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Das Putin-Regime aus der Sicht der Russischen Sozialistischen Bewegung

Eingereicht on 4. September 2016 – 17:08

Die Herausbildung des putinschen «patriotischen Konsenses» und die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten.

Seit bald einem Vierteljahrhundert steckt Russland in einer historischen Sackgasse. Die Unmöglichkeit einer harmonischen Weiterführung der alten Formen sozialer und sozialer Entwicklung hat 1993 zu einem Auseinanderbrechen der verfassungsmässigen Ordnung geführt.  Die sich ergebenden Konsequenzen in den darauffolgenden Dezennien waren die soziale Regression und die Zerschlagung der Institutionen, die die Existenz von Millionen organisiert hatten. In den späten 1990er-Jahren hat sich das Regime Putins als Kompromiss durchgesetzt, um die neue soziale Architektur zu bewahren und gleichzeitig eine soziale Massenerhebung zu verhindern; dabei wird das Regime des Marktes vertieft und gleichzeitig die Rolle des Staates gestärkt.

I.

Der Sieg Putins bei den Präsidentschaftswahlen vom März 2012 markierte eine konservative Wende des Regimes. Es definierte sich fortan als nationaler Konsens um die Person des Präsidenten. Die aggressive Reaktion auf die Kiewer Maidan-Bewegung, die Annexion der Krim und die «hybride» Intervention in der Ost-Ukraine geschahen mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen der staatlichen Macht und der Gesellschaft umzugestalten. In diesem Sinne haben die Ereignisse von 2014 die alte Formel von Clausewitz bestätigt: «Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik …». Seitdem wird die Unterstützung des Regimes nicht mehr als rationale Wahl, sondern als Bürgerpflicht dargestellt, eine Art von patriotischer Frömmigkeit gegenüber dem eigenen Land.

Dieser neue ideologische Gehalt wurde von Wjatscheslaw Wolodin kurz und bündig formuliert: «Mit Putin existiert Russland, ohne Putin kein Russland». Eine derartige Personifizierung bedeutet tatsächlich, dass Putin als symbolische Vaterfigur über der Alltagspolitik steht. Man mag liberal oder nationalistisch sein, für eine staatliche Kontrolle der Wirtschaft oder für den freien Markt sein, den Rücktritt einzelner Minister aus der Regierung oder einiger Gouverneure fordern: der Nexus «Putin, Krim, Russland» darf weder in Frage gestellt noch diskutiert werden. Diejenigen, die davon grundsätzlich abweichen, stellen sich schlicht und einfach ausserhalb der Grenzen des russischen politischen Spektrums und werden damit zu «Landesverrätern».

Gemäss dieser Logik liegt die Verantwortung für den starken Rückgang des Lebensstandards und der unheilvollen Konsequenzen der neoliberalen Massnahmen zur Krisenbekämpfung bei allen, wer immer dies auch sei – ausser beim Präsidenten. Selbst jetzt, wo die Wirkung der Propaganda über die «Heimkehr» der Krim eindeutig stumpf zu werden beginnt, bleibt das persönliche Ansehen von Putin unverändert hoch. Die Unterstützung der amtierenden Regierung steht ausser Frage und ist eine Bürgerpflicht. Und die Frage des Status der Krim verdrängt die Frage nach den wirklichen Eigentümern unseres Landes vollständig.

II.

In diesem Rahmen ideologischer Veränderungen der Machtstruktur erfolgen die Vorbereitungen der Parlamentswahlen vom September 2016.

Für die gesamte Ära Putin waren die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Teil eines einzigen politischen Zyklus, der nach einem einheitlichen Szenario ablief: Der triumphale Sieg der Partei «Einiges Russland» sollte den noch eklatanteren Sieg von Wladimir Putin vorwegnehmen und garantieren. Im Dezember 2011 scheiterte dieser Mechanismus: Der Wahlbetrug im grossen Stil zugunsten von «Einiges Russland» hatte immense Demonstrationen ausgelöst, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihrer Empörung über das gesamte politische Regime freien Lauf liessen.

