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Gewerkschaftliche Organisierung ist eine klassenpolitische Frage

Eingereicht on 6. Oktober 2016 – 16:05

Jakob Schäfer. Zu meinen Ausführungen in der Mai-Ausgabe der SoZ hat sich eine kleine Debatte entwickelt (siehe SoZ 6, 7-8 und 9/2016), auf die ich nachstehend eingehen will.

Peter Nowak und Willi Hajek führen in ihren Beiträgen eine ganze Reihe von Beispielen der Selbstorganisierung bzw. der Unterstützung von Kämpfen seitens kleiner Gewerkschaften an. Diese Aktivitäten können wir gemeinsam und vorbehaltlos als positiv und ermutigend bezeichnen.

Dies beantwortet aber noch nicht die Frage, ob es angesichts der sozialpartnerschaftlichen Politik der DGB-Gewerkschaften politisch sinnvoll ist, neue Gewerkschaften ins Leben zu rufen oder sich auf existierende Kleingewerkschaften zu orientieren.

Zunächst zwei Anmerkungen, die mir aufgrund des Beitrags von Willi Hajek erforderlich erscheinen: Wir sollten die Selbstaktivitäten und die Solidaritätsarbeit von Komitees oder Bündnissen (etwa die Emmely-Kampagne) nicht mit der Gründung einer Gewerkschaft in einen Topf werfen.

Zweitens sind die Verhältnisse in Frankreich nicht mit denen in der Bundesrepublik vergleichbar. In Deutschland so etwas aufzubauen wie SUD-Solidaires ist angesichts der realen Gewerkschaftslandschaft, vor allem aber aufgrund der politischen Voraussetzungen (wie auch der langjährigen gewerkschaftlichen Traditionen) auf absehbare Zeit eine völlige Illusion. Deswegen ist ein leichtfertiger Vergleich mit dem Beispiel Frankreich irreführend und kann nur von der eigentlichen Aufgabe ablenken.

Die besteht angesichts der realen Bedeutung der DGB-Gewerkschaften in den tagtäglichen Abwehrkämpfen wie auch bei den großen klassenpolitischen Herausforderungen darin, sich in gemeinsamer Aktion – auch gegen die politischen Widerstände sozialpartnerschaftlicher und bürokratischer Gewerkschaftsführungen – für eine offensive und selbstbewusste Gewerkschaftspolitik einzusetzen.

Um aber Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen: Egal, wo Kolleginnen und Kollegen real organisiert sind, ihr Kampf gegen die sog. Arbeitgeber ist in jedem Fall zu unterstützen. «Wenn Beschäftigte streiken – egal welcher Organisation sie angehören – verdient das zunächst einmal Unterstützung. Streikenden fällt man nicht in den Rücken.» (Detlef Hensche in junge Welt, 22.11.07.)

Wer kann klassenpolitisch etwas bewegen?

Den Ausführungen von Dieter Wegener (in SoZ 9/2016) ist vollumfänglich zuzustimmen. Die «normalen» Kolleginnen und Kollegen überlegen sich nicht, welcher Gewerkschaft sie beitreten, sie sind von vornherein auf die entsprechende DGB-Gewerkschaft orientiert, weil sie dort die notwendige Durchsetzungskraft und den gewünschten Schutz für sich selbst vermuten. Zu Dieters Darlegungen zwei ergänzende Ausführungen, nämlich zur GDL und zur Frage des Streikrechts:

Willi Hajek behauptet, dass die GDL «niemals in der Lage gewesen [wäre], diese Streiks anzupacken und durchzuführen, wenn nicht eine ganze Reihe Kolleginnen und Kollegen aus den DGB-Gewerkschaften zornig und wütend ausgetreten wären». Dies ist nicht nur eine Verkehrung der realen Abläufe, es legt auch unwillkürlich den Schluss nahe: Der beste und wichtigste Schritt für die Bildung kampffähiger Gewerkschaften ist… erstmal aus den DGB-Gewerkschaften auszutreten und sich dann eine andere Gewerkschaft zu suchen.

Das Beispiel GDL

Was hat denn nun in Wirklichkeit der GDL Auftrieb gegeben? Vom massiven Stellenabbau seit Anfang der 90er Jahre wurden auch die Kolleginnen und Kollegen der GDL (nach eigenen Angaben die älteste Gewerkschaft in Deutschland) stark betroffen. Die GDL hat von jeher die große Mehrheit der Lokführer organisiert, und mit dem zunehmenden Ausscheiden der Beamten wurde sie auch kampffähig. Als die Transnet (Nachfolgerin der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands, GdED – eine DGB-Gewerkschaft) in der Tarifgemeinschaft mit der GDL nicht auf deren weitergehende Forderungen einging, kündigte die GDL (2002) die Tarifgemeinschaft auf und stellte eigenständig Tarifforderungen. Nur so konnte auch der Tarifvertrag von 2002 abgewehrt werden, der bis zu 18 zusätzliche unbezahlte Schichten bei der DB Regio vorsah.

Die GdL war nie eine kleine Minderheit unter den Kollegen. Und nur weil sie die Kollegen so massiv organisierte, konnte sie danach auch zweimal sehr erfolgreich streiken. Das zweite Mal (nämlich 2014/2015) waren die Streiks (in acht Streikwellen!) trotz der massiven Kampagne der Herrschenden sogar so erfolgreich, dass das Tarifeinheitsgesetz die nächsten Jahre nicht auf die Bahn angewendet wird. Dabei ist doch dieses Gesetz überhaupt erst entworfen worden, weil die GDL-Streiks von 2007/2008 allen gezeigt haben, wo der Hammer hängt («Alle Räder stehen still…»).

