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Ungarn: Reaktion feiert Revolution von 1956

Eingereicht on 24. Oktober 2016 – 10:18

Erinnerung im Dienst der Gegenwart. Wie in Viktor Orbáns Ungarn 60 Jahre nach dem Aufstand von 1956 gedacht wird.

Das aktuelle Gedenken an den Aufstand von 1956 ignoriert nicht nur dessen reformsozialistischen Ausgangspunkt, schon gar nicht kommt dessen revolutionärer Gehalt mit den Arbeiterräten zur Sprache. Gerechtfertigt wird jedoch der ­antikommunistische Furor, der sich nach dem 23. Oktober auf den Straßen entlud im Bemühen, der Jugend den »alltäglichen Nationalismus« beibringen, um von der sozialen Lage im Land abzulenken.

Matthias István Köhler. Ungarn feiert in diesem Jahr das 60. Jubiläum des Aufstands von 1956. Das Land, das mit unübersehbarem Erfolg bei den »illiberalen Demokratien« der Welt in die Lehre gegangen ist, erinnert sich eines Ereignisses, das als Aufbegehren gegen Diktatur, ja als Ausdruck verzweifelter Freiheitsliebe eines kleinen Volks gilt und in bürgerlichen Geschichtsbüchern als Menetekel für den östlichen Despotismus beschrieben wird. »Die Revolution von 1956 hat gezeigt, dass die Diktatur in Ungarn keine Wurzeln hat und eine ungeheure Kraft im Zusammenhalt steckt. Auch wenn der Freiheitskampf nicht erfolgreich war, unsere Freiheit hat ihren Ursprung in diesem Ereignis«, meint Zoltán Balog, der ungarische Minister für Humanressourcen. Wie aber sieht konkret die Erinnerung im gegenwärtigen Ungarn aus? Wie hat sie sich über die Jahre verändert? Hat sie jenseits des staatsoffiziellen Gedenkens für die Menschen überhaupt noch irgendeine Bedeutung?

Nein, hatte der ungarische Philosoph und politische Publizist Gáspár Miklós Tamás vor einigen Jahren provokativ behauptet. 1956 sei Geschichte, vorbei. Diejenigen, die sich im gegenwärtigen Ungarn auf das gescheiterte Aufbegehren positiv beziehen, spielen laut Tamás ein falsches Spiel. Der ursprünglich auch sozialrevolutionäre Charakter des Aufstands, u. a. die Schaffung von Arbeiterräten und die Beibehaltung und Erweiterung des kollektiven Eigentums, würden von ihnen verschwiegen, heruntergespielt, ja gar nicht erst verstanden. Damalige Vorstellungen zur Lösung der ganz offensichtlichen Krise Anfang der 50er Jahre gingen weit über die heute als Nonplusultra geltende westliche repräsentative Demokratie hinaus. Wie der Historiker und diesjährige Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preisträger Tamás Krausz schreibt, war nicht diese der Ausgangspunkt für die Diskus­sionen in den spontan sich bildenden Arbeiterräten oder an den Universitäten. Es war vielmehr das Beispiel der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung und die Idee eines demokratischen, pluralistischen Sozialismus, der nicht erst im Parlament, sondern schon am Arbeitsplatz, in den Betrieben beginnen und in dem Kultur und Bildung frei zugänglich und Wohnungen erschwinglich sein sollten. Nationale Unabhängigkeit und ein Mehrparteiensystem sollten Garant für den Ausbau sozialer Gerechtigkeit werden, als deren Hindernis die streng an der Sowjetunion orientierte Partei der Ungarischen Werktätigen und die Anwesenheit der Roten Armee wahrgenommen wurde.

Bekanntlich wurden die Oktober-Ereignisse in der Zeit unter János Kádár, dem Generalsekretär der nach der Niederschlagung des Aufstands im Dezember 1956 gegründeten Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, unter den Schlagwörtern »weißer Terror« und »Konterrevolution« erinnert. Ein Schleier des Schweigen breitete sich aus über die tatsächlichen Motive und Geschehnisse sowie über die Repressionen, mit denen der Versuch einer umfassenden Veränderung der ungarischen Verhältnisse vergolten wurde.