Heute weist die neue politische Logik einer «dritten Amtszeit» Putins auf einen Bruch mit diesem Zyklus hin. Im Zusammenhang einer starken Abnahme des Vertrauens in die Regierung entschied der Kreml im Sommer 2015, die Parlamentswahlen vom Dezember 2016 in den September vorzuziehen und die Präsidentschaftswahlen auf den März 2018 hinauszuschieben und so die Mandatsdauer des Präsidenten auf sechs Jahre auszudehnen. Der Sinn dieses Manövers liegt auf der Hand: Fortan sollen die Parlaments- und die Präsidentschaftswahlen nicht mehr die beiden Teile des gleichen politischen Zyklus, sondern zwei vollständig getrennte politische Unterfangen sein. In einem ersten Durchgang werden die wenigen Parteien, die die Sinfonie des «patriotischen Konsenses» ausmachen, die Regierung und ihre Gegner kritisieren und unter sich wetteifern, wer am ehesten die Sympathie der unzufriedenen Sektoren der Bevölkerung auf sich ziehen kann. In einer zweiten Phase wird dann die Unterstützung für Putin für das Präsidentenamt vom «organischen» patriotischen Geist abhängen.

Bereits heute konzentriert sich die «offizielle Opposition» – die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) und «Gerechtes Russland» – in ihrer Wahlkampagne auf eine herbe Kritik an der Regierung und verlangt geradeheraus deren Demission. Beide Parteien sind vom Kreml gelenkt und dienen als Barometer für die tolerierte Kritik. Gennady Zyuganov und Sergey Mironov haben alle wichtigen politischen Initiativen des Kremls unterstützt: von den neuen repressiven Gesetzen gegen «ausländische Agenten» bis zur militärischen Unterstützung des Regimes von Bashar al-Assad in Syrien. Gleichzeitig wenn sie sich als linken Flügel des politischen Spektrums darstellen, prunken sie mit dem breiten Spektrum von Auffassungen innerhalb des putinschen Konsenses auf, das die Kritik an unpopulären Entscheiden zulasse. Angesichts des Anstiegs der sozialen Unzufriedenheit, die vor allem noch passiv ist, kann die Partei «Einiges Russland», die nicht nur die Regierung anführt, sondern auch die absolute Mehrheit der Gouverneure stellt, zum rituellen Sündenbock werden.

Trotzdem könnte dieses vorhersehbare vom Kreml entwickelte Szenario durch ein anderes überlagert werden, das mit den sich verstärkenden militärisch-polizeilichen Strukturen und der wachsenden Konkurrenz zwischen den Ministerien zusammenhängt. Dieser Prozess, der durch die Schaffung der Nationalgarde eingeleitet wurde, wird an Bedeutung gewinnen: Jede an der Macht beteiligte Struktur wird ihre eigene Strategie für ihren Aufstieg entwickeln; nicht nur, um sich bemerkbar zu machen, sondern um gegenüber den anderen Ministerien ihre einzigartige und unverzichtbare Kampffähigkeit gegen die mögliche Bedrohung zu demonstrieren.

Beispielsweise hat Alexander Bastrykin neulich in einem programmatischen Artikel vorgeschlagen, die Wahlen abzusagen, die zu risikoreich sein könnten. Er ruft entschieden dazu auf, damit aufzuhören, «der demokratischen Farce zuzuarbeiten»; es sei Zeit, den Feinden «im Hinblick auf die nächsten Wahlen … eine entschlossene, angemessene und symmetrische Antwort zu erteilen». Mit der Ernennung von Tatiana Moskalkova zur Kommissarin für Menschenrechte scheint auch der Mediations-Apparat für Menschenrechte, der bislang neutral war, sich in eine neue Hochburg des Kampfes gegen Verschwörungen verwandelt zu haben.

Offensichtlich hängt dieses Herumgefuchtel damit zusammen, dass die Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Krise momentan keine sichtbaren politischen Folgen hat: Es gibt weder spontane Massenaufstände, noch Streiks über ganze Sektoren hinweg, wenn auch das Volumen der Arbeitskonflikte insgesamt zunimmt.

