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Indien in Bewegung

Eingereicht on 13. Oktober 2016 – 11:36

Am 2. September protestierten 180 Millionen Arbeiter_innen gegen die Politik der rechtsnationalistischen Modi-Regierung.

Nina Kullrich. Es handelte sich vermutlich um den größten Streik der jüngeren Geschichte – in jedem Fall um den größten Generalstreik in Indien seit Beginn der Liberalisierung der indischen Wirtschaft 1991. Längst ist die Indische Republik eine kapitalistische Marktwirtschaft und militärische Großmacht. Während sie mit anderen Billiglohnstandorten konkurriert, versuchen Unternehmen anderer Staaten, sich dort einen Wettbewerbsvorsprung zu sichern; die EU arbeitet seit Jahren an einem Freihandelsabkommen mit Indien.

Seit den Parlamentswahlen 2014 wird Indien von der rechtsnationalistischen Bhasatiya Janata Party (BJP) regiert. Neben seiner hindunationalistischen Propaganda gewann Narendra Modi die Wahlen vor allem, weil er Wirtschaftswachstum versprach. Schon frühere Regierungen (wie zuletzt unter der Kongresspartei) haben Liberalisierungen und Privatisierungen stark vorangetrieben. Premierminister Modi will nun weitere umfassende Reformen einleiten, die insbesondere die ausländische Direktinvestitionen fördern (»Make in India«-Initiative). Seit die BJP regiert, sind zudem soziale und emanzipatorische Bewegungen und Initiativen sowie unterschiedliche marginalisierte Gruppen noch stärkerer Repression ausgesetzt; oppositionelle Gruppen werden als »antinational« verfolgt.

Gegen Leiharbeit, Niedriglöhne und Repression

Der Protest der Arbeiter_innen richtet sich vor allem gegen Leiharbeit, Niedriglöhne, fehlende soziale Sicherungen und die Unterdrückung gewerkschaftlicher Organisierung. An dem Streik beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben bis zu 180 Millionen Arbeiter_innen u.a. aus der Kohle-und Stahlindustrie, der Eisenbahnindustrie, dem öffentlichen Dienst, der Landwirtschaft, der Automobil-, Textil- und IT-Branche, dem Verkehrswesen und den Zentralbanken. Während das öffentliche Leben im Bundesstaat Kerala komplett zusammenbrach, waren die Auswirkungen in anderen Teilen des Landes unterschiedlich stark.

Die großen Gewerkschaftsverbände – bis auf die regierungsnahe Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS) – fordern in einem Zwölf-Punkte-Katalog, den Investitionsabbau im öffentlichen Sektor zu beenden; sie wenden sich gegen die Förderung ausländischer Direktinvestitionen (vor allem in den Bereichen Eisenbahn, Versicherung und Verteidigung) und verlangen die Zurücknahme von Modis Novellierungen zur Landenteignung (»Land Acquisitation Amendment Bill«). Zudem fordern sie die Erhöhung und Durchsetzung des Mindestlohns (INR 15.000, knapp 200 Euro monatlich), die Einführung einer Mindestrente (INR 3.000, knapp 40 Euro monatlich), gleiche soziale Sicherung für alle, gleiche Löhne für gleiche Arbeit, das Recht auf Vereinigung, Versammlung und Tarifverhandlungen sowie allgemein die Rücknahme arbeitgeberfreundlicher Gesetzesänderungen.

Nun sind über 90 Prozent der Arbeiter_innen in Indien im informellen Sektor tätig, und nur vier Prozent sind überhaupt gewerkschaftlich organisiert. Außerdem werden die zentralen Gewerkschaftsverbände (Central Trade Unions) von sozialen Bewegungen als prokapitalistisch kritisiert: Zum einen sind sie an etablierte Parteien gebunden und haben in den vergangenen Jahren Privatisierungen, Deregulierungen und Sozialkürzungen mitgetragen. Zum anderen unterstützten Fabrikgewerkschaften in den letzten 20 Jahren Umstrukturierungsmaßnahmen, die auch zu Massenentlassungen fest angestellter Arbeiter_innen führten.

Doch neben den traditionellen Gewerkschaften beteiligten sich in diesem Jahr auch zahlreiche unabhängige Basisinitiativen und autonome Gewerkschaften an den landesweiten Protesten. Das Workers Solidarity Center erklärte in seinem Aufruf, dass bereits im vergangenen Jahr beinahe 150 Millionen Arbeiter_innen dem Aufruf der Central Trade Unions (CTUs) folgten: Dies wären zigmal mehr als die Mitglieder aller Gewerkschaften zusammengenommen. Obwohl das Workers Solidarity Center sowohl die Absicht als auch die Fähigkeit der zentralen Gewerkschaftsverbände bezweifelt, einen militanten Kampf der Arbeiter_innen anzuführen oder zu unterstützen, hoffte es dennoch auf die Chance, mit dem Streik die Aktivitäten der Arbeiter_innen zu erhöhen.

