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Gibt es einen sozialistischen Ausweg in Venezuela?

Eingereicht on 28. November 2016 – 9:46

Die grosse Masse gewöhnlicher Venezolanerinnen und Venezolaner steht im Spannungsfeld zwischen einer rechtsradikalen Opposition und einem korrumpierten Staat, der ihren Interessen nicht dient, schreibt Eva María.

In den letzten paar Monaten sind die etablierten Massenmedien in den USA zu einem ihrer liebsten Themen zurückgekehrt: „Venezuela ist eine Diktatur, und es wird an der Zeit, etwas dagegen zu tun.“

Scharf formulierte Schlagzeilen in der New York Times, CNN, The Economist und Forbes behaupten, dass die Absage eines Amtsenthebungsreferendums für die frühe Absetzung des Präsidenten Nicolás Maduros von seinem Amt die dikatorische Natur der venezulanischen Regierung offenbare. Der Ruf nach Freilassung sogenannter politischer Häftlinge, die unter der Regierung des Vorgängers von Maduro, Hugo Chávez, inhaftiert worden waren, hat ebenfalls zum Bild eines autoritären Staates beigetragen.

Daher kam es, dass die letzten Kampagnenwerbungen von Hillary Clinton auf der absurden Behauptung aufbauten, dass Donald Trump die USA in Chávez’ Venezuela verwandeln werde, sprich, in eine Diktatur. Aber genau diese verzerrte Sichtweise deckt sich mit der Politik der Obama Administration, welche venezolanischen Staatsvertretern Sanktionen auferlegte, weil sie eine gefährliche Bedrohung für die amerikanische „Demokratie“ darstellen würden.

Die Schlagzeilen derselben etablierten Massenmedien beschreiben ein scheiterndes Land. Offizielle Zahlen schätzen, dass die Inflation bis Ende Jahr 700 Prozent erreichen werde. Auf Supermarktregalen scheine es an grundlegenden Nahrungsmitteln wie Milch, Mehl und Zucker zu mangeln; Berichten zufolge würden Gewaltdelikte steigen; und das illegale Schmuggelgeschäft durch Kolumbien und den Schwarzmarkt sei auf Expansionskurs.

Von den Konzernmedien interviewte junge Studenten und mittelständische Familien erklären, dass sie das Land verliessen, um Maduros Diktatur zu entkommen, während die Armen so dargestellt werden, als versuchten sie, verzweifelt eine Krise zu lösen, der sie nicht entrinnen können.

Währenddessen klammert sich Maduro an seine Sichtweise, dass die Krise nichts mit der Regierung zu tun habe, sondern mit der heimischen und internationalen herrschenden Klasse, die die venezolanische Revolution wegen ihrer sozialistischen Ideale verachte. Der Präsident spottet oft über die Opposition und weist jede Kritik an seiner Regierung als scheinheilig zurück.

Er sieht sich als den unbestrittenen Nachfolger des Chavista-Projektes, um das Land in Richtung Sozialismus zu bewegen, welchen er als eine hochdemokratische, breit abgestützte und teilnahmebasierte Gesellschaft definiert. Er behauptet, dass es sich bei Problemen wie der von der zurückgehenden, landesinternen Lebensmittelproduktion bis hin zu der Entscheidung, einen Teil der Amazonasregion für die Goldsuche freizugeben, alles um Übel handle, worüber er keine Macht habe. Stattdessen seien der globale Kapitalismus und die venezulanische Elite verantwortlich.

Diese, von beiden Seiten präsentierten Bilder gehen nicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ein. Der Vorschlag der politischen Rechten, Maduro abzusetzen und politische Gefangene freizulassen, werden nicht dazu beitragen, die wirtschaftliche und soziale Krise zu lösen; aber die Behauptung der Regierung, dass die herrschende Klasse und der U.S.-amerikanische Imperialismus an allem schuld seien, wird die Mehrheit der gewöhnlichen, arbeitenden Menschen auch nicht dazu bringen, sich von der politischen Rechten abzuwenden.

Die Wahrheit ist, dass die Venezolanerinnen und Venezolaner ums Überleben kämpfen. Und sie haben das Vertrauen in politische Vertreter jeder Färbung verloren.

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In der venezolanischen Politik herrscht eine ungestüme Zeit. Im Oktober hat das oberste Gericht den Prozess für die Organisation eines Amtsenthebungsreferendums abgebrochen, welcher die einzige durchgängige Kampagne der Opposition im vergangenen Jahr darstellte.

