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Goldhagens antideutsche Metaphysik statt Marx

Eingereicht on 4. August 2016 – 8:59

Susann Witt-Stahl. Vor 20 Jahren läuteten Goldhagen und seine Anhänger eine Revision marxistischer Faschismustheorien ein. Damit ebneten sie den Weg für Legitimationsideologien »deutscher Lösungen« in der Außenpolitik.

Vor 20 Jahren, im Sommer 1996, erschien Daniel Goldhagens Buch »Hitlers Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust« in deutscher Sprache unter dem Titel »Hitlers willige Vollstrecker«. Die Monographie hatte bereits im April desselben Jahres einen Streit unter deutschen Historikern ausgelöst, als ein Vorabdruck in der Zeit erschienen war. Auch innerhalb der Linken wurde Goldhagens Studie heftig diskutiert. Zu dieser Debatte veröffentlichen wir einen Meinungsbeitrag der Musikjournalistin Susann Witt-Stahl. (jW)

Daniel Goldhagen wurde 1996 für »Hitlers willige Vollstrecker« vom deutschen Publikum gefeiert wie ein Popstar. Das Buch ist unwissenschaftlich, enthält viele historiographische Fehler und ist reißerisch geschrieben – stellenweise ein billiges Kulturindustrieprodukt. Ganz sicher ist es keine ernstzunehmende Abhandlung über den NS-Faschismus und den deutschen Völkermord an den europäischen Juden. Mit seiner »hanebüchenen« Behauptung eines vom Vernichtungsantisemitismus beseelten deutschen Wesens, das nach dem Untergang des Hitlerfaschismus geheilt wurde, ist es, wie Moshe Zuckermann befand (siehe jW vom 12.4.2016), ein schlechtes Buch und hätte unter anderen historischen Vorzeichen ein Ladenhüterdasein gefristet.

Es wurde aber zum Bestseller mit »spektakulärer Resonanz« (FAZ) und ist hochbrisant. Nicht zuletzt weil der 750-Seiten-Wälzer und noch mehr seine Rezeption sich als Affirmation der seit Adenauer verfolgten Agenda deutscher Außenpolitik erweisen, ebenso als Indikator des Einschwenkens dominanter Strömungen der antikapitalistischen Linken auf deren verstärkt aggressiven Kurs, was verbunden ist mit einem Abschied vom friedenspolitischen Konsens und Antifaschismus – sogar von wesentlichen Erkenntnissen des historischen Materialismus.

Die Exekutoren der als »sicherheitspolitisches Engagement« camouflierten imperialistischen Aggressionen lassen heute ausgerechnet im Namen der Millionen bomben und plündern, die Opfer der Radikalisierung deutschen Hegemonialstrebens bis hin zum Führen von »Vernichtungskriegen« geworden waren. Seit der Rechtsnachfolger des NS-Staates, geführt von einer rot-grünen Bundesregierung, 1999 in Jugoslawien die Überschreitung seines historischen Rubikons wagte – sie war bereits in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« von 1992 geplant –, dient »wegen Auschwitz« bis hinein in die Linke als Totschlagargument.

Diese Umkehr des objektiv aus dem vorwiegend von deutschen Tätern verübten Menschheitsverbrechen resultierenden neuen welthistorischen Imperativs (dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe) war bereits in der ­Existenz einer postfaschistischen und in den NATO-imperialistischen Machtblock integrierten BRD und ihrer philosemitischen politischen Kultur angelegt. Das heißt in einer dezidiert nicht antifaschistischen und nicht auf Beseitigung des Antisemitismus, sondern bloß auf die positive Umdeutung seiner Ideologeme zielenden Gesellschaftsordnung sind die Bedingungen der Möglichkeit weiterer Katastrophen gut, in Krisenzeiten besser.

»Der jüdische Freund«

Wie der Historiker Frank Stern betont, hatte der Philosemitismus im Westdeutschland der Nachkriegszeit eine »doppelte Dimension« und kann daher nicht nur »als einfache Verkehrung des Antisemitismus oder als Nebenprodukt der Reeducation« betrachtet werden: Zunächst beruhte Philosemitismus nicht selten auf einer tatsächlichen Veränderung des Denkens und Verhaltens. Als sich aber abzeichnete, dass die BRD im Kalten Krieg die Rolle des Frontstaats übernehmen würde, überwog die instrumentell-philosemitische Denkform und avancierte zur Ideologie. »Die Tabula antisemitica wurde mit der Tabula philosemitica ordentlich überdeckt«, beschreibt Stern in seiner Abhandlung »Im Anfang war Auschwitz« von 1991 die neue Devise.