Alternative Gewerkschaften auf dem Vormarsch

Im Vorfeld des Streiks mobilisierte auch eine Initiative zur landesweiten Koordinierung von Arbeiterkämpfen, die sich explizit als Alternative zu den CTUs versteht. Amitava Bhattacharya, Co-Koordinator der Mazdoor Adhika Sangharsh Abhiyan (MASA), kritisiert, dass die CTUs es innerhalb von 25 Jahren Liberalisierung nicht geschafft hätten, eine starke Arbeiterbewegung zu bilden: »Die großen Gewerkschaften haben Arbeiterinteressen wieder und wieder verwässert und Kompromisse mit einem unternehmerfreundlichen Staat gemacht. Die Arbeiter_innen haben ihr Vertrauen in diese Gewerkschaften verloren. Deshalb haben wir diese Initiative gestartet, um eine Alternative zu schaffen.«

Den Streik am 2. September, an dem sie sich beteiligte, versteht die MASA als Ausgangspunkt für eine ganzjährige Kampagne. MASA-Organisationen sind mittlerweile in 20 Bundesstaaten vertreten, darunter Delhi, Tamil Nadu, Haryana, Karnataka, West Bengal, Uttarakhand und Punjab. Im Mittelpunkt ihrer Kampagne stehen die Themen Abschaffung von Leiharbeit, Erhöhung der Mindestlöhne und Rücknahme von Arbeitsrechtsreformen der Modi-Regierung.

Ein Beispiel für eine Arbeiterbewegung, die sich nicht nur erfolgreich an dem diesjährigen Generalstreik beteiligte, sondern der es darüber hinaus durch kontinuierliche Arbeit gelungen ist, verschiedene soziale Kämpfe miteinander zu verbinden, ist die Chhattisgarh Mukti Morcha (CMM), die Chhattisgarh-Befreiungsfront. Shankar Guha Niyogi, parteiloser Marxist-Leninist, baute ab 1977 eine Organisation in den Eisenerzminen von Dalli Rajhara auf. Dabei ging es ihm nicht nur um die Arbeitsbedingungen der Minenarbeiter_innen, sondern um die Belange aller Arbeitenden in der Stadt. So gelang es einerseits, sämtliche Bewohner_innen gegen die geplanten Mechanisierungen der Minen zu mobilisieren; anderseits kümmerte sich die Gewerkschaft um Grundbedürfnisse, die Verwaltung und Regierung nicht warnahmen: Sie gründete elf Schulen und eine Krankenstation und arbeitete in unterschiedlichen Abteilungen zu Bildung, Gesundheit, Kultur oder Sport. Der Gewerkschaft gelang es schließlich, die Unternehmen von einer kostengünstigeren und umweltfreundlicheren Halbmechanisierung der Produktion zu überzeugen – dies sicherte die große Mehrheit der Arbeitsplätze.

Später führten die kampferprobten Minenarbeiter_innen Protestaktionen der Bäuer_innen an, die gegen Landenteignungen und für ein Recht auf Wasser kämpften. Heute organisiert die CMM vor allem Leiharbeiter_innen, es gibt eine Befreiungsfront der Frauen, sie ist aktiv in einem breiten Bündnis (Bewegung zur Rettung von Chhatisgarh), und vor allem die Bäuer_innen und Adivasis (Selbstbezeichnung der indigenen Bevölkerung) stehen im Mittelpunkt ihrer Arbeit.

Auch Arbeiter_innen aus dem informellen Sektor streikten

Am 2. September nahmen zudem sehr viele Arbeiter_innen aus dem informellen Sektor am Streik teil. Auch Beschäftigte der Sonderwirtschaftszonen beteiligten sich zum ersten Mal. Der massive und militante Anteil der Frauen in den Arbeitskämpfen wurde erneut deutlich – ebenso die Repression gegen sie: So wurden etwa 50 streikende Leiharbeiterinnen der Abwasserindustrie festgenommen, nachdem sie Straßenblockaden in Alappuzha (Kerala) organisiert hatten; in Westbengalen gingen 70.000 Frauen, die in staatlichen Kinderbetreuungsstellen arbeiten, gemeinsam auf die Straße – dort hatte die Landesregierung vergeblich versucht, den Streik gerichtlich verbieten zu lassen. Nachdem der Streik nicht zu verhindern war, versuchte die indische Regierung, seine Bedeutung herunterzuspielen. Der überwiegende Teil der indischen Presse kritisierte vor allem die negativen Auswirkungen auf den »Alltag der Menschen« sowie die Verluste für die bestreikten Unternehmen und den Staat.

Für die Zukunft bleibt die Organisierung der Arbeiter_innen aus dem informellen Sektor eine der wichtigsten Aufgaben. Ein Aktivist aus Faridbad sieht gerade in der Perspektivlosigkeit der Leiharbeiter_innen radikales Potenzial. Andererseits machen die überaus prekären Lebensbedingungen längere Kämpfe sehr schwer, da diese häufig sofortige Entlassungen, massivste Polizeigewalt und Inhaftierungen zur Folge haben. Sudha Bharadwaj (CMM) sieht den Ort zukünftiger Organisierung daher eher in den vielen »Elendsvierteln« als in den Betrieben.

Die MASA betont auch die internationale Perspektive und zieht in ihrem Aufruf eine Verbindung zu den Protesten gegen die Arbeitsmarktreformen in Paris. Die Heterogenität der Arbeitenden ist sicher auch ein wichtiger Aspekt, den es bei Organisierungsprozessen zu berücksichtigen gilt. Auch der Kampf gegen das politische Konzept Hindutva als »einer faschistischen Variante des Hindu- Nationalismus« (Aijaz Ahmad) wird eine wichtige Herausforderung emanzipatorischer Kräfte bleiben.

In der deutschen Presse war von dem Streik übrigens kaum etwas zu lesen – hierzulande dominiert das Interesse an Investitionsmöglichkeiten für deutsche Unternehmen.

Quelle: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 619 / 20.9.2016

 

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