Die Einbusse des Einflusses der gewählten Organe in der Verwaltung der Russischen Föderation zugunsten der ernannten hohen Funktionäre, die die Interessen der Exekutive repräsentieren, ist integraler Bestandteil der Verschlimmerung des gesamten politischen Systems. Die Gemeindereform von 2014 passt sehr gut in dieses Bild, wo der Bevölkerung die Kontrolle über die Macht der Behörden entzogen wird, und lokale politische Eliten eingesetzt werden, die im Einklang mit den Unternehmern agieren. Damals wurde die direkte Volkswahl für die Bürgermeister einiger grosser Städte abgeschafft und man hat die Gemeindeversammlungen des Rechts beraubt, die Wahlmodalitäten für die Vorsteher der Stadt und der Quartiere festzulegen. Im Zusammenhang der Budgetzuteilung durch das Zentrum der Föderation und der Machtkonzentration in den Händen der unabsetzbaren lokalen Chefs, den «kleine Fürsten», die nicht im Geringsten gegenüber der lokalen Bevölkerung verantwortlich sind, gewinnt das Modell der repressiven putinschen Regierung an Breite.

III.

Die sozialen Folgen der Krise sind mittlerweile bei der Mehrheit der Bevölkerung angekommen. Die Propaganda, die die Lage mit den Machenschaften des Westens erklärt, hat immer weniger Überzeugungskraft. Die Einführung der internationalen Sanktionen und der 2014 einsetzende Einbruch der Erdölpreise hat den Rückgang der Produktion beschleunigt, der bereits 2012 begonnen hat. Zudem hat Premierminister Medwedew Ende 2014, während der Einbruch des Rubelkurses an den internationalen Märkten seinen Tiefpunkt erreicht hatte, eingestanden, dass Russland «noch nicht aus der Krise von 2008 herausgefunden habe». Die weltweite Krise hat sich nicht nur auf die Schwäche der russischen Wirtschaft ausgewirkt, sondern hat den langsamen Zusammenbruch des gesamten Systems des postsowjetischen Kapitalismus hervorgerufen; dies wiederum hat zu einer neuen Stärkung des Regimes und der militärischen Aktivitäten des Landes geführt. Desgleichen wurde der Handlungsspielraum der Regierung seit 2014 durch den starken Rückgang der Erdöleinnahmen zusammen mit der Blockade, die die Refinanzierung der russischen Banken im Westen verunmöglicht, stark eingeschränkt. Die frühere Strategie – die Löcher in der Wirtschaft mit Hilfe der enormen Reserven zu stopfen – ist nun nahezu erschöpft. Von daher macht die Tiefe der aktuellen Krise die Perspektive einer Katastrophe realistischer.

Beispielsweise wurde Ende 2015 die Abschwächung der russischen Konjunktur durch einen Rückgang des BIP um 3,7 % klar ersichtlich. Die Inflation erreichte 15,5 % (mit einer Spitze von 16,9 % im März 2015). Im Verlauf dieser kurzen Zeitspanne erreichte die Armutsrate eindrückliche Werte: Die Anzahl Personen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze ist von 16,1 auf 19,2 Millionen angestiegen, was 13,4 % der Bevölkerung entspricht. Dabei bleibt festzuhalten, dass im Verlaufe des vergangenen Jahres die offizielle Armutsgrenze von der Regierung auf 9´452 Rubel Einkommen pro Monat festgesetzt wurde, was ungefähr 123 Euro entspricht. Und all die vielen Leute, deren Einkommen nur leicht über dieser lächerlichen Zahl liegt? Überdies haben gemäss einer neuen Umfrage habe 73 % der Russen keine Ersparnisse «für schwierige Zeiten» angelegt und verbrauchen den gesamten Lohn nur schon mal für das Allernötigste.

