Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, Geschichte und Theorie, International

Für eine breite, aber revolutionäre und proletarische Partei!

Eingereicht on 10. Oktober 2016 – 8:40

Im Vorfeld der Gründung des Nouveau parti anticapitaliste (NPA), die vor allen durch die Ligue communiste révolutionnaire (LCR) vorangetrieben wurde, kam es in dieser und in derer Umfeld zu einer regen Debatte, die vielleicht unter dem Titel «neue Periode, neue Strategie, neue Partei» zusammengefasst werden kann;

immerhin stammt dieser Titel aus der inneren Debatte der LCR und des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. In deren Zeitschrift «Critique communiste» sind viele interessante und wegweisende Beiträge zu dieser Debatte abgedruckt. Diese Zeitschrift wurde mit der Gründung des NPA und der Auflösung der LCR mit der Nummer 188 vom Oktober 2008 konsequenterweise eingestellt.

Wir haben uns an dieser Stelle bereits einige Male kritisch in diese Debatte gemischt, die andernorts oder später in die Aufbaustrategie der sogenannten Breiten Parteien mündete. Diese Debatte ist von hoher Aktualität. Erstens steht sie überhaupt  im Zentrum eines revolutionären politisch-organisatorischen Aufbauprojektes. Zweitens haben diese zentristischen Strategien in verheerende Niederlagen für die internationale Arbeiterklasse und vor allem für die revolutionäre Linke geführt. Syriza in Griechenland ist nur das neueste und vielleicht tragischste Beispiel. Aber auch die NPA selbst wurde durch diesen Prozess schwer geschwächt, wenn man ihren Zustand und Einfluss heute mit dem der LCR von vor zehn Jahren vergleicht. Ein entscheidender Grund für dieses Scheitern liegt unseres Erachtens in der mangelnden Verankerung dieser Strategien in der Arbeiterklasse und der letztendlichen Priorisierung von elektoralen Perspektiven.

Wir bringen im Folgenden einen Beitrag zur Debatte vor der Gründung des NPA von Huguette Chevireau aus der Fraktion l’Etincelle von Lutte ouvrière. Er wurde in Critque communiste 187 vom Juni 2008 unter dem Titel «Pour un parti large, révolutionnaire et prolétarien» veröffentlicht. Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte – leicht gekürzt – durch die Redaktion von maulwuerfe.ch

——

Die Genossinnen und Genossen der LCR haben uns gebeten, an dieser Debatte teilzunehmen. Wir nehmen dieses Angebot gerne an.

Der Aufruf der LCR für die Gründung der neuen antikapitalistischen Partei erfolgt in einer Periode der verschärften Klassenverhältnisse auf nationaler und internationaler Ebene. In Frankreich gesellt sich zu dieser Verhärtung eine gewisse Radikalisierung der öffentlichen Meinung, die sich seit zwölf Jahren in einer elektoralen Stärkung der extremen Linken niederschlägt, die zwischen 5 und 10 % erreicht. Und einer Sichtbarkeit von revolutionären Aktivistinnen und Aktivisten, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gekannt haben. Von daher ist die Initiative der LCR legitim.

Die Wahl der Begriffe

Aber seltsamerweise liessen sich diejenigen, die Olivier Besancenot (und vorher Arlette Laguiller) wählten durch Begriffe «kommunistisch» und «revolutionär» nicht sonderlich abschrecken. Und genau in diesem Moment beweist die LCR eine befremdliche Vorsicht, wenn es darum geht, der neuen Partei einen Namen zu geben. Es geht nicht mehr um eine revolutionäre Partei, eine zweifelsohne zu direkte Bezeichnung, sondern um eine «Partei zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft». Keine Rede mehr von einem «Sturz des Kapitalismus», dies wäre zu klar, sondern von einem «Bruch mit dem Kapitalismus», von einer «Erfindung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts». Kurzum, es geht um neue Spracherfindungen für verschämte Revolutionärinnen und Revolutionäre, die es vorziehen, eher «die Linke neu zu erfinden» als denn eine revolutionäre Partei aufzubauen.

Sicherlich beteuern die Genossinnen und Genossen der LCR, dass die Begriffe «revolutionär» und «Revolution» überhaupt nichts garantieren würden. Dies stimmt. Bis jetzt tauchten sie auch in den programmatischen Texten der Sozialistischen Partei auf. Aber muss die LCR diese Begriffe genau in dem Zeitpunkt ebenfalls entfernen, wo die Sozialistische Partei diese offiziell aus ihrem Programm entfernt? Davon sprechen ist keine Garantie. Aber nicht darüber zu sprechen ist eine Botschaft.