1965 betonte Konrad Adenauer, damals bereits Altkanzler, die Notwendigkeit der Anerkennung deutscher Schuld. Und er verteidigte das bereits 1953 abgeschlossene »Wiedergutmachungs«-Abkommen mit Israel, das der junge jüdische Staat dringend zur Existenzsicherung benötigte. »Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen«, lautete ein Argument Adenauers für den alternativen deutschen Weg zur Lösung der »Judenfrage«. Derart offen antisemitische Atavismen bildeten die Ausnahme, es galt vielmehr, die Zeichen der Zeit zu erkennen: »Jeder«, so Stern, »hatte jetzt einen jüdischen Freund gehabt.«

Eines »jüdischen Freundes«, der seine Hand für das westgebundene Deutschland ins Feuer legte, bedurften vor allem die neu-alten ökonomischen Eliten, um langfristig wieder auf der Weltbühne in der ersten Reihe agieren zu können. Der war in dem engen NATO-Alliierten Israel gefunden. Denn »Israel erklärte sich zum Erben der Opfer, zu ihrem alleinigen offiziellen Vertreter in der Welt und ernannte sich zum Sprecher der ermordeten Millionen. Wir bürgerten sechs Millionen Tote ein«, beschreibt der ehemalige Knesset-Sprecher Avraham Burg einen Prozess, den Moshe Zuckermann als »Zionisierung des Holocausts« bezeichnete. Für die Bundesrepublik eine willkommene Interessenslage. »Der gewaltige Betrag von 1,5 Milliarden Dollar für die materielle Wiedergutmachung soll auch politische Dividenden abwerfen«, bemerkte Adenauer-Biograph Hans-Peter Schwarz.

Israel fungierte für das restaurierte Westdeutschland als identitätsstiftendes Vorbild – spätestens nach dem Sechstagekrieg: »Erfolg und Härte des israelischen Vormarsches lösten einen Blutrausch aus, Blitzkriegtheorien schossen ins Kraut, Bild gewann in Sinai endlich, nach 25 Jahren, doch noch die Schlacht von Stalingrad«, bemerkte Ulrike Meinhof im Juli 1967. »Hätte man die Juden, statt sie zu vergasen, mit an den Ural genommen, der Zweite Weltkrieg wäre anders ausgegangen, die Fehler der Vergangenheit wurden als solche erkannt, der Antisemitismus bereut, die Läuterung fand statt, der neue deutsche Faschismus hat aus den alten Fehlern gelernt, nicht gegen — mit den Juden führt Antikommunismus zum Sieg.«

Rund ein Vierteljahrhundert später hatte der Kapitalismus die Macht, sich für alternativlos zu erklären. Innerhalb kürzester Zeit mutierten ungezählte Linke zu Post-, Ex- und Antikommunisten, liefen mit fliegenden Fahnen zum vorläufigen Sieger über. Viele von ihnen in das in den USA entstandene Lager der Neokonservativen, die in der westlichen Welt den machiavellistischen Überbau für die Durchsetzung der neoliberalen Agenda stellten.

Mit »Nie wieder Deutschland« auf den Lippen zogen die, die Klassenkampf und Antiimperialismus hinter sich gelassen hatten und sich dabei aufgeklärt vorkamen, nur noch gegen die Berliner Republik als potentielles »Viertes Reich«, nicht aber gegen Deutschland als zunehmend interventionistische Mittelmacht im US-geführten westlichen Imperium. Für diese Quadratur des Kreises mussten deutsche Linke sich in den Zustand der Amnesie versetzen und geopolitische Wahrheiten vergessen – Meinhof hatte sie noch ausgesprochen: »Die Politik der Vereinigten Staaten zielt nicht nur auf die Erhaltung Israels für die Israelis, sondern ebenso auf die Erhaltung des arabischen Öls für die amerikanische Wirtschaft.« Ebenso wie der deutsche Imperialismus den »jüdischen Freund« im Nahen Osten und den zur Fetischformel mutilierten neuen welthistorischen Imperativ bemüht, um seine Expansionsbestrebungen ideologisch zu legitimieren, bedurften dieser Instrumente alle Linken, die damit ihren Frieden geschlossen haben.