Die Arbeitslosenzahlen sind beim ersten Hinsehen nicht mal so schlecht: Die offiziellen Statistiken weisen eine Rate von 5,8 % aus, was etwa 5,4 Millionen Personen entspricht. Diese Daten schliessen auch diejenigen ein, die aktiv eine Anstellung suchen, ohne dass sie als arbeitslos registriert wären. Gleichzeitig ist die Zahl der offiziell als ohne Beschäftigung ausgewiesen sind um 70´000 angewachsen, was gemäss dem statistischen Amt Rosstat 6 % der Beschäftigten ausmacht. Die andauernd schwache Zunahme der ausgewiesenen Arbeitslosigkeit in einer Situation des schnellen Niederganges des Lebensstandards kann mit Massnahmen der Regierung erklärt werden, die auf eine Aufrechterhaltung von formaler Beschäftigung – mittels Lohnkürzungen und Verkürzung der Arbeitszeit – abzielt. Ein häufiges Mittel dazu ist gerade in grossen Industriebetrieben ein langer, unbezahlter Urlaub. Die «Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität» ist ein wichtiges Motiv hinter dieser Politik – nicht so sehr in den grossen Metropolen, wo es im Falle einer Entlassung eher möglich ist, eine neue, schlecht bezahlte Stelle zu finden, als viel eher in den sogenannten «mono-industriellen» Städten, die in der Sowjetzeit um Pilot-Industrien herum gebaut wurden. Kommt es in diesen Fabriken zu Entlassungen, wird ein grosser Teil der städtischen Bevölkerung sofort zu Langzeit-Arbeitslosen; diese Städte könnten dann zu Brennpunkten von sozialen Explosionen werden.

Der Widerspruch zwischen der Beibehaltung der Arbeitsplätze (um den plötzlichen Zusammenbruch der Einnahmen der Bevölkerung zu verhindern) und dem Durchziehen einer Austeritätspolitik gegen die Auswirkungen der Krise prägte über die vergangenen zwei Jahre die Grundlage der Haushaltspolitik Russlands. Als der Haushalt für 2016 verabschiedet wurde, erklärte der Premierminister Medwedew: «Wir werden dieses Budget nicht einhalten können ohne eine Einschränkung der Ausgaben, und wir können dies nicht wie schon zu oft durch eine weitere Erhöhung der Steuerlast der Unternehmer lösen. Sondern nur durch dadurch, dass wir die ineffizienten Ausgaben kürzen.» Zu solchen ineffizienten Ausgaben zählt Medwedew beispielsweise die Indexierung der Pensionen. So wird deren vollständige Abschaffung für alle noch arbeitenden Pensionierten – etwa 14,9 Millionen – vorgeschlagen, nebst einer Deckelung der Indexierung der Pensionen bei 4 %. Dies bei einer vorgesehenen Inflation von mindestens 10 % für das laufende Jahr. Daneben ist die Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre eines der wichtigsten angestrebten Instrumente, um den negativen Staatshaushalt zu bekämpfen. Die Umsetzung dieser Massnahme jedoch wird aus offensichtlichen Gründen auf die Zeit nach den Parlamentswahlen hinausgeschoben, wenn nicht nach den Präsidentenwahlen; die Rentner und Rentnerinnen machen mittlerweile mit 41,4 Millionen Personen fast einen Drittel der Bevölkerung aus.

Der Mechanismus der automatischen Indexierung der Löhne ist im privaten Sektor im Arbeitsgesetz nur schwach ausgebaut und besitzt faktisch nur den Charakter von «Empfehlungen», und muss in den Kollektivverträgen geregelt werden, die nur in grösseren Unternehmen vorhanden sind. In den letzten beiden Jahren haben die Beschäftigten des öffentlichen Sektors keinen Teuerungsausgleich erhalten. Es ist aufschlussreich, dass die Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor (die die Inflationsverluste nicht abdecken können) von der Regierung auf den Herbst 2016 geplant sind und unmittelbar vor den Wahlen offensichtlich für propagandistische Zwecke benutzt werden.

Obgleich der Haushaltsplan für 2016 mit bedeutenden Abstrichen bei der Bildung und in der Gesundheit auf die Austeritätspolitik ausgerichtet war, wurde er nur wenige Monate nach seiner Annahme um weitere 10 % gekürzt. Die eigentliche Struktur der Staatseinnahmen, wo die Erlöse aus dem Export von Erdöl und Erdgas bis zu 70 % ausmachen, werden fortan weitere Haushaltskürzungen zur Folge haben.

IV.