Die andere implizite Rechtfertigung all dieser Euphemismen und Umschreibungen besteht darin, niemanden auszuschliessen und alle in die neue Partei aufzunehmen, die von der Linken enttäuscht sind oder Gewerkschaftsaktivistinnen und -aktivisten, die sich nicht als Revolutionäre betrachten. Das Problem besteht darin, dass dieses zu schöne Kalkül nicht den Realitäten in den Initiativkomitees entspricht. Wir bekommen oft den Eindruck, dass gerade die Genossinnen und Genossen der LCR einen eher zurückhaltenden Diskurs bezüglich der Erwartungen der Teilnehmenden pflegen.

Das Ärgerliche an dieser terminologischen Zurückhaltung, sei sie auch nur taktisch, liegt darin, dass den Begriffen trotz allem eine Bedeutung zukommt, und dass mit Hilfe von Euphemismen das gesamte Programm überzuckert wird. Wenn von «revolutionärer Umgestaltung der Gesellschaft» gesprochen wird, so ist weder von sozialer Revolution noch von einem Sturz der politischen Macht der Bourgeoisie die Rede. Alle Welt kann sich in einem solchen Diskurs wiederfinden. Was das betrifft, so ist die effizienteste Macht der «revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft» der Kapitalismus selbst, der über die vergangenen Jahrzehnte ohne Zweifel den grössten Teil des Planeten unterworfen und proletarisiert hat. Innerhalb von vierzig Jahren, seit 1968, haben viele «revolutionäre Umgestaltungen der Gesellschaft» stattgefunden…, ausser jedoch die Revolution, die uns interessiert.

Gleiches gilt für die «Neuerfindung der Linken». In der Sozialistischen Partei, von der man sich in erster Linie abgrenzen sollte, wollen auch alle «die Linke neu erfinden». Mit dem Unterschied, dass die LCR «nach links ändern, nicht die Linke verändern» will. Sei’s drum. Aber welche neue Linke? Eine nicht klar und deutlich revolutionäre Linke? Wie die Mehrheit der Linken, die sich in der Geschichte abgelöst haben? Nein, lassen uns die Genossinnen und Genossen der LCR wissen, denn dieses Mal muss man «den Sozialismus des 21. Jahrhunderts neu erfinden». Aber was heisst das denn, was muss neu erfunden werden? Geht es um eine Abgrenzung gegenüber dem Stalinismus? Dann muss man sich ohne Umschweife offen dem Trotzkismus zuwenden. Oder geht es etwa um Abstriche am revolutionären Marxismus?

Reform oder Revolution?

Die alte Debatte um Reform oder Revolution wurde durch die Geschichte entschieden. Die weltweite Durchsetzung des Kapitalismus und damit seiner zerstörerischen Eigenschaften auf die gesamte Menschheit und den Planeten hat – welche Feststellung! – ganz einfach den Hunger wieder auf die Traktandenliste gesetzt. Schon dies allein, sofern das noch nötig ist, erfordert nicht nur «einen Bruch anzustreben» (viele Leute «streben einen Bruch an», alle in der kleinen Nische ihrer Intervention), sondern hier wie überall einen Sturz der herrschenden Kapitalistenklasse und des Staates, der diese verkörpert. Das ist der ganze Unterschied zwischen den unterschiedlichen mehr oder weniger subversiven Formen des Widerstandes und der revolutionären Orientierung. Das ist der ganze Unterschied zwischen gewerkschaftlichen und anderen sozialen Organisationen einerseits und einer revolutionären Partei andererseits. Ja, es besteht die Notwendigkeit, ja, tatsächlich eine Dringlichkeit einer neuen Partei, die sich klar als revolutionär versteht.

Schränkt dies etwa die Wirkung und die Reichweite der neuen Partei ein, die wir aufzubauen versuchen? Würde dies ihre Dynamik beeinträchtigen? Seit den 1980er-Jahren, insbesondere seit diesem «triumphierenden Kapitalismus», der auf den Zusammenbruch der Sowjetunion gefolgt ist, haben die reformistischen Illusionen beträchtlich an Boden verloren. Es ist kein Zufall, dass die Wahlergebnisse ein neues breites Interesse an der extremen Linken bekunden, anders gesagt für die revolutionäre Linke. Von daher ist es richtig und notwendig, dass Revolutionärinnen und Revolutionäre versuchen, neue, breitere Parteien aufzubauen, als die aktuell bestehenden Gruppierungen. Der grösste Fehler jedoch besteht im Glauben, dass durch eine Abschwächung des politischen Profils mehr Stimmen angezogen werden könnten, als dies um Olivier Besancenot herum geschehen ist, der eine breite Sympathie und bestimmte Erwartungen geweckt hat.  Die Zeit ist weder nach den lauen Lüften wahltaktischer Manöver noch nach flauschigen Konturen. Viele Gruppen der extremen Linken in Europa und in Lateinamerika sind aus solchen Versuchen nicht unbeschadet hervorgegangen.

