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Griechische Aktivisten stellen sich gegen Tsipras

Eingereicht on 4. August 2016 – 14:54

Bruch mit SYRIZA nach Räumung besetzter Häuser in Thessaloniki / Hausprojekt »Leoforos Nikis 39« veröffentlicht Brief an Regierungschef.

John Malamatinas und Hamid Mohseni. Am 27. Juli wurden von der griechischen Polizei drei selbstverwaltete Häuser in Thessaloniki geräumt. Die Aktion fiel nicht zufällig auf diesen Tag: Das umstrittene »No Border Camp« (»nd« berichtete) war gerade beendet. In Griechenland begann die Ferienzeit. Die Räumungen haben die Bewegung daher hart getroffen. Derweil finden fast täglich Solidaritätsaktionen statt – von Neubesetzungen über Demonstrationen bis hin zu Angriffen von Unbekannten auf Büros der in Griechenland regierenden Linkspartei SYRIZA. Auch international gibt es Solidaritätsbekundungen mit der griechischen Bewegung, wie etwa in Dresden die Besetzung des Linksparteibüros oder in Wien und Frankfurt am Main vor griechischen Konsulaten.

Das Verhältnis zwischen der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken in Griechenland ist angespannt: Nachdem die einstige Bewegung SYRIZA bei Regierungsantritt im Januar 2015 eine Art Schonfrist erhielt, gab es erste Reibereien nach der Missachtung des Referendums und der Einigung mit den Gläubigern Griechenlands im Sommer vergangenen Jahres. In den jüngsten Räumungen in Thessaloniki sehen Aktivisten nun einen weiteren Bruch mit der Regierungspartei.

Der im Folgenden dokumentierte Brief ist die erste ausführliche Stellungnahme von einer der betroffenen geräumten Häuser. Das griechische Original-Dokument findet sich hier.

Offener Brief an Alexis Tsipras und seine Regierung

Im Morgengraun des 27. Juli fiel Deine Regierung in drei selbstverwaltete Besetzungen in Thessaloniki ein, in der Geflüchtete und Immigrant*innen lebten und aktiv waren. Während Du zudem 75 Sympathisant*innen festnehmen ließest, wurden die geräumten Geflüchteten wieder in die Lager zurückgeschickt, wo sie vorher untergebracht waren; einige dieser Lager waren bereits so überbelegt, dass sie diese Geflüchteten nicht wieder aufnehmen konnten. Also hast Du sie kurzerhand mitten im Nirgendwo ausgesetzt.

Weil die ebenfalls geräumten Besetzungen »Orfanotrofeio« und »Hurriya« über ihren eigenen politischen Ausdruck verfügen und wir nicht für sie sprechen können, wollen wir Dich zumindest als besetztes Haus »Leoforos Nikis 39« an einige Tatsachen erinnern, von denen Du sicher nicht das erste Mal hörst.

Das Haus »Leoforos Nikis 39« wurde in der Revolte vom Dezember 2008 geboren. Es war das erste Hausprojekt, welches Menschen aus dieser Bewegung mit großer Wohnungsnot ein Ort zum Leben und Aktivsein bot. Obwohl das Gebäude jahrelang leer stand, definierte es in seiner Nutzung als Ort der Bewegung das Konzept des öffentlichen Raums neu. Aus diesem Grund war das »Nikis« Anlaufpunkt für Hunderte AktivistInnen und DemonstrantInnen, nicht nur aus Griechenland, sondern aus der ganzen Welt. Als 2015 die sogenannte Flüchtligskrise entbrannte, öffnete das »Nikis« seine Türen, um den Geflüchteten und vor allem den Hilfsbedürftigsten unter ihnen – Familien mit Kindern – einen Ort des solidarischen Zusammenlebens auf Augenhöhe zu bieten. Gleichzeitig beteiligte sich das »Nikis« an einer Art Willkommenskultur aus öffentlichkeitswirksamer Arbeit und Volksküche, die seit der Errichtung des Geflüchtetencamps in Idomeni besteht und effektiv wirkt. Im Morgengraun des 27. Juli hast Du jene, die wie Tausende andere den Albtraum der Überquerung des Mittelmeeres in die Lager Griechenlands um jeden Preis überwinden wollen, wieder in diesen Albtraum gejagt.