Nach der venezolanischen Verfassung, von der 1999 neugegründeten Nationalversammlung mit Chávez an der Spitze ausgearbeitet und angenommen, darf ein Präsident vor dem Ende seiner Amtszeit kraft eines demokratischen Referendums abgesetzt werden, wenn ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung dies wünscht.

2004 wurde dieses Instrument gegen den damals beliebten Chávez verwendet, der die Amtsenthebungsabstimmung jedoch leicht für sich entscheiden konnte. Dieses Jahr versuchte es die Opposition noch einmal, diesmal gegen Präsident Maduro, in einer Zeit, in der seine Beliebtheit stark gesunken ist.

Maduro, wohlwissend, dass die Umfragen Unzufriedenheit mit seiner Regierung melden, hat diesen Prozess ganz anders gehandhabt, als es Chávez 2004 getan hatte. Damals lag die Strategie der Regierung gegen die politische Rechte noch darin, die Basis der Chavista für die Umfragen zu mobilisieren, um die Weiterführung von Chávez Amt zu verteidigen, was sich als glänzender Erfolg herausstellte. Maduro hat jedoch dieses Mal auf bürokratische Mittel zurückgegriffen, um die Abstimmung zu stoppen.

Das oberste Gericht hatte das Referendum auf Grundlage von Bezichtigungen der Verwendung von betrügerischen Unterschriften aussetzen lassen. Als Antwort rief die venezolanische Opposition zu einem Marsch auf den Präsidentenpalast am 3. November auf unter dem Leitspruch „Nehmt Venezuela zurück!“. „In Venezuela bekämpfen wir den Satan!“, schrie der konservative Oppositionsführer, Henrique Capriles.

Der oppositionelle Marsch hatte zum Ziel, Maduro gleich an Ort und Stelle abzusetzen, falls die mobilisierte Anzahl dies erlaubte. Jedoch wurde die Konfrontation in letzter Minute abgesagt, weil sich Maduro mit einem, durch den Vatikan vermittelten Friedensdialog einverstanden zeigte.

Derjenige Teil der Opposition, der sich bereiterklärte, an den Gesprächen teilzunehmen, tut es in der Hoffnung, vor dem Ende von Maduros Amtszeit, welche 2019 endet, einen anderen Weg an die Macht zu finden, oder vielleicht Gespräche für die Bildung einer Art nationalen Einheitsregierung anzubahnen.

Solch eine Regierung würde aufgestellt, um eine kollektive Lösung von Oben zur Verfügung zu stellen, sodass den Interessen sowohl der „bolivianischen Bourgeoisie“, die sich unter Chávez und Maduro gebildet hat, als auch der rechtsradikalen Oppostion (welche die grosse Mehrheit der venezolanischen herrschenden Klasse beherbergt) auf Kosten der Volksklassen gedient ist.

U.S.-Politiker, Mitglieder der UNASUR (die Vereinigung Südamerikanischer Nationen), der Vatikan und andere internationale Grössen haben sich stark für diese Gespräche ausgesprochen, welche nach ihnen den einzigen Weg beider Parteien für die Zukunft darstellen würde. Sie hatten versuchsweise sogar lobende Worte für Maduro übrig; und haben nach seiner Annäherung an Papst Franziskus sogar ihren kritischen Ton besänftigt.

Seitdem die Gespräche begannen, haben beide Seiten Schritte unternommen, um ihre Differenzen auszugleichen. Die Opposition sagte den Marsch vom 3. November ab und die Regierung befreite fünf Inhaftierte. Im Verlaufe des Dialogs sind weitere Konzessionen angekündigt.

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Während all dies geschieht, sind die gewöhnlichen Venezolanerinnen und Venezolaner demoralisiert und kämpfen gegen die Misere. Ihnen fehlt das Vertrauen in die Fähigkeit ihrer Politiker, etwas gegen die alltäglichen Probleme zu unternehmen. Sie fühlen sich von keiner der streitenden Mächte vertreten.

Warum schafft es Maduro nicht, die Millionen von Menschen zu mobilisieren, auf die Chávez jedes Mal zurückgreifen konnte, wenn er es mit einem Angriff von Rechts zu tun bekam? Warum hat die Opposition solche Mühe, bei der 75 Prozent der Bevölkerung Gefallen zu finden, die neusten Umfragen zufolge nicht mehr an Maduro glaubt.

Im Verlaufe der 15 Machtjahre von Chávez hatten er und seine Verbündete einen theoretischen Rahmen entwickelt, der Millionen Menschen mit dem Glauben inspirierte, ein neuer Weg zum Sozialismus stehe offen. Aber heute, in Zeiten der Krise und der Verwirrung, bleibt wenig von diesem Traum bestehen.

