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Die Arbeiterklasse Venezuelas am Scheideweg

Eingereicht on 17. Juni 2016 – 10:06

Neil Hardt. Zunehmende spontane Demonstrationen der Arbeiterklasse, Straßenblockaden, Einbrüche in Lebensmittellager und der nationale Streik der Busfahrer beschwören das Gespenst einer sozialen Revolution in Venezuela herauf.

In den ersten fünf Monaten des Jahres 2016 gab es pro Tag durchschnittlich 19 Demonstrationen gegen Nahrungsmittelknappheit und den Zusammenbruch der sozialen Grundversorgung. Drei Demonstranten wurden in der letzten Woche im Verlauf von Demonstrationen getötet, als die Chavista-Regierung von Präsident Nicholas Maduro die Polizei und die Nationalgarde anwies, die Demonstrationen mit Gewalt aufzulösen. Ein weiterer Demonstrant wurde am Dienstag getötet. Videos, auf denen das Militär wahllos in eine Menge von Zivilisten schießt, die rufen „Wir wollen essen“, finden im Internet weite Verbreitung.

Die Bedingungen ähneln immer mehr der Zeit des blutigen Caracazo von 1989. Damals waren wütende Arbeiter und Arme nach Caracas und in andere Großstädte gezogen, um gegen das Sparpakets des IWF zu protestieren, das die Regierung von Carlos Andres Perez durchgesetzt hatte. Damals wie heute waren die Ölpreise eingebrochen. Das machte und macht es der kapitalistischen Regierung schwer, die enormen Klassenspannungen in Venezuela zu dämpfen. Venezuela ist weltweit eines der Länder mit der größten sozialen Polarisierung.

Der Caracazo war die Triebkraft für den Aufstieg der Chavista-Bewegung, die ursprünglich als regimekritische Fraktion junger Armeeoffiziere entstanden war, die vom brutalen Vorgehen der Armee abgestoßen waren. Sie lehnten sich dagegen auf, dass die Regierung Streitkräfte einsetzte, um Tausende von Venezolanern auf den Straßen niederzuschießen.

Im Jahr 1992 führte der verstorbene Hugo Chavez, damals Oberstleutnant der Fallschirmjäger, einen erfolglosen Militärputsch an. Aufgrund der Tatsache, dass alle großen Parteien wie auch die Gewerkschaften sich völlig diskreditiert hatten, gewann der Aufstand die Sympathie der Bevölkerung. Nach kurzer Haft wurde Chavez 1998 auf der Grundlage eines populistischen und links-nationalistischen Programms zum Präsidenten gewählt.

Die pro-kapitalistische, bürgerlich-nationalistische Politik der regierenden Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) hat dann aber zu einer sozialen Katastrophe für die Arbeiter geführt. Gewinnorientierte Unternehmen, sowohl ausländische als auch einheimische, stellten die Produktion ein und stürzten Zehntausende ins Elend. Da es keine geplante wirtschaftliche Entwicklung gab, blieb die Wirtschaft völlig abhängig von Ölexporten und war anfällig gegenüber den Preisschwankungen auf den internationalen kapitalistischen Rohstoffmärkten.

Die privaten ausländischen und einheimischen Banken üben weiterhin die Kontrolle über die Wirtschaft aus, während die Regierung dringend benötigte Importe von Lebensmitteln und Medizin zusammenstreicht, um Milliarden Dollar an Zinszahlungen an die Wall-Street-Gläubiger fließen zu lassen.

Während der 17jährigen Herrschaft von Chavez/Maduro haben pseudolinke Gruppen weltweit die PSUV als Modell für den „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ gepriesen. In Wirklichkeit hat sich unter den Chavistas eine neue herrschende Schicht aus Finanziers, Geschäftsleuten mit politischen Beziehungen und Unternehmern sowie hohen Regierungsbeamten gebildet, die sich auf Kosten der venezolanischen Massen bereichert. Die minimalen Sozialhilfeprogramme, die in dieser Zeit eingeführt wurden, haben nicht verhindert, dass ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung in Armut und 51 Prozent in extremer Armut lebt.

Führende Politiker der rechten oppositionellen Partei des Democratic Unity Roundtable (MUD) warnen davor, dass sich das Land am Rande „einer sozialen Explosion“ befinde und dass die „Gesellschaft als Folge der täglich wachsenden Spannungen explodieren wird“. Sie streben ein Abberufungs-Referendum an, um Maduro abzusetzen, und um ein Ventil für die wachsenden sozialen Spannungen zu schaffen.

Washington hatte 2002 in einem gescheiterten Putsch versucht, Chavez zu stürzen. Seitdem wird die venezolanische Regierung als „außergewöhnliche Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA“ bezeichnet. Maduro seinerseits hat erst vor ein paar Wochen eine angeblich unmittelbar bevorstehende amerikanische Invasion beschworen, um die Mobilisierung des Militärs angesichts der zunehmenden Unruhen im Volk zu rechtfertigen.