In den 90ern wurde Ungarn von einer nostalgischen Sehnsucht nach besseren Zeiten ergriffen. Eine Sammlung von Liedern der Arbeiterbewegung unter dem Titel »Best of Communism« stürmte die Hitparaden, die Kulturindustrie wurde auf das Thema aufmerksam. So enstand etwa die äußerst erfolgreiche Satire auf die Sekurität der Kádár-Zeit »Csinibaba« (am ehesten zu übersetzen mit »Schnuckelchen«). Am Anfang des Films sitzt der Bürgermeister eines kleinen Städtchens am frühen Morgen während seiner Rasur im spießbürgerlichen Morgenrock am Mikrofon, um über die an den Straßen angebrachten Lautsprecher mit sozialistischem Tatendrang die Nachrichten zu verlesen. Bei den Lottozahlen angelangt, bricht in das biedermeierliche Idyll das Unerhörte ein: »56, die letzte Lottozahl ist 56!«. Der Bürgermeister legt seine Hand auf das Mikrofon, schaut zum Himmel, fragt: »Wie kann das sein? Wer hat das zugelassen? Unmöglich!« Er greift sich an den Kopf und kündigt dann mit dem selbstbewussten Ton des behütenden, fürsorglichen Vaters an: »Die letzte Zahl, liebe Genossinnen und Genossen, teilt morgen die Parteizeitung mit.«

Reanimation und Transformation

In den 80ern machte die sogenannte demokratische Opposition die Aufarbeitung der Geschehnisse von 1956 und die Schaffung eines historisch fundierten, der offiziellen Parteilinie entgegengesetzten Geschichtsnarrativs zu einem ihrer zentralen Anliegen. Hervorgegangen war sie aus dem Scheitern der reformkommunistischen Bewegung. Sie verstand sich als Erbin derer, die 1956 für Rechtsstaat und Mehrparteiensystem eintraten, avancierte zur intellektuellen, später auch politisch maßgeblichen Kraft im Transforma­tionsprozess und bildet sowohl historisch als auch personell das Fundament des gegenwärtigen politischen Liberalismus in Ungarn. Wichtige Persönlichkeiten dieses neuen Liberalismus wie János Kis und Bence György waren in den 70ern noch mit dem Label »Lukács’ Kindergarten« belegt worden. Ihre Lehrer waren die im Westen prominente Ágnes Heller und vor allem der kürzlich verstorbene György Márkus. Sie waren Teil einer intellektuellen Bewegung, deren Ziel es war, die von György Lukács 1956 vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen verkündete »Renaissance des Marxismus« voranzutreiben, den sie dem als verengte Legitimationsideologie wahrgenommen Marxismus-Leninismus entgegenhalten wollten.

Die in den 80er Jahren im Selbstverlag veröffentlichten Untersuchungen, Listen der Hingerichteten und Interviews mit Zeitzeugen sollten das lange Schweigen aufbrechen und dienten auch dem Ziel, den 1958 hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy und die anderen Reformkommunisten zu rehabilitieren. Am 16. Juni 1989, dem Tag der Umbettung der sterblichen Überreste von Imre Nagy, der von seinen Henkern mit dem Gesicht nach unten begraben worden war, wurde die Schaffung eines 56er-Institutes angekündigt, einen Tag später nahm das bis dahin im Untergrund arbeitende Netzwerk seine Arbeit auf. In den 90er Jahren entwickelten sich zahlreiche Kooperationen mit internationalen Partnern, und das 56er-Institut zählte zu den renommiertesten Forschungseinrichtungen Ungarns. Inhaltlich folgten die dort Arbeitenden der westlich-bürgerliche Emanzipationserzählung, derzufolge der Aufstand von 1956 vor allem ein Kampf um die Schaffung neuer politischer Institutionen, eine Öffnung hin zum Westen und eine Ablösung der stalinistischen Funktionäre und der von diesen geschaffenen Strukturen war. Die Erhebung wurde nach dieser Auffassung zu einem Ereignis, das 1989 in der Anpassung an westlich-demokratische und rechtsstaatliche Strukturen und der Integration der ungarischen Ökonomie in den kapitalistischen Weltmarkt seinen Abschluss fand.