Es ist gut und notwendig, sich als von der institutionellen Linken unabhängig zu erklären. Dies ist in der Tat die Minimalbedingung. Dies ist jedoch nur glaubwürdig, wenn wir von Anbeginn an diejenige politische Terminologie wählen, für die sich diejenigen entscheiden, die heute sichtbar zu einem gewissen politischen Bewusstsein gelangen. Fürchten wir uns also nicht, für einen Beitritt in eine nicht nur antikapitalistische, sondern in eine revolutionäre Partei aufzurufen. Dies wäre die erste «starke Botschaft», die den Willen der neuen Partei aufzeigt, mit der «durch die Führungen der Sozialistischen Partei und der Kommunistischen Partei verkündeten Orientierung zu brechen», wie es in einem Beitrag der LCR heisst.

Eine breite, das heisst eine proletarische Partei

In seinen ersten Aufrufen für die neue Partei hat Olivier Besancenot auf der Notwendigkeit bestanden, dass die neue Partei offen sei «für die Namenlosen, die Jungen, die arbeitende Bevölkerung» und dass sie in ihr Leben reinpasse. Wie nun die Genossinnen und Genossen der LCR neun Monate später die vorläufige Bilanz aus der Arbeit der Initiativkomitees ziehen, stellen sie eine der Hauptschwächen des bisherigen Prozesses fest: die Mehrheit der Komitees ist um geografische Gegebenheiten herum organisiert, während die Anzahl der Sektor- oder Branchenkomitees äusserst marginal bleibt. Wohl verstanden, diese Feststellung enthält keinerlei Vorwurf. Die LCR besteht zu Recht auf der Notwendigkeit des Aufrufs zum Aufbau von Initiativkomitees, die auf Unternehmen und Industriebranchen abzielen und fordert die Aktivistinnen und Aktivisten zu einer entsprechenden volontaristischen Anstrengung auf.

In Wirklichkeit handelt es sich um eine Grundsatzfrage über die Natur der neuen Partei und ihre Prioritäten. Beruft man sich auf eine proletarische Klassenpartei, sowohl was ihre Verankerung wie ihre Inhalte, ihre Art der Intervention, ihre politischen Ziele angeht? Sicherlich haben die geografisch ausgerichteten Komitees ihre Berechtigung, und sei dies nur, um die geografisch zerstreuten Lohnabhängigen kleiner Unternehmen, oder allgemeiner alle Arten von Proletarisierten, seien sie Handarbeiter oder Kopfarbeiter, mit oder ohne Arbeit, über alle Generationen hinweg politisch zu organisieren. Der Klassenkampf wird von der Bourgeoisie auf vielen Terrains geführt und muss vom Proletariat deshalb ebenfalls auf vielen Terrains geführt werden: Wohnung, Bildung, Arbeitslosigkeit, Rechte der Einwanderer, gesellschaftliche und politische Diskriminierung aller Art… Aber das Terrain, wo sich die Lohnabhängigen den Unternehmern im Betrieb, im Unternehmen entgegenstellen, steht im Zentrum der Dynamik des Klassenkonfliktes. Die neue Partei wird nicht nur Einfluss haben, sondern vermittelt den Kämpfen in den Unternehmen und an den Arbeitsplätzen eine politische, klassenkämpferische Ausrichtung.

Eine solche Verankerung ist selbstverständlich nicht von Anfang gegeben noch kann sie sofort verwirklicht werden; sie erfordert eine voluntaristische Haltung der Aktivistinnen und Aktivisten der zukünftigen neuen Partei. Gerade dieser Voluntarismus ist es jedoch, der eine Dynamik erzeugt und viele Arbeiterinnen und Arbeitern motiviert, sich ihr anzuschliessen.

Eine demokratische und autonome Partei der Klasse

Die LCR empfiehlt in einem ihrer neuen Texte «eine Partei, die die Unabhängigkeit der Gewerkschaftsgruppen und der sozialen Bewegungen respektiert». Kurz vorher verurteilt sie die Anpassung der Gewerkschaftsführungen an «den neuen Kapitalismus». Was bedeutet denn nun der Anspruch der neuen Partei, die Politik der Gewerkschaftsapparate zu bekämpfen, wenn dies notwendig ist? Wenn möchte man da beruhigen? Die Gewerkschaftsaktivisten?  Schliessen sich die Leute nicht gerade deshalb der neuen Partei an, weil sie sich von den Gewerkschaftsbürokratien emanzipieren wollen? Und sofern sie sich darüber nicht im Klaren sein sollten, muss man sie nicht gerade deshalb fortan davon überzeugen? Eher als in diesem Punkt Abstriche zu machen, mit dem Risiko, dadurch die politische Zukunft der neuen Partei zu gefährden?