Manche auf der politischen Linken bezichtigen Maduro, die Revolution durch Korruption und Verschwendung von Geldern verraten zu haben. Die Kritik ist angebracht, jedoch beginnt die Wurzel des Übels bereits bei Chávez selbst und seinem Argument, dass der Sozialismus ein staatlich geführtes Unterfangen sein könne.

Am Weltsozialforum 2005 rief Chávez die Linke dazu auf, den Sozialismus neu zu definieren. Zwei Jahre später gab er den Anstoss für die Gründung der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), um alle Kräfte zu vereinen, die sich dazu bereit erklärten, die bolivarianische Revolution fortzuführen.

Die Sozialisten, die den Präsidenten zwar unterstützten, gegenüber der Bürokratie, die sich um ihn herum formte, aber kritisch eingestellt blieben, steckten jetzt in der Klemme: Entweder konnten sie einer hierarchischen, aber wirklich populären Arbeiterpartei beitreten, oder unabhängig bleiben und dafür risikieren, an den politischen Rand gedrängt zu werden.

Am Ende entschieden sich die meisten sozialistischen Organisationen für einen Beitritt, einschliesslich Marea Socialista,  welche über die Jahre regelmässig Beiträge für SocialistWorker.org verfasst hat. In Windeseile schwollen die Ränge der PSVU in die Millionenhöhe an. Die Partei verliess sich aber nicht auf die aktive Teilnahme ihrer Mitglieder, egal wie gerne Chávez dies erzählte.

Stattdessen setzte sich eine bürokratische Struktur durch, in der Kritik, offene Debatten und Macht an der Basis immer mehr zur Ausnahme statt die Regel wurden. Die Partei formalisierte die bürokratische Schicht von angeblich „revolutionären“ Chavistas, denen die Macht über unterschiedliche Staatbereiche übertragen wurde. Die meisten in dieser neuen Schicht benutzten die Privilegien ihres Amtes, um sich zu bereichern, während sie sich weiterhin der sozialistischen Rhetorik bedienten.

Zeitgleich funktionierten Chávez Ideen für die Finanzierung und Unterstützung der Macht des Volkes in der Praxis nicht, und mit korrupten Beamten wurde undemokratisch verfahren, wobei Chávez  selbst sie aus der Regierung verbannte oder in andere Ämter versetzte, um ihr Fehlverhalten zu vertuschen.

Während Maduros Amtszeit scheint diese bürokratische Schicht durch Klientelbeziehungen, die genau jene sozialen Programme umfassten, die dazu geschaffen worden waren, eine Heranbildung der Macht von Unten zu ermöglichen, weiter an Macht gewonnen zu haben. Der Reichtum, der durch die hohen Ölpreise zur Verfügung stand, maskierte diesen Prozess, aber der dramatische Einsturz der hohen Ölpreise förderte die Probleme des venezolanischen Projektes schnell zutage.

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Der Sozialismus hat die Krise nicht verursacht, egal wie viele Male die Konzernmedien es erzählen mögen. Die populären Massnahmen, die während der erfolgreichsten Jahre der Revolution ergriffen wurden, waren niemals sozialistisch, sondern eher Versuche, die schlimmsten Auswirkungen des Kapitalismus abzumildern—extreme Armut und schlechte Gesundheitsversorgung, Behausung und Bildung—während eine Konfrontation im grossen Stil mit der herrschenden Klasse gemieden wurde.

Der dual fixierte Wechselkurs der Regierung—der dazu da ist, die Lebensmittelproduktion und Verteilung im Land zu subventionieren—belegt dies. Um Lebensmittel allen zugänglich zu machen, entwarf der Wirtschaftsminister einen Plan, zusätzliches Geld solchen Konzernen zugute kommen zu lassen, die Güter der Grundversorgung importierten, um diese dann in den Supermärkten zu subventionierten Preisen zu verkaufen.

Schon am Anfang arbeiteten etablierte, lokale Kapitalisten mit der neuen Bürokratie zusammen, um dieses System für sich zu nutzen. Manche stahlen unverblümt Geld, ohne auch nur die versprochenen Güter zu importieren. Andere importierten die versprochenen Güter zwar, schmuggelten diese dann aber nach Kolumbien, um dort einen besseren Preis zu erzielen, oder verkauften sie direkt auf dem Schwarzmarkt, wo die Profite um einiges höher lagen.

Nach dieser Logik der Profitsuche operiert jedes kapitalistische System, aber dieser Fall ist besonders entrüstend, weil manche Beamten, die davon sprachen, den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ voranzubringen, selber Wucher betrieben. Diese Art der Korruption, in Kombination mit dem Sturz des Ölpreises und den Taktiken der politisch Rechten, erklärt die Entwicklung einer Krise, die—wie immer—die Armen am härtesten traf.

