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Das Ergebnis der Kommunalwahlen in Brasilien – eine andere Analyse

Eingereicht on 17. Oktober 2016 – 9:01

Von der Macht verführt hat sich die (institutionelle) Linke ihren Wählern entfremdet. Die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen hat den Konservativen genutzt. Die Linke wurde vernichtend geschlagen. Es ist an der Zeit, sie neu zu erfinden.

Antonio Martins. Vor wenigen Montagen haben politische Kräfte in Brasilien eine illegitime Regierung an die Macht geputscht. Bei den Kommunalwahlen haben sie am 2. Oktober einen flächendeckenden Sieg eingefahren. Die Analyse der Wahlergebnisse lässt unterschiedliche Schlüsse zu.

In Zukunft stellen die Parteien PMDB und PSDB, die den Putsch wesentlich betrieben haben, in 1.028 bzw. 793 der 5.570 brasilianischen Kommunen das Stadtoberhaupt. Die Zahl der Bürgermeister der Arbeiterpartei PT, die schon 2012 Verluste erlitten hatte, fiel um mehr als die Hälfte auf nur noch 256.

Besonders schwer wiegt, dass die PT in den Hauptstädten der Bundesstaaten und Städten mit mehr als 200.000 Stimmberechtigten weiter abgestürzt ist. In diesen 93 Städten, in denen 40% der brasilianischen Wahlberechtigten leben, liegt nun die PSDB vorn.

Verloren hat die PT auch in ihren traditionelle Hochburgen, in denen sie über Jahrzehnte den Rückhalt der Gesellschaft genoss: In der Industrieregion ABC und im Großraum São Paulo erreichten die Kandidaten der PT nur in Santo André und Mauá die Stichwahl. In São Paulo schnitt die PT so schlecht ab wie seit 20 Jahren nicht mehr. Im Nordosten, der Hochburg der PT seit Lulas Amtsantritt im Jahr 2002, wird die Partei nur in Recife zum zweiten Wahlgang antreten.

Währenddessen darf sich Geraldo Alckmin, Gouverneur des Bundesstaats São Paulo und konservativer Politiker der alten Garde, als Wahlsieger fühlen. In der Stadt São Paulo gelang es ihm bereits im ersten Wahlgang, einen nahezu unbekannten Millionär namens João Dória, der sich als Außenseiter und Kämpfer gegen die „alte Politik“ gebärdete, ins Rathaus einziehen zu lassen.

Seit 2013 waren manche Experten davon ausgegangen, dass linke Kräfte von den Verlusten der PT profitieren könnten. Das Gegenteil ist der Fall: Die verfassten Parteien wie PSOL und PCdoB gewannen nicht entscheidend hinzu; neue Gruppierungen nach Art der spanischen „Podemos“ konnten keinen nennenswerten Zulauf verzeichnen.

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Nach den vernichtenden Wahlergebnissen für die Linke verkünden Experten wie Gaudêncio Torquato, einer der engsten Berater des Interimspräsidenten Michel Temer, bereits den „Tod“ der PT, dieser „radikalen, polarisierenden, auf Konflikt setzenden Partei“. Torquato räumt ein, die Linke könne überleben, wenn sie endlich normal wird. Wenn sie endlich aufhört, sich gegen die Ungleichheit und die Verdrängungsmechanismen der brasilianischen Gesellschaft aufzulehnen und sich mit dem für die kommenden Monate angekündigten, rückwärtsgewandten „Reformpaket“ abfindet.

In den kommenden Tagen werden wir überall zu hören bekommen, das Wahlergebnis beweise ein für alle Mal, dass es gar keinen Putsch gegeben habe. Schließlich habe die Bevölkerung diejenigen gewählt, die fälschlicherweise als Putschisten beschimpft würden. Der Volkswille habe all jene Lügen gestraft, die sich als Opfer eines Putsches fühlen und mehr Demokratie fordern. Diejenigen, die Dilma Rousseff gestürzt haben, seien nun legitimiert, „vernünftige und unverzichtbare“ Maßnahmen zu ergreifen. Oder zweifelt hier noch jemand ernsthaft daran, dass öffentliche Investitionen zurückzufahren, Rentenansprüche abzubauen und Arbeitnehmerrechte zu beseitigen sind?

