manche Presseorgane propheizen ihm jedenfalls mittlerweile das genaue Gegenteil (vgl. http://www.huffingtonpost.fr/2016/06/05/hollande-euro-2016-possibilite-regagner-popularite-chirac-1998_n_10274588.html ).

Unsereins wird am kommenden Freitag, den 10. Juni ab 18 Uhr, pünktlich zur Eröffnung der Meisterschaft im großen Stadion von Saint-Denis, in unmittelbarer Nähe davon demonstrieren. Um den Protest auch dort auf die Straße zu tragen, und „notfalls“ (nein, nein, nicht doch, gern geschehen, es ist uns ein Vergnügen…) der Regierung ihre Tour zu vermasseln. – Wer dies liest & kommen kann, bitte nicht in Saint-Denis „Porte de Paris“ aussteigen, dort dürften alle Zugänge tüchtig verstopft sein, sondern bitte in Saint-Denis „Basilisque“ aussteigen und dann ein Stück zu Fuß gehen…

Ein 28jähriger Photograph, Romain D., der aus Anlass der bisher letzten größeren Demonstration mit gewerkschaftlicher Unterstützung – beim „Aktiontstag“ am Donnerstag, den 26. Mai – in Paris erheblich verletzt wurde, liegt nach wie vor im Koma. Inzwischen kursieren sogar von unterschiedlicher Seite Informationen oder Gerüchte, die behaupten, er befinde sich im Stadium des Hirntods. Deren Wahrheitsgehalt können wir derzeit nicht definitiv überprüfen. (Hoffentlich trifft das Gegenteil zu!, doch auch aus der bürgerlichen Presse geht hervor, dass Romain B. bleibende Schäden davon tragen wird, falls er aus dem Koma wieder aufwacht.) Gleichzeitig tauchen immer mehr kompromittierende Details über das polizeiliche Vorgehen am Spätnachmittags jenes Tages auf. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde Romain G. vom Splitter einer Schockgranate, wie die Polizei/Gendarmerie sie zur Auflösung von Menschenmengen einsetzt, an der Schläfe getroffen.

Die Einsatzkräfte bzw. ihre politische Führung behaupteten zunächst, es sei unklar, wovon Romain D. getroffen worden sei, und es könne sich auch um das Wurfgeschoss einer/s Demonstranten/-in handeln. Doch die akribische Rekonstruktion auch durch die linksliberale Presse widerlegt diese Darstellung immer deutlicher. Entgegen ursprüngliche Annahmen bzw. Angaben der Polizei befand sich Romain D. nicht auf dem Trottoir, wo er vielleicht in der Falllinie eines Wurfgeschosses aus der Demonstration (in Richtung Polizei) hätte stehen können, sondern inmitten der Straße; sein Kopf konnte deswegen auch nicht auf dem Bordstein aufprallen. Ferner war die Menge zum fraglichen Zeitpunkt ruhig. Eine Bildaufnahme, die die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde vor nunmehr drei Tagen in ihrer Papierausgabe veröffentlichte und die Sekundenbruchteile vor dem gefährlichen Treffer (also bevor Romain D. blutüberströmt zusammenbrach) aufgenommen wurde, zeigt den Hergang der Szene ziemlich eindeutig. Darauf erkennt man in scharfen Umrissen vier Granatsplitter, die durch die Bildredaktion eingekreist wurden, in zwei bis drei Metern Höhe. Dies widerlegt auch glasklar die Behauptung der Einsatzleitung der Polizei, Schockgranaten würden grundsätzlich nur auf den Boden abgeschossen und könnten allenfalls Puff-/Brandverletzungen in Knöchelhöhe (wie man sie derzeit tatsächlich bei einigen Menschen beobachtet) verursachen. Auf dem Foto fliegen die Splitter deutlich oberhalb der Kopfhöhe.

Auch die Tageszeitung Libération legte am heutigen Montag mit ähnlichen Informationen und Aufnahmen nach. (Vgl. http://www.liberation.fr/france/2016/06/05/un-manifestant-dans-le-coma-de-nouvelles-images-a-charge-contre-les-policiers_1457507 ).

Ebenfalls nach wie vor im Koma liegt ein Streikposten der CGT, den am 26. Mai im südfranzösischen Fos-sur-Mer ein Autofahrer lebensgefährlich anfuhr. Der Fahrer des Wagens hatte versucht, eine streikbedingte Sperre in der Nähe des Raffineriegeländes gewaltsam zu durchbrechen. (Vgl. http://www.europe1.fr/faits-divers/une-voiture-force-un-barrage-de-manifestants-a-fos-sur-mer-un-blesse-grave-2755696 und http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/05/26/97001-20160526FILWWW00186-fos-sur-mer-une-voiture-force-un-barrage-de-manifestants-un-blesse-grave.php ). Zwei Tage zuvor hatte dortselbst, in Fos-sur-Mer, die Polizei anlässlich der Räumung eines besetzten Treibstoffdepots Teilnehmer/innen bis in ein Gewerkschaftslokal der CGT hinein verfolgt und war in dieses eingedrungen.