So wie es aussieht, hat die putin’sche Führungselite keinerlei langfristigen Plan, um die nationale Wirtschaft in Gange zu halten. Die angewandten «Antikrisen-Massnahmen» deuten eher in Richtung einer Bewahrung des sozialen Status quo bis zu einer natürlichen Erholung beispielsweise des Erdölpreises. Der grenzenlose Zynismus der Führung geht auf abenteuerliche Art einher mit einem beinahe mystischen Glauben an die «unsichtbare Macht des Marktes», der die Lage retten würde, wie bereits zu Beginn der 2000er-Jahre. Damals erschien die Explosion der Erdölpreise als wahres Geschenk der Vorsehung. Schnell nach dem «Schwarzen Mittwoch» vom Dezember 2014, als der Rubel um 15 Punkte abgestürtzt war, schien Wladimir Putin mit seiner Aussage recht ehrlich, dass «das Wachstum unvermeidlich sei, vor allem da das ökonomische Umfeld im Ausland sich ändern werde».

Die Logik der «Megaprojekte» – prioritäre Projekte unter persönlicher Verantwortung von hohen Regierungsbeamten und ehrgeizigen Zeitvorgaben, die die Mittel und die Anstrengungen des bürokratischen Apparates auf sich konzentrieren (wie beispielsweise die olympischen Winterspiele in Sotschi, die Einverleibung der annektierten Krim, der Bau des Kosmodroms von Wostotschny, u.a.) – ist ein zentraler Aspekt des Putinismus. Gigantische Baustellen, die nach der Mitte der 2000er-Jahre lanciert wurden und die immense Geldmittel aus dem Staatshaushalt verschlingen, werden als Instrumente zur sozialen Verwendung der Erlöse aus dem Erdölgeschäft dargestellt: Ein jedes der Projekte bringt die Schaffung von Arbeitsplätzen und Investitionen in die Infrastrukturen mit sich, was auf einen positiven ökonomischen Effekt hinauslaufen sollte. In Wirklichkeit wirken sich die Vorteile dieser grossen Projekte zugunsten der grossen Unternehmen aus, die die Aufträge und eine staatliche Bankgarantie erhalten; was die geschaffenen «Arbeitsplätze» angeht, so stellen sie recht bald für die Arbeiterinnen und Arbeiter eine Falle dar, da sie unter dem Druck der Unternehmer und der Maschine der staatlichen Bürokratie nicht einmal mehr ihren eigenen Rechte verteidigen können. Dies ist auf besonders schreiende Weise gerade bei den Arbeiten um die Baustellen der olympischen Winterspiele in Sotschi und des Kosmodroms in Wostotschyn sichtbar geworden.

Kurzum, das Konzept der Megaprojekte, die vom russischen Staate als das Instrument dargestellt wird, die Erlöse aus dem Erdölgeschäft unter die Bevölkerung zu verteilen, enthüllt sich in Wirklichkeit als eines der Instrumente, um eine mikroskopisch kleine Elite auf Kosten der breiten Bevölkerung zu bereichern. Selbst die Propagandisten schaffen es noch, die Aufmerksamkeit auf die «Erfolge» solcher Projekte zu konzentrieren (Dank der Autorität ihres wichtigsten Förderers, des Präsidenten der Russischen Föderation) und über deren katastrophalen Perversität hinwegzusehen. So werden die Massnahmen der Regierung «zur Bekämpfung der Krise» vor allem durch den Willen diktiert, koste es was es wolle, die Wiederwahl von Putin im Jahre 2018 sicherzustellen. Was aber geschieht dann? Gegenwärtig kümmert das nur wenige.

Gleichzeitig zeichnet sich deutlich eine andere neoliberale Logik hinter allem ab: Die wirtschaftliche Rezession und die Verarmung der Bevölkerung zu nutzen, um «Strukturreformen» durchzusetzen, die die sozialen Normen und die Arbeitskosten radikal hinunterdrücken. So sollen gemäss Schätzungen von Experten der staatlichen Vnesheconombank [Entwicklungsbank] der unvollständige Teuerungsausgleich und die anhaltend tiefen Löhne dazu führen, dass 2017 bis 2018 der Anteil der Bruttoprofite grösser sein wird, als derjenige der Masse der Löhne und das Land somit attraktiv werden würde für Investoren.