Dieses Gedankenkonstrukt wird auf eine widrige Wirklichkeit treffen. Denn seit Jahren erlebt Brasilien eine Abfolge von sozialen Bewegungen und Verschiebungen, die sich diametral gegen die Programme wenden, die scheinbar siegreich aus Wahlen hervorgegangen sind. Die Ausdrucksformen sind unendlich vielfältig: Kulturprojekte am Stadtrand, Slutwalks gegen die Verharmlosung sexueller Gewalt, kostenlose Kurse zur Vorbereitung auf die Zulassungsprüfungen der Universitäten, die Bewegung für die Freigabe von Cannabis, Flash Mobs gegen die soziale Apartheid in Einkaufszentren, der so genannte Frauenfrühling und der neue Feminismus der Afrobrasilianerinnen, die Forderung einer grundlegenden Reform der Sekundarschulen. Der Erfindungsreichtum und die Kreativität sind schier grenzenlos. Dabei ist der gemeinsame Nenner, die Richtung klar: Es geht um mehr Rechte und weniger Kontrolle in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr der Logik reicher weißer Männer unterwerfen will. Wer behauptet, der Urnengang vom 2. Oktober legitimierte die Verhältnisse, wird von der Straße widerlegt werden.

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Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Versuchen wir es mit fünf Argumenten jenseits der üblichen Deutungsmuster:

  • Der Niedergang der klassischen Linken ist nicht etwa dem sinnlosen Widerstand gegen das sinnhafte neoliberale Denken geschuldet. Vielmehr ist die Linke in Brasilien eine historische Falle getappt: Ihre Erfolge haben das soziale Gefüge Brasiliens verändert. Dabei hat sie sich Fesseln anlegen lassen, mit denen wir uns in einem früheren Beitrag befasst haben: Strukturelle Reformen wurden unterlassen; zugleich ließ man sich vom Staatsapparat einfangen, demobilisierte die Bevölkerung und verzichtete auf den Druck, den diese auf die staatlichen Institutionen ausüben kann.
  • In der Bundesregierung in Brasília war die Linke so lange geduldet, wie sie die Pfründe der Finanzoligarchie und Großunternehmen und die Macht der traditionellen Parteien unangetastet ließ. In der Mitte der ersten Amtszeit Dilma Rousseffs geriet dieser Konsens ins Wanken: Die Eliten, mit denen die Regierung bis dato verbunden gewesen war, wandten sich gegen sie: Sie wehrten sich gegen die Senkung der Zinssätze, verweigerten Investitionen, brachten die Rousseff unterstützenden Parteien gegen die Präsidentin auf und sprengten den Staatshaushalt durch teure Gesetzesvorhaben. Schnell wurde deutlich, dass die Regierung leichte Beute sein würde. Sie war schwach und anfällig, gab Erpressungsversuchen nach und machte immer weitergehende Zugeständnisse. Strukturen, wie das Medienoligopol, die die Regierung nun zu erdrücken begannen, hatte man unangetastet gelassen. Gegendruck von außen konnte die Regierung nicht mehr aufbauen. Von dieser offensichtlichen Schwäche zum Putsch war der Weg nicht weit.
  • Die institutionelle Linke hatte sich in der Vergangenheit auf die Unterstützung breiter Bevölkerungskreise verlassen können. Da sie es versäumte, dieser Gegenmacht Struktur zu verleihen, blieb dieser Rückhalt jedoch formlos und schwach und den Manipulationen der Medien ausgeliefert. So konnte die Linke der selektiven Verfolgung, die die PT im Zuge des Schmiergeldskandals um den Erdölkonzern Petrobras ausgesetzt war, nichts entgegensetzen. Politisch bedeutende Programme, wie die Quotenregelung an den Universitäten, von der zehntausende Afrobrasilianer profitierten, wurden mit der Zeit nicht mehr als soziale Errungenschaft sondern als persönlicher Verdienst Einzelner verstanden. Indem sich die Arbeiterpartei von ihrer Basis entfernte, sie politisch nicht mehr mobilisieren konnte, verlor sie auch ihre Wählerschaft. Das zeigen nicht zuletzt die herben Stimmenverluste im Industriegürtel von São Paulo und in den Großstädten Nordostbrasiliens.
  • Es kommt noch schlimmer, und daher sprechen wir von einer historischen Falle: Da die Linke bis kurz vor den Kommunalwahlen an der Macht gewesen war, sich dem Druck und den Erpressungen feige gebeugt hatte, ihr zur eigenen Verteidigung nicht mehr eingefallen war, als immer unkritischer traditionelle Politik zu betreiben, konnte sie sich nicht an die Spitze des Protests gegen die herrschenden Verhältnisse stellen. Darin bricht sich ein bislang weitgehend unerforschtes Phänomen Bahn. Ursächlich sind zwei entgegengesetzte Phänomene: Auf der einen Seite die „Indignados“ in Spanien und die Gründung von „Podemos“, die Bewegung „Occupy Wallstreet“ und Kandidaturen wie die von Bernie Sanders oder Jeremy Corbin. Auf der anderen der Brexit, Marine Le Pen in Frankreich, die Ablehnung des Friedensabkommens zwischen dem kolumbianischen Staat und den FARC.
  • In früheren Zeiten war die Arbeiterpartei rebellisch. Man rühmte sich damit „ganz anders zu sein, als all die Anderen“. Heute gilt die Partei vielen als Teil des politischen Establishments, manchen gar als ihr schlimmster Auswuchs. Bei den Kommunalwahlen am 2. Oktober haben in Brasilien so viele Menschen gegen das Establishment gestimmt wie nie zuvor. Eine eingehende Analyse des Wahlverhaltens würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Einige Thesen seien jedoch erlaubt: Noch nie haben so viele Menschen – trotz Wahlpflicht – niemanden gewählt: In den Hauptstädten zehn brasilianischer Bundesstaaten übertrifft die die Summe der Enthaltungen, der leer und ungültig abgegebenen Stimmzettel die Stimmenzahl des erstplatzierten Kandidaten.