Mit Fichte gegen Marx

Daniel Goldhagen lieferte nahezu alles, was für einen radikalen Bruch mit historisch-materialistischer (Geschichts-)Wissenschaft und ein Ende kapitalismuskritischer Aufarbeitung deutscher Vergangenheit nötig war: eine »ganz einfache« Argumentationskette mit den Stichworten »Deutsche – Antisemitismus – Hass – Brutalität«, wie der Historiker Raul Hilberg schrieb. »Goldhagen hat uns das Bild eines quasi mittelalterlichen Incubus hinterlassen, eines im deutschen Geist stets latent vorhandenen Dämons, der nur auf die Gelegenheit zum Losschlagen gewartet hatte.« In der Tat konstruierte er ein Erklärungsmodell, das auf ein aus der Nebelregion des bürgerlichen Idealismus auftauchendes deutsches Böses fokussierte. Es katapultierte die Antisemitismusforschung zurück in die Finsternis der – scheinbar negativ gewendeten – Fichteschen Philosophie vom »deutschen Wesen« und war sogar in der »Nähe zum völkischen Nationalismus« angesiedelt, wie Reinhard Kühnl 1996 in jW monierte. Mit seiner Herleitung des NS-Faschismus aus dem als »kognitives Muster« begriffenen Judenhass blendete Goldhagen die komplexe »Kausalbeziehung zwischen kapitalistischen Eigentumsverfassung und kapitalistischen Herrschafts- und Expansionsinteressen einerseits und dem Faschismus als Ideologie und Herrschaftsform andererseits« nahezu komplett aus, kritisierte Kühnl weiter.

»Ohne die Zusammenarbeit der deutschen Industrie und der Nazipartei hätten Hitler und seine Parteigenossen niemals die Macht in Deutschland ergreifen und festigen können«, ergänzte der Kommunist und ehemalige Widerstandskämpfer Emil Carlebach mit einem Zitat des Hauptanklägers der Nürnberger Prozesse und machte darauf aufmerksam, dass Goldhagens Gerede über »deutsche Charaktereigenschaften« vor allem für eines geeignet sei: »von der Erkenntnis abzulenken«, wer »hinter den Verbrechen Hitlerdeutschlands stand«.

Antisemitische »Einheitsfront«?

Die idealistische Prämisse der Studie des US-amerikanischen Soziologen (»Im Gegensatz zu Marx’ bekanntem Diktum geht sie davon aus, dass das Bewusstsein das Sein bestimmt«) und die Aussicht auf Faschismus- und Antisemitismusanalysen mit viel Moralin und Metaphysik und frei von Marx euphorisierte einige Anhänger offenbar so sehr, dass sie einen regelrechten Goldhagen-Hype entfalteten. Die Zeitschrift Konkret lockte neue Leser in spe mit »Hitlers willige Voll­strecker« als Aboprämie. Andere starteten Kampagnen gegen Linke, die nicht mit Goldhagen die jüdische Katastrophe als »deutsches nationales Projekt« interpretierten und sich weigerten, sich in der Schuldfrage auf die Masse »der Deutschen« zu konzentrieren und damit – zumindest objektiv – den Unterschied zwischen großkalibrigen Akteuren und Profiteuren des NS-Terrors wie etwa I.G.-Farben-Managern und Mitläufern wie regimetreuen Fließbandarbeitern einzuebnen.

Während von der »Wiedervereinigung« Deutschlands und von »Schlussstrich«-Mentalität beflügelte rechte Gegner Goldhagens, gemessen an ihren Falschbehauptungen (allen voran, dass er von einer »deutschen Kollektivschuld« ausgehe), glimpflich davonkamen, wurden die linken wahlweise als »Antisemiten« oder als NS-Täter-Schützer ausgemacht. Es reichte, dass der Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff »Hitlers willige Vollstrecker« als »publizistisch hochgespielte Dissertation« bezeichnete, um von einer »8.-Mai-Gruppe« gleichzeitig »antisemitischer Verschwörungstheorien« und der Mitgliedschaft in einer »Einheitsfront gegen Goldhagen« bezichtigt zu werden. Einen ausgeprägten Jagdinstinkt entwickelten Goldhagen-Apologeten besonders gegenüber »linken Koryphäen der Arbeiterbewegung«, wie Reinhard Kühnl und Emil Carlebach ironisch-verächtlich bezeichnet wurden. Letzterer hatte es gewagt, vor einer »›antideutschen‹ Stoßrichtung« zu warnen. Die Beobachtung über die deutsche »Nation als Klammer des Vernichtungsprogramms macht Goldhagen marxistischer als Kühnl und Co.«, verkündete Jürgen Elsässer in jW.