Damit verbunden sind die Diskussionen über eine mögliche Privatisierung von wichtigen staatlichen Ressourcen, wie etwa der Eisenbahn oder der Sberbank, der grössten Bank Russlands. Es ist kein Zufall, dass – während die Sanktionen aufrechterhalten werden – als sich im März 2016 Delegationen der IWF und die Weltbank in Moskau trafen, diese die «Anti-Krisen Massnahmen» der russischen Regierung in hohen Tönen gelobt haben. Die neuerliche Ernennung von Alexej Kudrin in den dem Präsidenten nahestehenden Wirtschaftsrat gehört ebenfalls in diese Grundausrichtung.

V.

Dabei muss betont werden, dass die Suche nach neuen Einnahmequellen des Staates im Zusammenhang einer sich vertiefenden Krise und von fallenden Erdölpreisen sich immer mehr in eine Militarisierung der Wirtschaft und als Folge davon in eine aggressive Aussenpolitik überträgt. Im Verlaufe der vergangenen Jahre stellten gross angelegte Investitionen in die Waffenproduktion eine der Hauptprioritäten der Regierung dar; so werden die geplanten Militärausgaben im Jahre 2016 4 % des BIP erreichen, 0.8 % mehr als 2015. Die Intervention in Syrien hat, ganz abgesehen von den aussenpolitischen Zielen, ganz klar die Aufgabe erfüllt, Propaganda für die neuesten militärischen Erfindungen zu machen. Eines der Resultate waren denn auch Aufträge von Indien, Algerien und anderen Ländern, die sich insgesamt auf 7 Milliarden Dollar belaufen und vor allem Jagdbomber und Militärhelikopter umfassen.

Weder die «hybride» Aggression in der Ukraine noch die militärischen Operationen in Syrien sind nur als geopolitische Spiele und als Bestreben, sich gegenüber dem Westen behaupten zu können erklärbar. Sie sind vielmehr direkt verbunden mit der sich verschärfenden Krise des gesamten politischen und ökonomischen Systems des russischen Kapitalismus. Die gewählten kriegerischen Optionen sind darauf angelegt, die Legitimation der Macht im Inneren des Landes zu stärken – und zwar in der breiten Bevölkerung wie auch innerhalb der Führungselite.

VI.

Eines der bis vor kurzem wichtigsten tragenden Elemente des «patriotischen Konsenses» ist die Kriminalisierung aller sozialen oder politischen Unzufriedenheit gewesen. Die massive «Anti-Ukraine» Propaganda, die die Regierungsmedien seit Anfang 2014 füllt, hat den Akzent systematisch auf die Verbindung zwischen einer breiten Protestbewegung und der Unvermeidbarkeit von Chaos und Verarmung gelegt. Das klassische konservative Argument der «Sinnlosigkeit»[i], gemäss dem die bestmögliche Befriedigung der breiten Bevölkerung schlussendlich nur die soziale Lage verschlechtern kann, wird seit je her angewandt. Ein anderer Aspekt desselben Argumentes besteht darin, die sozialen Konflikte auswärtigen Mächten in die Schuhe zu schieben: Hinter jedem dieser Konflikte würden sich fremde Interessen verstecken, die Lage im Lande zu destabilisieren, um letztendlich einen Regimewechsel herbeizuführen, der katastrophale Konsequenzen für die nationale Unabhängigkeit des Landes habe. Jeder Streik oder jede soziale Bewegung wird sofort gedeutet als «Versuch, einen neuen Maidan zu organisieren». Obendrein hat die neue «Nach-Krim-Rhetorik» des Kremls die Position der lokalen Chefs im Staat und den Unternehmen gestärkt. Um ihre Macht zu bewahren, genügt es, irgendeinen politischen Konkurrenten als Agenten einer subversiven revolutionären Macht zu denunzieren. Diese propagandistische Formel hat erst seit Ende von 2015 an Wirkung eingebüsst.