Lasst uns nun über Arbeiterdemokratie sprechen! Genauer über die Demokratie während den Kämpfen, was für die neue Partei tatsächlich eine zentrale Frage sein wird.

Der oben erwähnte Text der LCR spricht vom «Kampf gegen die Bürokratie, die in der Arbeiterbewegung einen grossen Schaden angerichtet» habe. Um ihr das interne Regime der Partei entgegenzustellen? Das innere Regime der neuen Partei wird durchwegs demokratisch und nicht sektiererisch sein müssen, da sind wir uns einig. Das Ziel der neuen Partei, ein grosser Teil ihres Programmes wird darin bestehen müssen, die Instrumente zu schaffen, um gegen diese bürokratischen Apparate vorzugehen, die der Arbeiterbewegung weiterhin grossen Schaden zufügen und zugefügt haben, indem sie die Klassenkämpfe immer wieder ersticken. Dies bedeutet, dass eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Partei sein wird, ihre Aktivistinnen und Aktivisten bei ihren Interventionen anzuleiten, die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren Kämpfen demokratisch zu organisieren, so dass sie sich eigene Organe schaffen (Streikkomitees, Koordinationsstrukturen, zentrales Streikkomitee, regionale und nationale und sogar darüberhinausgehende Koordinationsstrukturen, …). Nur dies ermöglicht ihnen, die konservativen reformistischen Apparate hinter sich zu lassen. Genau darin liegt die revolutionäre Strategie der Machteroberung durch die Arbeiterklasse, indem sie zuerst die Führung ihrer eigenen Kämpfe in die Hand nimmt. Und die neue Partei spielt dabei eine überragende Rolle.

Dies ist ja genau die Rolle der Gewerkschaftsbürokratien. Die Kämpfe einzudämmen, abzulenken oder gar zu verraten. Deshalb liegt die Aufgabe einer Partei der Arbeiterklasse gerade darin, jedem Kampf dabei zu helfen, sei er lokal oder national, bis an die Grenze seiner Möglichkeiten zu gehen und sich dabei auf die demokratische Organisation der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter zu stützen. Wir benötigen also keine Unabhängigkeit von den Gewerkschaften und den Verbänden (die jedenfalls durch die Existenz einer antikapitalistischen Partei in keiner Weise beeinträchtigt würde), sondern gerade diejenige der Partei und ihrer Politik, einschliesslich dann, wenn es ihnen gegenüber um die Entwicklung einer Politik der Einheitsfront geht.

Die Partei der Zusammenführung und Verallgemeinerung der Kämpfe

Die aktuelle Schwäche der Arbeiterklasse ist nicht so sehr einer Abwesenheit ihres Kampwillens als vielmehr einer Verzettelung ihrer Reaktionen, die von den Gewerkschaftsführungen bewusst aufrechterhalten wird, während sie bezüglich des Inhalts der «Sarkozy-Reformen» genau gleich wie die Sozialistische Partei die Gemüter beruhigen will. Der aktuelle Stolperstein zwischen einer revolutionären Politik und derjenigen der Gewerkschaftsapparate besteht gerade in der Verweigerung der Zentralisierung der lokalen und sektoriellen Kämpfe, diesem Eifer, die Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter und der Jugend zu zerstückeln und zu spalten. Dies wäre auch der ganze Unterschied zwischen einer wirklich revolutionären Partei und einer simplen «antikapitalistischen» Formation, die auf nette Art verschiedene Formen des lokalen Widerstandes kontrolliert, ohne sich zentral denjenigen Kräften entgegenzustellen, die die Verallgemeinerung der Kämpfe behindert.

Für die Arbeiterklasse geht es um die Schaffung eines politischen Instrumentes, um im nationalen Rahmen eine authentische Politik der Einheitsfront einzuleiten, damit die Kämpfe und die Mobilisierungen zusammengeführt werden können und die Gewerkschaftsapparate wirklich herausgefordert werden können, falls sie sich von den Interessen der Arbeiterklasse abwenden. Es bleibt zuzusehen, ob die neue antikapitalistische Partei sich dieses Ziel setzt. Es ist jedenfalls das unsere.

 

 

Tags: , , ,