Mythos 1956

Mit der schwindenden Hoffnung, in wenigen Jahren den Lebensstandard Österreichs oder sogar der Schweiz zu erreichen, verlor der Mythos von 1989 an Glaubwürdigkeit. Und damit nahm die Bedeutung von 1956 nach und nach zu. Im Gegensatz zu den Ereignissen von 1989, die, wie der deutsche Philosoph Jürgen Habermas damals leicht verwundert notierte, »den fast vollständigen Mangel an innovativen, zukunftsweisenden Ideen« aufwiesen und die den von vielen Ungarn heute als gescheitert wahrgenommenen Systemwechsel einläuteten, ließen sich mit dem Mythos 1956 kein beginnender Zerfall des Schul- und Gesundheitssystems, der sozialen Absicherungssysteme, keine Kriminalität, keine Korruption und auch keine Massenarbeitslosigkeit verbinden. 1956 markierte im Bewusstsein vieler Menschen jenen Augenblick, als Ungarn welthistorische Bedeutung erlangte und der »Hungarian Freedom Fighter« vom Time Magazine zur Person des Jahres gewählt wurde. Als ein herausragendes Ereignis des Kalten Krieges wurde der Aufstand von 1956 in den Dienst der Reintegration in das kapitalistische Weltsystem gestellt. Motive gesellschaftlicher Solidarität mussten den Anforderungen des globalen Wettbewerbs angepasst werden und im Sinne eines Standortnationalismus zur ewigen Forderung nach dem Opfer für das zukünftige Wohl des Volksganzen umgewandelt werden. Schon József Antall, erster ungarischer Ministerpräsident nach 1989, hatte bei der 56er-Gedenkfeier 1990 verkündet: »jede Nation braucht eine Mythologie, 1956 soll der ungarische Mythos werden«.

Der Widerspruch, im beginnenden Zeitalter der »postsozialistischen« Ära und der Rückkehr in das bürgerliche Europa eine »reformkommunistische Revolution« zum Dreh- und Angelpunkt der nationalen Erinnerungskultur zu machen, führte zur inhaltlichen Entwertung der sozialen Forderungen des Aufstand und einer Konzentration auf formaldemokratische Aspekte. Dies hatte jedoch zur Folge, dass 1956 ausschließlich unter antikommunistischen Vorzeichen betrachtet wurde. Damit verschob sich aber auch die Wahrnehmung des eigenen Beitrags. Während jene, die sich noch auf das Erbe der Reformkommunisten beriefen, eine aktive Rolle in der Gestaltung der damaligen Ereignisse für sich beanspruchen konnten, gerieten nun die Opfer und das Leiden in der Zeit danach in den Fokus. Das Gefühl, nicht Herr im eigenen Haus zu sein, korrelierte dabei nicht zufällig mit der Erfahrung des sogenannten Transformationsprozesses. Damit gewann ein Nationalnarrativ an Bedeutung, das Ungarn zum Spielball der Weltmächte und ewigem Opfer der Geschichte stilisierte. Heute ist diese Erzählung die Grundlage für die Präambel des am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen neuen Grundgesetzes.