Bevor Du die Macht übernommen hast, haben wir Dich in deren Hölle willkommen geheißen. Dort angelangt und ohne einen Weg zurück hast Du die Verantwortung, die Macht innezuhaben und zu führen, angenommen. Getrieben von Etatismus hast Du den Ruin Deiner Vorgängerregierungen weiter betrieben, denn Du hast entgegen Deiner Versprechen nicht wirklich etwas Neues erreicht. Dieser Ausnahmezustand hat Dich erobert, denn er kann nicht von dort, wo Du stehst, rückgängig gemacht werden. Dein Motto »das erste Mal links« stimmt, aber nicht wie Du es grenzübergreifend verkauft hast, sondern aus unserer Erfahrung heraus: Alles, was die Regierungen rechts von Dir nicht gewagt haben auszuführen, hast Du unter Entschuldigungen und Ausreden durchgeboxt. Du sagtest einst, Du stehst für jedes Wort der griechischen Verfassung. Mehr und mehr stehst Du aber vor allem für jedes Wort der harten Keule des Gesetzes.

Für diese von Dir angenommene Rolle hast Du viele Verbündete und Clowns um Dich herum geschart. Mit Deiner klaren Positionierung für den Grenzzaun in Evros, Deiner Anerkennung der Türkei als »sicheres Herkunftsland« und Deiner staatlichen Verwaltung der »Flüchtlingskrise« in Form von der Errichtung von unzumutbaren Lagern hast Du die Streitlust der zähnefletschenden Ultrakonservativen geweckt. [Giannis] Boutaris [A.d.Ü.: Bürgermeister von Thessaloniki], [Georgios] Kaminis [AdÜ: Bürgermeister von Athen], der Direktor der Aristoteles Universität in Thessaloniki und die orthodoxe Kirche stellen sich auf Deine Seite und unterstützen Dich.

Wir haben gesehen, wie Du mit der Räumung des Camps in Idomeni und Kriminalisierung sämtlicher Unterstützer*innen den Solidaritätsstrukturen den Kampf angesagt hast. Schließlich hast Du realisiert, dass sich Solidarität mit den Geflüchteten weit abseits von Dir, der staatlichen wie auch der an Euch nahen nichtstaatlichen Organisationen bildet, und Du hast sofort zugeschlagen. Aber die Krankheiten und der Tod ereignen sich in eben Deinen, staatlichen Strukturen. Oder was verstehst Du nicht am Tod einer 27-jährigen Frau im Camp »Sofitex«? [A.d.Ü. am 28. Juli starb eine geflüchtete Frau, nachdem der Krankenwagen über zwei Stunden zu diesem weit abgeschnittenen Lager gebraucht hatte.]

Uns ist bewusst, dass der Schlag gegen die Besetzungen in Thessaloniki die staatliche Antwort auf das »No Border Camp« war. Wir wissen auch, dass Du hinsichtlich der Geflüchteten unbedingt solidarisch sein willst, das geschieht aber in Form von besagten Camps. Deswegen setzt Du mit [Nikos] Toskas [A.d.Ü.: SYRIZA, Vizeminister für öffentliche Ordnung und den Schutz des Bürgers; Militärkarriere, gilt als Law-and-Order-Hardliner] ein Schlachtross ein. Aber wahrscheinlich ist es Dir egal, dass wir weder RomantikerInnen noch Lifestyle-Rebellen sind.

Selbstverwaltung und deren Strukturen, eine partizipative Solidarität auf Augenhöhe für eine Welt ohne ein »Anderes«, direkte Demokratie, soziale Gerechtigkeit und der Kampf für sozialen Antiautoritarismus – all das lebt, und all das steht gegen Dich. Wir sehen uns auf der Straße.

P.S.: Was sonst sollen wir zu jenen sagen, die sich von politischen Persönlichkeiten zu pragmatischen Handlangern des Autoritarismus transformieren?

Squat »Leoforos Nikis 39«

Mihalis Haritelis

Odysseas Dermatas

Sandra Hook

Dionisis Koutloglou

Grigoris Tsilimantos

Nikos Hatzis

Niki Dimitriadi

Anna Karageorgiou

Xanthi Parashidou

Olga Papadimitriou

Mihalis Vlahos

Markos Proveleggios

Vasilis Papadopoulos

Quelle : neues-deutschland.de… vom 3. August 2016

 

 

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