Erst recht kein Pardon durften jüdische Linke erwarten: »Viele, aber nicht alle Antizionisten werden leider leicht zu Antisemiten«, etikettierte der Historiker Wolfgang Wippermann Norman Finkelstein, der sich nicht nur herausgenommen hatte, Goldhagen wegen dessen »ahistorischer monokausaler Lesart der Vergangenheit«, sondern auch den Klassenchauvinismus jüdischer bürgerlicher Rechter zu kritisieren: »Es ist gerade sein Selbstverständnis als linker amerikanischer Jude, das ihn anfällig macht«, lautete Wippermanns steile These über Finkelstein, die immerhin sein eigenes reichhaltiges Ressentiment-Repertoire offenbarte.

Eine »deutsche Lösung« für Serbien

»Goldhagen amnestiert die Bourgeoisie von Auschwitz sowohl für ihre früheren als auch für ihre jetzigen Verbrechen; er gibt die Schuld für das Grauen des Dritten Reichs nicht den imperialistischen Herrschern, sondern der gesamten deutschen Bevölkerung, und er stimmt in den Chor derjenigen ein, die das ›demokratische‹ Vierte Reich hochjubeln«, brachte eine trotzkistische Postille polemisch zugespitzt auf den Punkt, was Goldhagen für deutsche, bald auch für »antideutsche« und »antinationale« NATO-Patrioten so unwiderstehlich machte.

Wer die »Nationalsozialisten« nicht als Reaktionäre, sondern »gründlichste Revolutionäre der Moderne« begreift, die bürgerliche Gesellschaft nicht als kontingente Basis für immer neue Erscheinungsformen des Faschismus erkennt, sondern als dessen Antidot verklärt, wer die Klassenfraktur des NS-Staates ignoriert und die Westintegration und »Reeducation« ausgerechnet durch die USA – Initiator und Unterstützer zahlreicher autoritärer Regimes – als historische Errungenschaft betrachtet, der muss unweigerlich für »Menschenrechts«-Imperialismus zu begeistern sein.

Nur konsequent Goldhagens in der britischen Tageszeitung The Guardian veröffentlichte Forderung vom April 1999 die Bombardierungen Jugoslawiens sollten nicht aufhören, bevor eine »deutsche Lösung« durchgesetzt sei: Der Unterschied zwischen Hitler und Milosevic bestehe lediglich in der »Größenordnung« ihrer Verbrechen, meinte er. »Wären die Albaner, Bosnier, Kroaten, Europäer, Nordamerikaner und selbst die Serben besser dran, wenn Serbien von einem Saddam Hussein oder von einem Konrad Adenauer regiert werden würde?«, lautete Goldhagens rhetorische Frage, auf die er selbst die Antwort gab: »Um das Völkermorden zu beenden, muss die NATO Serbien besiegen, besetzen und umerziehen.«

Damals erntete Goldhagen u. a. dafür noch eine Menge Kritik aus der deutschen Linken. Viele versuchten aber auch mit allerlei ideologischen Verrenkungen zu trennen, was zusammengehörte: Goldhagens nur scheinbar radikal »antideutsche« Holocaust-Analysen und seinen Mythos von den neuen gerechten Kriegen der geläuterten Deutschen.