Am Dienstag kündigte US-Außenminister John Kerry auf einem Treffens der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in der Dominikanischen Republik an, die USA würden Verhandlungen auf höchster Ebene anbieten, um im politischen Konflikt in Venezuela zu vermitteln und die sozialen Spannungen zu entschärfen. Nach einem Treffen mit dem Außenminister Venezuelas Delcy Rodriguez erklärte Kerry, Washington sei entschlossen „die Beziehungen zu verbessern“ und „die alte Rhetorik zu überwinden“.

Maduro seinerseits verlangte den sofortigen Austausch von Botschaftern und zeigte sich begeistert über die neuen Gespräche mit Washington. Er erklärt am Dienstagabend: „Ich schätze Präsident Obama sehr. Er ist ein netter Mensch … Warum sollte ich das nicht sagen?“

Was die beiden Seiten zusammenbringt ist ihre gemeinsame Angst vor und ihre Feindschaft gegen die venezolanische Arbeiterklasse. Der US-Imperialismus hat die Chavez-Maduro-Regierungen lange Zeit als Ärgernis angesehen, das er gerne beseitigt hätte. Er hat jedoch keinerlei Interesse daran, dass dieses Ziel durch eine Massenrevolte von unten verwirklicht wird.

Die herrschende Klasse in den USA wie auch die lateinamerikanische Bourgeoisie sind sich sehr bewusst darüber, dass die Missstände, unter denen die venezolanischen Arbeiter leiden, die Arbeiter in der gesamten Hemisphäre betreffen. In Brasilien, Chile, Bolivien, Ekuador, Argentinien und überall in Mittelamerika sowie Mexiko nehmen die Streiks und Demonstrationen an Häufigkeit und Stärke zu. Lateinamerika ist heute die Region mit der größten sozialen Ungleichheit auf der Welt. Es ähnelt einem sozialen Pulverfass kurz vor der Explosion.

Darüber hinaus ist das Erwachen des Klassenkampfs nicht auf Lateinamerika beschränkt. Es ist ein globales Phänomen, das durch die französische Bewegung gegen das El Khomri-Gesetz und die Streikwelle in Belgien gekennzeichnet ist, wie auch durch die Streiks der Telekommunikationsarbeiter in den Vereinigten Staaten und durch die Millionen Stimmen für den selbsternannten „sozialistischen“ US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders.

Die venezolanische Arbeiterklasse steht am Scheideweg. Sie ist mit gefährlichen Gegnern in der Maduro-Regierung, dem Militär, der rechten offiziellen Opposition, den Gewerkschaften und einer imperialistischen Invasion der USA konfrontiert. Die venezolanische Pseudolinke, Gruppen wie Marea Socialista und die Internationale Marxistische Tendenz, machen die Arbeiterklasse für die Krise der bürgerlichen Regierung Venezuelas verantwortlich, und bemühen sich die schwindenden Illusionen in die PSUV wiederzubeleben.

Siebzehn Jahre Herrschaft der PSUV beweisen, dass die Arbeiter keinem Teil der Bourgeoisie vertrauen können, wenn es um die Vertretung ihrer Klasseninteressen geht, gleichgültig in welche radikale Phraseologie er sich kleidet. Die brutale Unterdrückung des Caracazo 1989 zeigt die enormen Gefahren der gegenwärtigen Situation. Heute stützt sich die Maduro-Regierung, wie die Regierung damals, letztendlich auf das Militär, um einen revolutionären Aufstand in Blut zu ersticken. Der US-Imperialismus wird trotz all seines Geredes über Demokratie und Menschenrechte jede Maßnahme unterstützen, die notwendig ist, um das Privateigentum und die Profitinteressen der Bourgeoisie zu verteidigen.

Arbeiter und Jugendliche können sich nur auf ihre unabhängige Mobilisierung verlassen, um die Versorgung mit Lebensmitteln, Gesundheitsleistungen und anderem lebensnotwendigem Bedarf zu gewährleisten, die das kapitalistische System nicht mehr zur Verfügung stellen kann.

Für die venezolanische Arbeiterklasse ist es heute entscheidend, ihre politische und soziale Positionen auszubauen. Dazu müssten Nachbarschafts- und Arbeitsplatz-Komitees aufgebaut, Lebensmittellager von privaten Hamsterern, Schwarzhändlern und den Lebensmittelverteilungskomitees (CLAP) der regierenden Partei beschlagnahmt werden, um die Lebensmittel an die Bedürftigen zu verteilen.

Private und staatliche Fabriken und Werkstätten müssen unter die demokratische Kontrolle der Arbeiterklasse gestellt werden, damit die Produktion auf die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet werden kann. Es müssen Streikkomitees aufgebaut werden, um Arbeitsniederlegungen in den Schlüsselindustrien überall im Land zu koordinieren.

Die Arbeiter müssen sich darauf vorbereiten, sich gegen die paramilitärischen Truppen, die Polizei und das Militär der PSUV zu verteidigen. Aber am wichtigsten ist, dass sich Arbeiter einem unabhängigen internationalen, sozialistischen Programm zuwenden.

Quelle: www.wsws.org… vom 17. Juni 2016

 

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