Tavares statt Towarischtsch

Das Verständnis des Aufstands von 1956 ist also unauflösbar mit dem Verlauf des Systemwechsels und folglich mit der Notwendigkeit verbunden, das Ausbleiben der Wende hin zum Besseren nach 1989 zu erklären. Da es undenkbar schien, das kapitalistische System gesellschaftlicher Reproduktion als solches für die Misere verantwortlich zu machen, wurde schon früh das Problem eines unabgeschlossenen Systemwechsels und also Fortlebens vermeintlich sozialistischer Elemente sowohl in den staatlichen Strukturen als auch im Bewusstsein der Bevölkerung behauptet. Explizit wurde diese Perspektive beim Blick auf die Kontinuität der sogannten Eliten. Die Streichung der linken Gegner der damaligen Regierung aus dem Register der Aufständischen von 1956 traf nun auch jene, die das reformkommunistische, demokratische Erbe in einen Liberalismus transformiert und in die neue Republik getragen hatten. Sie wurden nicht nur mit dem alten Staatssozialismus identifiziert, gegen den sie ja opponiert hatten, sondern als »fünfte Kolonne« diskreditiert, die illegitimerweise die ungarischen Geschicke lenke. Ironischerweise fiel gerade das 56er-Institut, das sich bis heute der historischen Aufarbeitung der ungarischen Geschichte nach 1945 im Sinne eines westlichen, antitotalitären Narrativs verpflichtet fühlt, der ersten Regierung unter Viktor Orbán zum Opfer. 1999 wurde das Institut der Széchényi Nationalbibliothek angeschlossen, und die Mittel wurden drastisch gekürzt.

Am 23. Oktober 2013 brachte Orbán die neue Art der Erinnerungspolitik auf den Punkt. Wegen der Untersuchung des EU-Parlaments über die Lage der Grundrechte in Ungarn unter Federführung des Portugiesen Rui Tavares stand er innen- als auch außenpolitisch stark unter Druck. In seiner Rede zum Gedenken an den Aufstand machte er seine Hörerschaft darauf aufmerksam, dass der ungarische Freiheitskampf nicht nur Helden, sondern auch Verräter kenne und gekannt habe: »ihren Sowjetmantel haben sie gegen feines Tuch getauscht, den Towarischtsch (Genossen) gegen Tavares«.

Weniger poetisch klingt das bei der Jugend­organisation der faschistischen Partei Jobbik. Auf deren Webseite heißt es zu 1956: »Dem ungarischen Volk waren volksunterdrückende Machtmechanismen immer fremd. Wenn wir auf unsere Geschichte zurückblicken, sehen wir, dass die wirklich dunklen und unmenschlichen Systeme unserer Heimat immer durch ausländische Mächte aufgezwungen wurden. So war es in der Zeit der deutschen Besatzung als auch während der sowjetisch-kommunistischen Diktatur.« Eigens wird darauf aufmerksam gemacht, dass Mátyás Rákosi eigentlich Rosenfeld und Lukács eigentlich Löwinger mit Nachnamen geheißen habe. Die Botschaft ist klar: Sie waren keine Ungarn, sondern Juden. Die Verbindung in die Gegenwart wird folgendermaßen hergestellt: »Nach dem halbherzig vollzogenen Systemwechsel leben die Verbrecher der Diktatur immer noch unter uns. Die politischen Nachfahren der kommunistischen Erben sind zu ›europäischer‹ scheinenden Formen übergegangen, begehen aber wie ihre Vorfahren Tag für Tag Landesverrat. Früher rannten sie nach Moskau, um Schutz und militärische Hilfe gegen ihre Heimat zu erbitten, jetzt gehen sie nach Brüssel, um ihr Vaterland anzuschwärzen. Geschichte wiederholt sich.«

In seiner Rede am 23. Oktober des vergangenen Jahres folgte auch Gábor Vona, der Vorsitzende von Jobbik und seines Zeichens Historiker, konsequent dieser »Logik« und proklamierte das Erbe der Revolution für seine Partei, denn die jungen Aufständischen hätten damals ihre Kraft aus dem Patriotismus der Horthy-Zeit schöpfen können. Es ist Teil der Ironie der Geschichte, dass die neofaschistische und rechtskonservative Interpretation damit indirekt das offizielle Narrativ des »weißen Terrors« der Kádár-Zeit übernimmt. Mit Blick auf die Flüchtlinge an den Grenzen Europas fügte Vona noch hinzu, dass die Jugend auch gegenwärtig wieder etwas von diesem frischen und vitalen Patriotismus vertragen könne, damit sie an Geist und Körper gesunde. Denn mit »bärtigen Frauen« wie Conchita Wurst lasse sich Europa nicht verteidigen.