Spätestens nach einer von der Heinrich-Böll-Stiftung – begleitend zum Kosovo-Krieg – organisierten Konferenz für Goldhagen war klar, dass es nicht zuletzt um eine Abrechnung mit dem ging, was Sympathisanten wie Gerhard Scheit unter »abgehalfterter DKP-DDR-Geschichtsschreibung« verstanden. Aber die Faschismusforschung sollte nicht nur von Dimitroff gesäubert werden. Auch von Elementen der Kritischen Theorie, deren Antisemitismusanalysen durch »Ökonomismus«, den dringenden Verdacht, die Auftraggeber der NS-Verbrechen seien unter den wirtschaftlichen Eliten auszumachen, sowie die Hervorhebung des Klassencharakters Nazideutschlands unangenehm aufgefallen waren. Kurz: Man sah sie als einer »unguten Tradition des Marxismus verhaftet« an, wie der Konferenzteilnehmer und Chefankläger Matthias Küntzel betonte. Küntzel entblödete sich auch nicht, Franz Neumann, Autor von »Behemoth«, einer der bedeutendsten Faschismusanalysen, und den »offiziellen Vertretern des sozialistischen und kommunistischen deutschen Exils« ein »Urvertrauen in die deutschen Arbeiter« anzudichten und ihnen vorzuwerfen, »national« zu denken.

In derartigen Besudelungen von Antifaschisten, für die seinerzeit noch genuine Rechte verantwortlich zeichneten, hatte Reinhard Opitz bereits 1980 eine qualitativ neue »neoliberale Variante antikommunistischer Demagogie mit totalitarismustheoretisch konstruiertem Feindbild« erkannt: »Einst im Zeichen des Sozialismus gegen den wirklichen Sozialismus und alle demokratischen Kräfte; heute im Zeichen des ›Antifaschismus‹ gegen alle wirklichen Antifaschisten, abermals die wirklichen Sozialisten und wirklichen Demokraten.«

Tautologie statt Theorie

Der Goldhagen-Komplex lieferte revisionistischen deutschen Linken zur rechten Zeit die perfekte Exitstrategie. Mit »Hitlers willigen Helfern« waren sie gut gerüstet für ihren nicht mehr langen Marsch in den Abgrund des NATO-Korporatismus, der 1989/90 unausgesprochen beschlossene Sache, spätestens seit der Entdeckung von »Hitlers Widergänger« am Tigris 1991 Factum brutum war und mit 9/11 auf heuchlerischste Weise ideologisch legitimiert wurde.

»Die Goldhagen-Debatte war für alle spannend und hatte eine Art Initiationscharakter«, resümierte eine Redakteurin der Jungle World bereits 2000. Das Organ gehörte zu den treibenden Kräften, die rund ein Jahr später ungeniert im Namen von sechs Millionen ermordeten Juden die kapitalistische »Zivilisation« (dieselbe, die rund 50 Jahre vorher die Verdinglichung des Individuums zum Exemplar und dessen bürokratisch verwaltete Entsorgung in Todesfabriken gezeitigt hatte) zum Kreuzzug gegen den »Islamfaschismus«, »Umma-Sozialismus«, bald auch gegen den »Arbeiterbewegungsmarxismus« aufriefen – einhergehend mit einer politischen Kriminalisierung aller Linken, die sich dem NATO-Imperialismus in den Weg gestellt hatten.

2003 stellten Thomas Ebermann, Hermann Gremliza und Volker Weiß in dem Gesprächsband »Zweierlei Israel?« die Gleichung »Juden = Kapitalismus = Demokratie« auf, die sich gegen die 68er richtete. Das »antideutsch«-»antinationale« Trio attestierte der Bewegung, die gegen das große Schweigen zur deutschen Tätervergangenheit und den Vietnamkrieg auf die Straße gegangen war, dass sie Nazis in den eigenen Reihen und die Vision einer »antiwestlichen Front, das heißt die Vorstellung, mit der Roten Armee hinter die Oder zurückzufliehen und von dort den Kampf gegen die jüdische Demokratie aufzunehmen«, nicht »als störend empfunden« habe. Und sie entlarvten ganz unbeschwert, als hätte es die Hetze gegen den »jüdischen Bolschewisten« niemals gegeben, Antikapitalismus als Antisemitismus: »Der Antisemit guckt nach oben, und oben ist das Kapital.« Wenn es um die Verteidigung der »westlichen Moderne« geht (ein Derivat aus der seit Adenauer zur Routine geronnenen Praxis, »den Juden« zwecks Immunisierung des Kapitalismus gegen Kritik vor den Karren der »westlichen Wertegemeinschaft« zu spannen), dann sind auf sie eingeschworene Linke längst nicht mehr mit Adorno und Horkheimer der Meinung, dass der Kapitalist der »wahre Shylock« ist, sondern Shylock ist wieder der wahre Kapitalist.