Die Proteste gegen die mannigfachen Manifestationen der Krise und der «Anti-Krisen»-Politik der Regierung nehmen nun zu, obschon sie noch weit entfernt von der Formulierung eines eigenen alternativen Programmes wie auch einer Koordination der Aktionen auf nationaler Ebene sind.

Deren bedeutendste war der Protest der Lastwagenfahrer, die im November 2015 begonnen wurde.[ii] Von Anfang an nahm die Regierung eine unmissverständliche Haltung ein: In dieser Frage soll keinerlei Zugeständnis gemacht werden und die Höhe der Steuer soll unter keinen Umständen geändert werden. Der sehr starke politische Druck, aber auch das Fehlen einer starken Organisation der Lastwagenfahrer, die ihre Bewegung unter schwierigen Umständen hätte koordinieren können, führten zu deren allmählichem Erlöschen.

Seit 2015 nimmt die Zahl der Proteste der Lohnabhängigen – als spontane Aktionen oder organisiert durch unabhängige Gewerkschaften – gegen Stellenabbau oder gegen Lohnkürzungen oder Lohnrückstände zu. Beispielsweise hat sich im vergangenen Jahr die Zahl der Proteste im Vergleich mit 2014 um 40 % erhöht. Unter den Streikenden (eintägige Streiks oder ähnliche Aktionen) befinden sich Arbeiter und Arbeiterinnen aus Grossbetrieben aus dem Industriebereich, aus dem öffentlichen Sektor (Spitäler, Gemeindeangestellte), aus dem Dienstleistungsbereich und auch aus Waffenfabriken.

Die Oppositionsparteien, die Teil des «patriotischen Konsenses» sind, wie die KPRF und «Gerechtes Russland», spielen eine wichtige Rolle, um die Teilnehmenden an solchen bislang verstreuten Aktionen zu desorientieren. Es gibt keine starke Organisation der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich auf deren Seite im Kampf engagiert; diese suchen sich deshalb politische Vermittler, die über entsprechende Mittel verfügen und von daher offensichtlich in das System integriert sind und imstande, ihre Forderungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Der Kreml ist erkennbar auf der Suche nach einem solchen «Sicherheitsventil», das in den 1990er-Jahren häufig durch die Kommunisten wahrgenommen wurde; diese Absicht ist organischer Teil in der Logik der laufenden Wahlkampagne, wie sie durch das Operetten-Parlament in Gang gesetzt wurde.

Die liberale Opposition ihrerseits, die sich grundsätzlich ausserhalb des institutionellen politischen Systems befindet und auf der Notwendigkeit einer radikalen demokratischen Transformation des Systems beharrt, bleibt vom wachsenden sozialen Zorn isoliert. Dies hängt in erster Linie mit ihrer politischen Tradition und ihrer gesellschaftlichen Natur zusammen. Im Kielwasser der «liberalen Reformer» der Yeltsin-Ära haben einige ihrer Führer wie etwa Michail Kas´janow und Alexej Naval´nyj geglaubt, dass der Schlüssel für Veränderungen vor allem im wachsenden Unmut von Sektoren des mittleren und des grossen Kapitals liege. Überdies gesteht Kas´janow – wie der politische Emigrant Chodorkowski – die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit Exponenten des liberalen Flügels des putinschen Establishments in einem «freien Russland» ein, beispielsweise mit dem ehemaligen Finanzminister Alexei Kudrin, der gegenwärtigen Chefin der Zentralbank Elvira Nabulliana und dem Direktor der staatlichen Bank Sberbank Herman Gref. Die Forderung nach einer Entfernung der korrupten Funktionäre und nach einer demokratischen Veränderung des Systems sind für die radikal-liberale Opposition eng verbunden mit der Anerkennung der Notwendigkeit von «Strukturreformen» und der Einstellung des Konfliktes mit dem Westen. Die Zerschlagung des persönlichen Regimes [von Putin] scheint für sie eher die Form einer Änderung an der Spitze anzunehmen, in Zusammenarbeit mit der gegenwärtigen Führungselite, währenddessen sie die breiten Massenbewegungen eher als sekundären Druck-Faktor einstufen.

VII.