»Fancy, sexy, trendy«

Um die Jugend drehen sich auch die Feierlichkeiten zum diesjährigeen 60. Jubiläum des Aufstands. Die Regierungskommissarin für das Gedenkjahr, Mária Schmidt, erklärte der Presse, es sei ihre Aufgabe, die geschichtliche Vorbildrolle von 1956 herauszustellen. Hierbei sei besonders wichtig, den richtigen Ton zu finden, damit auch die jungen Menschen den Heroismus der Aufständischen nacherleben könnten. Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu, Ministerpräsident Viktor Orbán erwarte von der Kommission, dass die Feierlichkeiten »fancy, sexy und trendy« werden sollen. In einer Rede vor der geistigen rechten Elite Ungarns hatte Orbán mit diesen Worten den Stil skizziert, in dem der Jugend der »alltägliche Nationalismus« beigebracht werden solle. Dies sei Teil der intellektuell zu bewältigenden Aufgaben nach dem, wie er es nannte, »Zeitalter des liberalen Blabla«.

Was das in bezug auf die öffentliche Erinnerung an 1956 bedeutet, wurde im Laufe der letzten Monate deutlich. Während es für die Alten die üblichen Buchpublikationen, Konferenzen und Gedenksteine gibt, wurde im zentralen 8. Bezirk von Budapest ein Erinnerungspark eröffnet, der an die »Pesti srácok«, die Pester Burschen erinnert, »jene Helden, die mit ihren nackten Händen gegen sowjetische Panzer kämpften«: Es ist eine Installation mit Fahrzeugen und Waffen sowie Barrikaden aus Kopfsteinpflaster. Dazu gibt es Konzerte, Filmvorführungen und eine »Retroküche«, die für den interessierten Besucher authentische Speisen der Zeit bereithält. Auch auf den großen Festivals des Landes, die jedes Jahr von Hunderttausenden aus ganz Europa besucht werden, konnten junge Menschen, »die 1956er Revolution neu erleben«. Neben Ausstellungen und einer »Budapest ’56«-Bar, die ins Innere eines zeitgenössischen Flugzeugs gebaut worden war, lud der »Turm der Freiheit« zum Verweilen ein, »eine einzigartige und gigantische Installation, die Ruheort, Lounge und Ausstellungsraum in einem ist«. Abgerundet wird das alles mit einer ganz besonderen Kostprobe des Geschmacks der Revolution: dem »Budapest ’56«-Cocktail, der u. a. aus Sekt und ungarischem Obstbrand besteht. Den Höhepunkt bildet jedoch das Lied »Für ein freies Land«, das jenen Augenblick ausdrücken soll, »als die ungarische Nation einheitlich für ihre Freiheit einstand«, wie die Regierungskomissarin Schmidt erklärte. Komponiert wurde es von dem amerikanischen Produzenten Desmond Child, der, wie ständig betont wird, nicht nur ungarische Wurzeln besitzt, sondern auch mit Musikgrößen wie Bon Jovi, Aerosmith, Alice Cooper und Shakira zusammengearbeitet hat. Die Interpreten des Liedes sind u. a. bekannt aus der ungarischen Superstar-Castingshow. Der eigens von Viktor Orbán während einer USA-Reise engagierte Produzent hat sich mit seinem Song allerdings nicht allzu viel Mühe gegeben; Mitte August stellte sich heraus, dass Desmond Child lediglich einen alten Song aus dem Jahr 2007 recycelt hat. Und auch mit dem gemeinsamen Singen, das laut Schmidt das Gemeinschaftsgefühl fördert, ist es so eine Sache. Zu Beginn des Refrains heißt es: »Ungarn, hör unsere Worte«. Als das Lied der Presse vorgestellt wurde, verstanden die meisten Journalisten aber einen im Ungarischen ganz ähnlich klingenden Satz: »Ungarn stinkt nach Fisch.«

