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Leo Trotzki: Über Optimismus und Pessimismus (1901)

Eingereicht on 18. Oktober 2016 – 12:20

Anfang des Jahres 1901 brachte der junge Lew Dawidowitsch Bronstein, der damals noch nicht den Namen Trotzki angenommen hatte und sich bereits in sibirischer Verbannung befand, seine revolutionäre Stimmung in einem leidenschaftlichen Appell

an das 20. Jahrhundert auf eine knappe Formel. Trotz Verfolgungen und Inquisition, behauptete er, «pocht der Revolutionär voller Zuversicht an das Tor der Geschichte». Auf den Spott des Philisters, für den «es nichts Neues unter dem Mond gibt», erwidert der in die Zukunft blickende Revolutionär:

Dum spiro spero! [Solange ich atme, hoffe ich!] … Wäre ich einer der Himmelskörper, so würde ich völlig unbeteiligt auf diesen elenden Ball von Staub und Schmutz herabblicken … Ich würde die guten und die Schlechten in gleichem Masse bescheinen … Aber ich bin ein Mensch. Die Weltgeschichte, die für dich kaltherzigen Geniesser der Wissenschaft, für dich, du Buchhalter der Ewigkeit, nur ein unbedeutender Augenblick im Kommen und Gehen der Zeiten ist – für mich bedeutet sie alles! So lange ich lebe, werde ich für die Zukunft kämpfen, die strahlende Zukunft, in der der Mensch, stark und schön, Herr über den dahineilenden Strom der Geschichte sein wird, um seine Wasser dem grenzenlosen Horizont der Schönheit, der Freude und des Glückes entgegenzuführen!…

Das neunzehnte Jahrhundert hat in vieler Hinsicht die Hoffnungen des Optimisten erfüllt, noch öfter aber enttäuscht … Es hat ihn gezwungen, die meisten seiner Hoffnungen auf das zwanzigste Jahrhundert zu übertragen. Immer dann, wenn der Optimist einer scheusslichen Tatsache gegenüberstand, rief er aus: «Was, das kann an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts geschehen! Wenn er von der harmonischen Zukunft wunderbare Bilder malte, so war die Szenerie immer die des zwanzigsten Jahrhunderts.

Und nun ist dieses Jahrhundert gekommen! Was hat es gleich zu Beginn gebracht? In Frankreich – den Giftschaum des Rassenhasses[i]; in Österreich – nationalistische Streitigkeiten …. ; in Südafrika – den Todeskampf eines winzigen Volkes, das von einem Riesen hingemordet wird[ii]  ;auf der «freien» Insel selbst – Triumphgesänge an die siegreiche Gier chauvinistischer Geschäftemacher; dramatische «Komplikationen» im Osten! Rebellionen hungernder Volksmassen in Italien, Bulgarien, Rumänien … Hass und Mord, Hungersnot und Blut … Es scheint so, als ob das neue Jahrhundert, dieser gigantische Neuankömmling, vom ersten Augenblick seines Erscheinens an nur darauf aus wäre, den Optimisten in einen völligen Pessimismus und ein bürgerliches Nirwana hineinzutreiben.

–          Nieder mit der Utopie! Nieder mit dem Glauben! Nieder mit der Liebe! Nieder mit der Hoffnung! Donnert das zwanzigste Jahrhundert inmitten der Gewehr- und Kanonensalven.

–          Ergib dich, du sentimentaler Träumer. Hier bin ich, dein lang erwartetes zwanzigstes Jahrhundert, deine «Zukunft».

–          Nein, erwidert der ungebeugte Optimist: Du – du bist nur die Gegenwart.

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Quelle: Leo Trotzki: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution. Herausgegeben von Isaac Deutscher, George Novack und Helmut Dahmer. Frankfurt a. M. 1981 (edition Suhrkamp es 896)

[i] Die antisemitische Dreyfus-Affäre.

[ii] Der Burenkrieg.

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