Viele Menschen gaben ihre Stimme Kandidaten wie João Dória, dem neuen Bürgermeister von São Paulo. Dieser Kandidatentyp scheint das Ergebnis eines ausgeklügelten Plans zu sein: Noch nie war Dória bei Wahlen angetreten. Anfangs lag er in den Umfragen bei nur 5 % und entging so der Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern. Er stellte sich nicht als Politiker sondern als Manager und erfolgreicher Selfmademan dar. Auch wenn auf der Hand liegt, dass er ein Blender, ja ein falscher Fuffziger ist, beeindruckte er die Wählerschaft in einem kurzen, langweiligen und faden Wahlkampf.

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„Wer seiner Tragödie ins Auge sieht, hat sie schon halb überwunden“, schreib der Dramaturg Oduvaldo Vianna Filho kurz nach dem Militärputsch 1964. Das Ergebnis der Kommunalwahlen vom 2. Oktober, ein echtes 1:7, bedeutet nicht das Ende des Widerstands gegen den Putsch und ist auch nicht das Ende der Opposition gegen seine politischen Schandtaten. Der Kampf gegen das brasilianische System von „Herrenhaus und Sklavenhütte“, für die Überwindung der Ungleichheit ist aktueller denn je. Auf der anderen Seite geht mit Niederlage der Linken ein Projekt unter, dem wir alle – auf die ein oder anderer Art und Weise – verbunden waren.

Sind wir kühn genug, dieses Projekt zu überwinden, darüber hinauszugehen? Und warum nur scheint uns das in Brasilien so schwer zu sein? Davon soll der nächste Beitrag handeln.

Antonio Martins ist Gründer und Redakteur des Debattenportals und medico-Partners Outras Palavras (Andere Worte).

Teil 4 von 6, zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3

Übersetzung: Marten Henschel

Quelle: medico.de… vom 17. Oktober 2016

 

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