»Es gilt zu danken!«

Der Druck der ungarischen Zivilgesellschaft hat in den letzte Jahren sukzessive zugenommen. Die Situation ist extrem angespannt. Die Erinnerung an die Ereignisse von 1956 steht heute im Dienste einer Fraktion des ungarischen Bürgertums, das gegen den Verlust seiner wirtschaftlichen und politischen Macht kämpft. Es wäre aber vollkommen falsch, in all dem, wie die liberalen Kritiker in Ungarn, Deutschland und der EU, von der New York Times über den Guardian bis hin zu Foreign Affairs, nun eine Abkehr Ungarns von Europa oder der sogenannten freien Welt zu vermuten. Ganz im Gegenteil: Das autoritäre Ungarn hat das westliche Narrativ, das den Aufstand von 1956 als einen ersten Sieg im Kalten Krieg feiert und darin bloß den Kampf gegen kommunistische Diktatur und nationale Unterdrückung sieht, vollkommen verinnerlicht. Das Bild von einer »Revolution« ist das heute gültige. Gemessen an damals bisweilen formulierten Vorstellungen von Demokratie muss aber nicht nur Orbáns illiberales Ungarn, sondern auch der liberalste Westen für zu leicht befunden werden. Auf tragikomische Weise wird die nur vermeintlich untergrabene Autorität des Westens in dem Videoclip zu »Für ein freies Land« von Desmond Child deutlich, dem erfolgreichen Amerikaner ungarischer Herkunft, der hinter seinem Mischpult dirigierend all die um ihn rotierenden, singenden und lachenden ungarischen »Superstars« professionell zusammenhält und allen immer wieder mit Nicken und Daumen hoch zu verstehen geben muss, dass ihre Leistung wirklich Weltklasse ist.

Die ins Unerträgliche gesteigerte Trivialisierung und Konzentration auf eine jugendgerechte und zugleich bombastische Form der Darstellung machen den neoliberal disziplinierten Subjekten die »Revolution« als hollywoodwürdiges Groß­event konsumierbar. Im Gegensatz zu wahrhaften, um konkrete soziale Inhalte kämpfenden Revolutionären werden die sympathisch lächelnden »Pester Burschen« mit ihren »ganz alltäglichen Sorgen und Träumen« dem der ständigen Selbstoptimierung unterworfenen Ich als Projektionsfläche angeboten. In einer Zeit äußerster sozialer Spannungen und politischer Instabilität, nicht nur in Ungarn, sondern weltweit, suggerieren sie im Gegensatz zu 1956 einen Zustand von Frieden und erfüllter Harmonie. Natürlich, »jeder Tag ruft dich in einen neuen Kampf, zwischen vielen Feuern zerrieben pumpt ringend dein Herz«, singen die Superstars, aber was ist das schon im Vergleich zu damals? Da gilt die Empörung über die gegenwärtigen Verhältnisse in Ungarn als Frevel am heroischen Kampf der ’56er, als Verrat an der Freiheit, für die sie gefochten haben. Wenn die Burschen damals mit dem Russen vor der Tür fertig geworden sind, dann wird die Jugend heute doch wohl mit dem Hamsterrad des turbokapitalistischen globalen Wettbewerbs klarkommen. Schlappmachen ist nicht, »es gilt zu danken«, singen die Superstars, und der Amerikaner ungarischer Herkunft gibt »High-five«.

Quelle: Junge Welt…. Oktober 2016

 

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