Die radikale Linke, die nicht Teil der «patriotischen Konsens»-Opposition noch der liberalen Fronde ist, muss versuchen, Verbindungen zu dieser wachsenden Bewegung sozialer Proteste herzustellen, die vorläufig weder auf organisatorischer noch auf politischer Ebene strukturiert ist. Das Problem jedoch besteht darin, dass auch diese radikale Linke sich selbst in einem Prozess des Niedergangs befindet. Einige ihrer vielbeachteten Persönlichkeiten, beispielsweise Sergei Udal´cov und Alexei Gaskarov sind noch im Gefängnis. Zudem haben die Ereignisse in der Ukraine ihrerseits auch zu einer tiefen Spaltung in der Linken geführt, wovon ein Teil sogar die russische Intervention befürwortet hat.

In dieser Situation müssen wir darangehen, ein umfassendes Programm für die Veränderung auszuarbeiten, ausgehend von der Notwendigkeit einer Neuregelung der aktuellen Eigentumsverhältnisse, die das Ergebnis der Privatisierungen von Yeltsin und Putin sind. Die natürliche Konsequenz einer solchen Neuregelung besteht in der Notwendigkeit der Zerschlagung des gesamten politischen Systems, wie es mit der ultra-präsidialen Verfassung von 1993 entstanden ist. An dessen Stelle muss eine parlamentarische Republik errichtet werden. Ein solches Programm sollte die Anerkennung des Wertes der politischen Demokratie nicht nur als Instrument garantieren, sondern als Grundprinzip der Volksmacht, das für die kohärente Verwirklichung des Strebens nach sozialer Gleichheit unverzichtbar ist.

Die Krise verschärft sich, wie auch die anhaltende Schwächung des Zaubers des «patriotischen Konsenses»; dies eröffnet neue Möglichkeiten, die demokratische und sozialistische Politik weiterzubringen: Die Taktik der Interventionen der Linken in die weiteren Entwicklungen der aktuellen Lage müssen auf der Grundlage der obigen Analyse und der aufgezeigten strategischen Ziele vorgenommen werden.

Politische Resolution des VI. Kongresses der Russischen Sozialistischen Bewegung (RSB) in Moskau vom 8. und 9. Mai 2016. Russisches Original unter http://anticapitalist.ru/documents/rezolyuczii/politicheskaya_rezolyucziya_vi_sezda_rsd.html

Diese Version wurde von der Redaktion maulwuerfe.ch aus dem Italienischen unter antoniomoscato… vom 15. August 2016 übersetzt.

[i] Das Argument stützt sich auf die selektive Wahrnehmung der sozialen Erhebungen: Weil die Macht in der Ukraine beispielsweise von einer kleinen Gruppe aus der unpopulären Führungsschicht übernommen wurde, wird sich dies in allen zukünftigen Revolutionen wiederholen; somit werden alle Versuche, die Gesellschaft zu verändern, als sinnlos, ja geradezu als schädlich dekretiert. Um die Sinnlosigkeit von Veränderungen aufzuzeigen, werden stets Beispiele von Revolutionen herangezogen, die in einer Restauration geendet haben. Auf diese Weise werden die positiven Auswirkungen sozialer Veränderung nie in Erinnerung gerufen. [Anmerkung der RBS, die der Resolution beigefügt wurde]

[ii] Es ging dabei um eine Bewegung gegen die Fixierung der Kilometersteuer auf 3,73 Rubel / km, die für die Fahrzeuge über 12 Tonnen ab dem 15. November 2015 gelten sollte, die sogenannte «Platon» (Abkürzung für Russisch «palty za tonu» = bezahlen je Tonne). Die Taxe wird von RT-Invest Transportnye Systemy erhoben, für diesen Zweck von Igor Rotenberg, dem Sohn eines Freundes von Putin und von dem staatlichen russischen Unternehmen Rostec (das 900´000 Personen beschäftigt) gegründet. RT-Invest Transportnye Systemy soll 29 Milliarden Rubel investiert haben, wovon 27 Milliarden von der öffentlichen Bank Gazprombank ausgeliehen wurden, die ihrerseits von Putin-nahen Personen geführt wird. [Anmerkung von der französischen Inprecor]

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