Erst aufgrund dieser Entwicklung haben sich nennenswert Kolleginnen und Kollegen von der heutigen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG, ihrerseits Nachfolgerin von Transnet) umorientiert und sind der GDL beigetreten. Tendenziell wird die Streikbeteiligung der Lokführer in Zukunft noch zulegen, denn die Verbeamteten (die ja nicht streiken dürfen und zu Streikbrecherdiensten herangezogen wurden) werden altersbedingt ausscheiden. Mit anderen Worten: Wenn es um die Abwehr solcher Angriffe wie den auf das Streikrecht geht, dann kommt es zum einen auf die Kampfbereitschaft an, aber eben auch auf die Zahl der Streikenden. Eine kleine Minderheit wäre (nicht nur wegen des Einsatzes der Beamten) in Kürze niedergemacht worden.

Rechtsfragen sind ­Machtfragen

Bekanntlich sind in der Bundesrepublik das Arbeitsrecht, und vor allem das Streikrecht, Richterrecht. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) folgt dabei – mit gewissen Verzögerungen – bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. gewerkschaftlich durchgesetzten Realitäten. So war in den 50er Jahren die Rechtsprechung noch sehr stark von dem damaligen BAG-Präsidenten Carl Nipperdey, einem Alt-Nazi, bestimmt, der mit seiner streikfeindlichen Forderung nach «Sozialadäquanz» den Streik als eine absolute Ausnahme durchsetzen wollte. Unter Nipperdeys Präsidentschaft erklärte das BAG die Aussperrung als zulässig und begründete dies damit, dass unter den Konfliktparteien Waffengleichheit («Kampfparität») herrschen müsse! Unter dem Eindruck der Septemberstreiks (1969) und der großen Streiks der IG Metall Anfang der 70er Jahre änderte das BAG seine Rechtsprechung und erkannte mit Urteil von 12.9.1984 die Zulässigkeit von Warnstreiks an (was heute allzu schnell als eine Selbstverständlichkeit angesehen wird).

Aber auch die neuere Entwicklung der letzten zehn Jahre macht deutlich, dass die Rechtsprechung – wenn auch nur zaghaft – der gewerkschaftlich durchgesetzten Praxis folgt und sie für legitim erklärt. So wurden unter dem Eindruck vermehrter Solidaritätsstreiks diese mit Urteil vom 19.6.2007 als zulässig erklärt. Mit Urteil vom 24.4.2007 wurden Streiks für einen Sozialtarifvertrag als zulässig erklärt.

Am 22.9.2009 folgte das Urteil zu Flash-Mobs. Wikipedia schreibt dazu:  «Flashmob-Aktionen wurden von … Ver.di gezielt zur Besetzung und Blockade von Geschäften bei Tarifauseinandersetzungen im Einzelhandel eingesetzt … Das Bundesarbeitsgericht hat derartige Flashmobs für eine zulässige Arbeitskampfform angesehen … Das Gericht führt hierzu aus, dass der Schutz der Koalitionsfreiheit nicht auf die traditionell anerkannten Formen des Streiks und der Aussperrung beschränkt sei.»

Wer hat diese Aktionen ­organisiert?

Bei den Solidaritätsstreiks waren es großenteils Gliederungen der IG Metall, bei den Flashmobs war es Ver.di, die nicht nur ihre Organisationskraft eingesetzt haben, sondern mit neuen Kampfformen (vor allem in Stuttgart) durchsetzten, dass die sehr weitreichenden Forderungen der «Arbeitgeber» nach Aushöhlung (bzw. Abschaffung) des Manteltarifvertrags abgewehrt wurden.

Die Beispiele zeigen nicht nur die ganz anderen Möglichkeiten einer Großgewerkschaft bei Angriffen auf große Beschäftigtengruppen (hier: Millionen von Beschäftigten im Einzelhandel). Es zeigt auch, dass diese Gewerkschaften eben nicht von vornherein politisch tot und unveränderbar sind. Auch bei Amazon ist Ver.di die entscheidende Kraft in diesem lang anhaltenden und sehr schwierigen Kampf.

Damit ist ganz selbstredend auch Ver.di alles andere als eine klassenkämpferische Gewerkschaft geworden. Aber wenn wir die Verhältnisse insgesamt nicht statisch sehen, dann kann uns gerade das Beispiel der Flashmobs doch nur Mut machen bei dem Bemühen, die gewerkschaftspolitische Landschaft zu verändern. Nur dann wird auch in klassenpolitisch zugespitzter Lage etwas zu bewegen sein.

Der beste Ansatz für dieses langfristige Ziel ist die Förderung innergewerkschaftlicher (und gewerkschaftsübergreifender) Vernetzung von kritischen und klassenbewussten Kräften, damit mittel- bis langfristig eine klassenkämpferische Tendenz in den Gewerkschaften aufgebaut werden kann. Das strategische Ziel muss allerdings bleiben, vor allem die Massengewerkschaften von Grund auf umzukrempeln, politisch, personell und organisatorisch.

Quelle: Soz Nr. 10/2016

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