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Die brasilianische Tragödie

Eingereicht on 7. September 2016 – 11:18

Wenn von einer Krise der Demokratie gesprochen wird, muss auf die Ursachen dieser Krise hingewiesen werden: Die Demokratie wird gerade im Neoliberalismus stets von der Bourgeoisie bedroht,

wie sich gerade in Lateinamerika, aber auch in den USA und in Europa zeigt.

Atilio Boron. Eine Bande von Kriminellen, wie es im bissigen und warnenden Gedicht von Chico Buarque heißt: „Offizieller Krimineller, krimineller Kandidat für das Amt eines Bundeskriminellen, Krimineller mit Vertrag, mit Krawatte und Kapital“ – hat soeben aus ihrem Bau im Legislativen Palast Brasiliens heraus einen (fälschlicherweise „weich“ genannten) Staatsstreich gegen die legitime und verfassungsmäßige Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff, vollbracht. Und wir sprechen von „fälschlicherweise weich genannt“, weil es, wie es die Erfahrung mit dieser Art von Verbrechen in Ländern wie Paraguay und Honduras lehrt, nach solchen Umstürzen unausweichlich zu einer hemmungslosen Unterdrückung kommt, um jeglichen Versuch eines demokratischen Wiederaufbaus von der Erdoberfläche hinwegzufegen.

Der Dreizack der Reaktion: Richter, Parlamentarier und Massenmedien, alle bis ins Mark korrupt, setzte einen pseudo-legalen und eindeutig unrechtmäßigen Prozess in Gang, durch den die Demokratie in Brasilien – mit all ihren Mängeln, wie in jeder anderen auch – durch eine unverfrorene Plutokratie ersetzt wurde, die von der einzigen Zielstellung angetrieben wird, den 2002 mit der Wahl von Luiz Inacio „Lula“ da Silva zum Präsidenten eingeleiteten Prozess umzukehren. Der Tagesbefehl lautet, zur brasilianischen Normalität zurückzukehren und jedem seinen Platz zuzuweisen: dem „Volk“, das ohne aufzumucken seine Unterdrückung und Ausgrenzung hinzunehmen hat, und den Reichen, die ihre Reichtümer und Privilegien ohne Furcht vor einer „populistischen“ Woge aus dem Präsidentenpalast genießen sollen. Selbstverständlich zählte diese Verschwörung auf die Unterstützung und den Segen Washingtons, das schon seit Jahren mit boshaften Absichten die elektronische Korrespondenz von Dilma und anderen Staatsfunktionären, dazu noch denen von Petrobras, ausspionierte. Und nicht nur das: diese traurige brasilianische Episode ist ein weiteres Kapitel der US-amerikanischen Gegenoffensive, um den fortschrittlichen und linken Prozessen ein Ende zu setzen, durch die sich verschiedene Länder der Region seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts auszeichneten. Zum unerwarteten Erfolg der Rechten in Argentinien kommt jetzt der Schlag, der der Demokratie in Brasilien versetzt wurde und die Unterbindung jeglicher politischen Alternative in Peru hinzu, wo die Wähler sich zwischen zwei Varianten der radikalen Rechten entscheiden mussten.

Es erübrigt sich eigentlich, daran zu erinnern, dass die Demokratie den Kapitalismus herzlich wenig kümmert: einer seiner Haupttheoretiker, Friedrich von Hayek, sagte einmal, dass sie einfach eine Zweckmäßigkeit wäre, die in dem Maße zulässig sei, wie sie sich nicht in den „freien Markt“ einmische, der die nicht-verhandelbare Notwendigkeit des Systems darstellt. Aus diesem Grunde war (und ist) es blauäugig, eine „loyale Opposition“ seitens der Kapitalisten und ihrer politischen Sprachrohre oder ihrer Intellektuellen zu erwarten, selbst gegenüber einer so gemäßigten Regierung wie der von Dilma. Aus der brasilianischen Tragödie können viele Lehren gezogen werden, die in unseren Ländern gelernt und eingebrannt werden sollten. Ich nenne nur einige wenige:

Erstens, jegliches Nachgeben gegenüber der Rechten seitens linker oder fortschrittlicher Regierungen dient lediglich der Beschleunigung ihres Ruins. Und die PT ist seit der Regierung Lula immer wieder in diesen Fehler verfallen, wodurch das Finanzkapital, gewisse Industriezweige, die Agrarindustrie und die reaktionärsten Massenmedien bis ins Unermessliche begünstigt wurden.

Zweitens sollte nicht vergessen werden, dass ein politischer Prozess nicht nur über die institutionellen Kanäle des Staates verläuft, sondern auch auf „der Straße“, der turbulenten plebejischen Welt. Und die PT hat seit den ersten Jahren in der Regierung ihre Mitglieder und Sympathisanten demobilisiert und sie auf eine bloße und wehrlose Wählerbasis reduziert. Als die Rechte sich daran machte, die Macht zu erstürmen und Dilma sich auf dem Balkon des Präsidentenpalastes Planalto in der Erwartung zeigte, eine Menschenmenge zu ihrer Unterstützung anzutreffen, sah man kaum eine Handvoll verzagter Mitstreiter, unfähig, der wuchtigen „institutionellen“ Offensive der Rechten Widerstand zu leisten.

Drittens dürfen die fortschrittlichen und linken Kräfte nicht noch einmal in den Fehler verfallen, alle ihre Karten einzig und allein auf das demokratische Spiel zu setzen. Man sollte nicht vergessen, dass die Demokratie für die Rechte lediglich eine taktische Option ist, derer man sich leicht entledigen kann. Deshalb müssen die Kräfte für den Wandel und die soziale Umwälzung, ganz zu schweigen von den radikal-reformistischen oder revolutionären Kreisen, immer „einen Plan B“ haben, um den Machenschaften der Bourgeoisie und des Imperialismus entgegenzutreten, die nach Lust und Laune mit den Institutionen und Regeln des kapitalistischen Staates hantieren. Und das setzt Organisation, Mobilisierung und politische Bildung des breiten und heterogenen popularen Konglomerats voraus – etwas, was die PT nicht getan hat.

Schlussfolgerung: Wenn von einer Krise der Demokratie gesprochen wird, die jetzt angesichts der Ereignisse ganz offensichtlich ist, muss auf die Ursachen dieser Krise hingewiesen werden. Der Linken ist immer mit gefälschten Argumenten vorgeworfen worden, nicht an die Demokratie zu glauben. Die Geschichte beweist dagegen, dass es weltweit die Rechte war, die eine ganze Reihe kaltblütiger Morde an der Demokratie begangen hat; die sich immer mit allen ihr zur Verfügung stehenden Waffen gegen jedwedes Projekt gestemmt hat, das darauf gerichtet war, eine gute Gesellschaft zu errichten und die nicht davor zurückschrecken wird, ein demokratisches Regierungssystem zu zerstören, wenn es sich als notwendig erweist, um dies zu erreichen. Für diejenigen, die daran Zweifel hegen, hier sind die Fälle aus der jüngsten Vergangenheit: Honduras, Paraguay, Brasilien und in Europa Griechenland. Wer beseitigte die Demokratie in diesen Ländern? Wer will ihr in Venezuela, Bolivien und Ecuador den Garaus machen? Wer massakrierte sie 1973 in Chile, 1965 in Indonesien, 1961 in Belgisch-Kongo, 1953 im Iran und 1954 in Guatemala?

Quelle: amerika21… vom 7. September 2016. Der Text ist auf Aporrea  erschienen; Übersetzung: Gerhard Mertschenk

 

 

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