Energische Reaktionen wurden in den letzten Tagen vor allem durch Beschäftigte des französischen Stromversorgers EDF durchgeführt. Diese drehten einerseits an Wohnsitzen prominenter Politiker und ähnlichen Orten gezielt den Saft ab, sorgten aber andererseits dafür, dass – je nach Angaben – für 800.000 bis 1,1 Millionen Haushalte der Strom vorübergehend zum günstigeren Nachttarif geliefert wurde. (Vgl. http://www.leparisien.fr/info-paris-ile-de-france-oise/les-grevistes-offrent-le-tarif-de-nuit-a-800-000-clients-franciliens-d-edf-02-06-2016-5850281.php ). De facto wurde ihnen also ein Sozialtarif (auf Zeit) gewährt, allerdings ohne Einverständnis der Geschäftsführung des Unternehmens. Im westfranzösischen Raum Nantes/Saint-Nazaire wiederum wurde vergangene Woche den Atlantikwerften von Saint-Nazaire vorübergehend der Strom abgestellt, was zu vorübergehenden Produktionsausfällen führte. Allerdings waren davon 120.000 Haushalte nebenbei mitbetroffen, wobei man sich allerdings vergegenwärtigen muss, dass die Eingriffe in das Alltagsleben von abhängig Beschäftigten durch die geplante „Arbeitsrechts-Reform“ erheblich über diese zeitweilige, kurze Unannehmlichkeit hinausgehen. (Vgl. http://www.huffingtonpost.fr/2016/06/02/trafic-gare-de-lyon-greve-loi-travail-saint-nazaire-coupure-electricite_n_10255514.html und http://www.liberation.fr/direct/element/_38512/ oder http://www.lepoint.fr/societe/loi-travail-coupure-d-electricite-geante-dans-la-region-de-saint-nazaire-02-06-2016-2043857_23.php ).

Am heutigen Montag früh wurde Wirtschaftsminister Emmanuel Macron im Pariser Vorort Montreuil durch Angehörige der CGT mit Eierwürfen auf einen ach so schönen Anzug begrüßt. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/couacs/2016/06/06/25005-20160606ARTFIG00115-macron-accueilli-par-des-jets-d-oeufs-lors-d-un-deplacement-a-montreuil.php ). Eine gute Woche zuvor hatte er öffentliches Aufsehen erregt, als er aus Anlass eines Besuchs im südfranzösischen Lunel mit Protestdemonstranten zusammentraf (vgl. bspw. http://www.liberation.fr/france/2016/05/28/emmanuel-macron-tee-shirt-costard-et-sortie-de-route_1455746 ) und ihnen entgegenschleuderte: „Ihr macht mir keine Angst mit Euren T-Shirts! Ihr müsstet arbeiten, dann könntet Ihr Euch auch einen solchen Anzug kaufen…“ (Vgl. dazu auch einen, hmm, freundlichen Kommentar: http://www.liberation.fr/direct/element/ferme-ta-gueule-macron-une-prof-taille-un-costard-au-ministre-de-leconomie_38535/ ) Einen Besuch in Marseille musste er daraufhin – Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste – lieber absagen. Und eine Stippvisite des Ministers in Lyon endete damit, dass er am Dienstag Nachmittag voriger Woche (31. Mai) bei seiner Rückkehr am Lyoner Bahnhof in Paris durch ein Empfangskomitee erwartet wurde, dem er sich lieber durch Flucht durch Hintertüren entzog…

Unterdessen hält sich die Platzbesetzerbewegung in Paris und anderswo, wenngleich auf quantitativ erheblich niedrigerem Niveau als in ihren Anfängen um den 31. März d.J. herum. Drei interessante Initiativen startete sie doch in den vergangenen Wochen: die internationale Initiative (zu Platzbesetzungen in diversen Ländern) am 15. Mai, den Abend vor den Toren des Arbeit„geber“verbands MEDEF am Freitag den 20. Mai, sowie an diesem Wochenende des 04./05. Juni einen Marsch/Demonstrationszug in Richtung Banlieues. Am frühen Vormittag des Freitag, 03. Juni nahmen zudem eine Reihe von Aktiven der Platzbesetzerbewegung Nuit debout an einer erfolgreichen Störung der Aktionärsversammlung des Bolloré-Konzerns – zusammen mit afrikanischen Oppositionellen – im Pariser Geschäftsviertel La Défense teil.

Quelle: www.labournet.de… vom 6. Juni 2016

 

 

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