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Rechtsextremismus und die Sehnsucht nach dem starken Mann

Eingereicht on 3. Oktober 2016 – 17:24

Jan Schiffer. Die Mitte-Studie 2016* ist die derzeit bedeutendste repräsentative Untersuchung über Rechtsextremismus in Deutschland. Durchgeführt wurde sie von einer Arbeitsgruppe an der Universität Leipzig, finanziert wurde sie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (der LINKEN), der Heinrich-Böll-Stiftung (der Grünen) und der Otto-Brenner-Stiftung (der IG Metall).

Im Vorwort zur Studie reißen Oliver Decker und Elmar Brähler kurz die Zunahme rechter Agitation und rechtsextremer Gewalt an, stellen aber fest, dass die Rassismuswerte im allgemeinen nicht stark gestiegen sind, sondern konstant auf hohem Niveau verbleiben. Daraus folgern sie: «Die jüngsten Veränderungen im Parteiensystem zeigen weniger einen neuerlichen Anstieg fremdenfeindlicher und autoritärer Einstellungen in der Gesellschaft an, vielmehr findet das seit Jahren vorhandene, von den Mitte-Studien dokumentierte Potenzial jetzt eine politisch-ideologische Heimat.»

In ihrem darauffolgenden Essay über «autoritäre Dynamiken» geben sie einen Überblick über bisherige soziologische Analysen über rechtsextreme und autoritäre Orientierungen. Dabei gehen sie u.a. auf die Forschungen aus dem Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (Horkheimer, Adorno, Marcuse, Fromm usw.) zum autoritären Charakter ein und stellen diese auch in Zusammenhang mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Im Anschluss an die Forschungen der Frankfurter Schule und der Psychoanalyse suchen sie die Ursache von autoritären Tendenzen bei Einzelpersonen und finden sie in der Reproduktion von gesellschaftlichem Anpassungsdruck: «Die autoritäre Aggression speist sich aus der tiefsitzenden Quelle der Anpassung unter Zwang. Wer sein eigenes Leben nicht leben konnte, hasst auch das Leben der anderen.»

Zwar führen sie im Folgenden zahlreiche gesellschaftliche Fortschritte auf, die sich seit der Veröffentlichung der Studien zum «autoritären Charakter» in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ergeben haben – etwa die rechtliche Besserstellung der Frau und der Kinder im Familienrecht –, betonen aber, dass die grundsätzlichen Analysen der Frankfurter Schule weiterhin aktuell seien.

Der autoritäre Charakter

Es folgt ein historischer Abriss über die Entwicklung der Mitte-Studien, die seit 2002 als Reaktion auf die Pogromstimmung der 90er Jahre zweijährlich herausgegeben werden. Interessant ist in diesem Abschnitt vor allem die Feststellung, dass auch schon der sogenannte Asylkompromiss von 1992, bei dem das Grundrecht auf Asyl massiv eingeschränkt wurde, keinesfalls zur Beruhigung der Situation beigetragen hat. Wie Decker und Brähler ausführen, gab es nach dem Asylkompromiss eben keine Abnahme der Brandanschläge auf Asylheime.

Bedenkenswert ist auch ihre Argumentation, dass Brandanschläge nicht aus Angst oder aus Verunsicherung vor «dem Fremden» oder vor Wohlstandsverlust verübt würden. Als Beispiel dient ihnen die massenhafte Einwanderung von sog. «Russlanddeutschen» aus der ehemaligen Sowjetunion. «Fremd» sind die Russlanddeutschen ja auch gewesen, doch sie wurden problemlos absorbiert. Also kann es nicht um die Angst vor dem «Fremden» an sich gehen. Darin sehen die Autoren einen ersten Hinweis auf die «weite Verbreitung des ethnozentrisch-völkischen Denkens».

Zudem konstatiert die Studie aufgrund ihrer langfristigen Befragungen eine allmähliche Normverschiebung hin zum Positiven und eine langfristige Abnahme von Rassismus im allgemeinen. Gleichzeitig stellt sie fest, dass sich der Fremdenhass auf spezielle Gruppen konzentriert, welche in immer stärkeren Ausmaß von Vorurteilen betroffen sind: Das sind zum einen natürlich im Gefolge der massiven Fluchtbewegungen Asylsuchende und Muslime, aber auch Sinti und Roma.

Vom Thema Fremdenhass kommen die Verfasser zur Analyse der zunehmenden Unsicherheit auf Grund der ökonomischen Liberalisierung in den vergangenen Jahrzehnten. In Anlehnung an Erich Fromm gelangen sie zu der Analyse, dass diese Verunsicherung viele Menschen veranlasst, ihr Sicherheitsbedürfnis durch Unterordnung unter eine Autorität zu befriedigen. Diese Autorität kann auch eine kollektive Identität sein, was auch den verstärkten Bezug auf den Volksbegriff erklären würde.

Dabei warnen die Autoren davor, sich davon zu irritieren zu lassen, dass Pepita und Co. augenscheinlich gegen die Autorität (den Staat) rebellieren, und nehmen einmal mehr Bezug auf Adornos Studien zum autoritären Charakter von 1950. Darin unterscheidet Adorno mehrere sogenannte Syndrome des «autoritären Charakters». Unter diesen Syndromen findet sich auch der Typ des «Rebells» – der gegen die herrschende Autorität rebelliert, weil er sie als zu schwach empfindet.

Die Einstellungen

Auf diesen ausführlichen analytischen Essay folgen konkrete statistische Ergebnisse der Studie. Diese sind zum Teil erschreckend: 22% der Befragten stimmen demnach der Aussage zu, es sollte das oberste Ziel deutscher Politik sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zustehe. 33,8% finden, die BRD sei «durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet».

Aber auch der klassische, offene Antisemitismus ist weiterhin stark verbreitet: 10,9% Zustimmung erhält die Aussage: «Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.» 5,7% finden, ohne den Holocaust würde Hitler als großer Staatsmann gelten.

Besonders extreme Werte erreicht die Islamfeindlichkeit: 41,4% finden, Muslimen sollte die Zuwanderung untersagt werden; 50% fühlen sich wegen der vielen Muslime «manchmal wie ein Fremder im eigenen Land».

Die schockierendsten Werte aber gibt es bei der Feindlichkeit gegen Sinti und Roma: 58,5% unterstellen ihnen eine grundsätzliche Nähe zur Kriminalität, 57,5% wollen keine Sinti und Roma in ihrer Nähe wohnen haben.

Auch Homosexuellenfeindlichkeit erreicht hohe Werte: 40,1% finden es ekelig, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen, 24,8% halten Homosexualität an sich für unmoralisch. Immerhin 21,9% fordern, dass sich Frauen auf die Rolle als Ehefrau und Mutter zurückbesinnen sollen.

Interessant sind auch die Werte in Bezug auf die sogenannte «Verschwörungsmentalität»: Die Leipziger Soziologen diagnostizieren bei 33,3% der Befragten eine Nähe zu Verschwörungstheorien.

* Die neueste Ausgabe der Mitte-Studie erschien im Mai 2016. Download u.a. bei otto-brenner-stiftung.de.

Quelle: Soz Nr. 10/2016  

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