Der auf bürgerliche Ideologie (inklusive philosemitisch gewendeten Antisemitismus) getrimmte, postmodern zugerichtete »Antifaschismus«, der die historisch-materialistische Geschichtswissenschaft von den Füßen auf den Kopf stellt, erhebt keine Einwände mehr »gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen« (Bert Brecht). Er richtet sich bestenfalls gegen die Barbarei, die von der Barbarei kommt, und ersetzt Kritische Theorie durch Tautologie: »Hinter dem Faschismus stehen überzeugte Faschisten – mithin also eine faschistische Ideologie, nicht das Kapital«, gab eine Gruppe Hamburger »Antinationaler« unlängst zum besten.

Vor allem gegen das »barbarische sozialistische Kollektiv« besinnt man sich auf die gute alte Zeit des Kalten Krieges: Während »in der Bundesrepublik die Präsenz der Westalliierten die Westbindung Konrad Adenauers forcierte, wurde in der nestwarmen Nischengesellschaft der DDR jener unheimliche Gemeinschaftsgeist konserviert und weiter kultiviert, der auch schon den Nationalsozialismus zur Massenbewegung werden ließ«, war von einem »antideutschen« Publizisten zu erfahren, der den »Nationalsozialistischen Untergrund« als »originäres Erbe der DDR« identifizierte.

Bekenntnis zur deutschen Staatsräson

Der »antideutsche« Circulus vitiosus schließt sich am Honigtopf der Regierungsbeteiligung. Mit der im »Reformer«-Lager der Partei Die Linke bejubelten Rede von Gregor Gysi 2008 für die Abkehr von Antiimperialismus und radikaler Israelkritik wurde deutlich: Wo ein instrumenteller Umgang mit der jüdischen Katastrophe herrscht, da ist das Bekenntnis zu NATO-Deutschland nicht weit. So forderte Gysi mit Angela Merkel »Solidarität mit Israel« als Teil der »deutschen Staatsräson« wegen der »deutschen Verantwortung« und stellte in Aussicht, dass für den Verzicht auf Änderung von wesentlichen »Wirklichkeitselementen« der Berliner Republik die Befriedigung des »Interesses an politischer Mitgestaltung« als Belohnung winkt. In diesem auf Tauschwertlogik basierenden Verständnis von »Israel-Solidarität« und Aufarbeitung deutscher Vergangenheit offenbart sich das neu-alte machtpolitische Kalkül von Adenauers »Wiedergutmachungs«-Politik, die Joseph Fischer mit einem deutschen Angriffskrieg krönte und ein von »antideutschen« Wendehälsen als Messias gehandelter Daniel Goldhagen für linken Aufklärungsverrat und rechte »deutsche Lösungen« ideologisch aufbereitet hatte.

Damit ist der Weg für eine emanzipative Solidarität mit Israel nicht als zionistischem, sondern demokratischem Staat aller seiner Bürger auf lange Sicht verbaut. Allemal für die wahrhafte Beseitigung des Antisemitismus in einer befreiten Gesellschaft, die ohne Klassenkampf und -bewusstsein, dass es ein (antisemitisches) »deutsches Wesen« ebensowenig gibt wie eine »jüdische Lobby«, nicht zu haben sein wird. »Der jüdische Kapitalist opfert vor der Gewalt ebenso wie sein ›arischer‹ Klassenkollege zuerst den eigenen Aberglauben, dann das Leben anderer und ganz zuletzt sein Kapital«, notierte Max Horkheimer in der »Dämmerung« des deutschen Faschismus. »Der jüdische Revolutionär setzt in Deutschland wie der ›arische‹ für die Befreiung der Menschen das eigene Leben ein.« Dass diese Erkenntnis heute verdrängt wird, gehört zu den zweifelhaften Verdiensten von Goldhagen. Seine Thesen müssen nicht mehr zitiert werden – sie sind längst von hegemonialen Kreisen innerhalb der Linken internalisiert worden. Raul Hilberg hat recht behalten mit seiner düsteren Prognose: Die »Wolke, die Goldhagen geschaffenen hat«, schrieb er 1997, »sie wird sich nicht so bald auflösen.«

Quelle: Junge Welt… vom 4. August 2016

 

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