Für die Opposition ist die Lösung einfach: Bringe die neoliberale Restrukturierung der Wirtschaft zurück, erlege den Arbeiteinnen und Arbeitern Austerität auf und steigere die Profite der Kapitalisten—alles im Interesse der Wenigen. Manche der Oppositionsfiguren verlangen nach ausländischer Intervention von Ländern wie der USA und regionalen Verbündeten, um diesen Wandel zu beschleunigen.

Für Maduro sieht die Lösung um einiges schwieriger aus: Wenn er sich der Korruptionsbekämpfung annehmen würde, müsste er eine Konfrontation mit der nationalen Bourgeoisie sowie den mächtigen Interessen auf der Führungsspitze seiner eigenen Partei austragen, die den Staat dazu benutzen, sich selber über alle Massen zu bereichern.

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Sozialisten müssen von beiden Kräften unabhängig bleiben, um eine radikale Alternative zu finden.

Manche prominente Figuren auf der internationalen Linken, wie zum Beipsiel die renommierte Venezolanisch-Amerikanerin, Eva Golinger, und manche SchreiberInnen für Venezuelanalysis.org, hatten genau dabei Mühe. Sie argumentieren, dass unsere Aufgabe als SozialistInnen darin liege, die Rolle des U.S.-Imperialismus und der venezolanischen Kapitalistenklasse aufzuzeigen. Jetzt sei es noch nicht an der Zeit, sagen sie, eine Regierung zu kritisieren, die ihre Wurzeln in einem volksorientierten und revolutionären Prozess habe.

Aber diese Idee von Solidarität mit der venezolanischen Bevölkerung ist einseitig. Eine Regierung zu unterstützen, die die Wurzeln der bolivianischen Revolution aufgegeben hat, hilft kaum dabei, die Massenbewegung, die Chávez nach links zwang, zu verstehen und zu verteidigen. Sie riskiert auch das Herunterspielen der Sehnsucht der Bevölkerung, eine demokratische Alternative zu finden, um ihren Kampf fortzuführen.

Sie bedeutet diejenigen Revolutionäre zurückzuweisen, die zensiert und aus ihren Machtpositionen entfernt wurden, weil sie sich kritisch über die neue Schicht in der Regierung äusserten. Sie bedeutet die Manöver der Regierung gutzuheissen, neu gegründete Organisationen davon abzuhalten, unabhängig von der herrschenden Partei ihre eigenen sozialistischen Kandidaten für die Wahl aufzustellen (So wie es bei Marea Socialista der Fall gewesen ist.).

Sie bedeutet, zu schweigen über Maduros Zustimmung zu einem Vertrag mit multinationalen Konzernen, der es diesen erlaubt, in einer der artenvielfältigsten Regionen der Welt Goldgewinnung zu betreiben. Wenig überraschend umfasst dieses neue Projekt auch flexible Arbeitsgesetze und tiefe Steuern für die beteiligten Konzerne.

Sie bedeutet, den Dialog zu tolerieren, den Maduro mit einer Opposition vorwärtstreibt, die für alles steht—Ausbeutung, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Imperialismus und so weiter—was die Linke zu Recht ablehnt.

Aber am allermeisten bedeutet sie, selbstgefällig eine Regierung zu unterstützen, die konsequent unter Beweis gestellt hat, dass sie nicht auf der Seite der Menschen und ihres Kampfes für den Sozialismus steht.

Um sozialistischen Prinzipien und unseren strategischen Zielen treu zu bleiben, müssen wir weiter blicken als die oberflächliche Analyse, die Maduro als die einzige Option für Linke hinstellt. Die Situation in Venezuela ist kritisch und arbeitende Menschen sind diejenigen, die am meisten leiden. Es gibt keine kurzfristige Lösung für diese Krise.

Aber die revolutionäre Linke muss anfangen, ein unabhängiges Projekt zu entwerfen, das die aktuelle Bürokratisierung des bolivianischen Prozesses zurückweist. Dieses Projekt muss dafür kämpfen, neue politische und soziale Kräfte zu formieren, die fähig und willens sind, neue Organisationen zu gründen, deren Ziele die Demokratisierung, Unabhängigkeit und ein Wachstum des Selbstvertrauens der Arbeiterinnen und Arbeiter, beinhalten.

Dies sollten die Kriterien sein, nach welchen wir Initiativen beurteilen, nicht einfach daran, ob sie für oder gegen Nicolás Maduro sind.

Quelle: socialistworker.org… vom 17. November 2016 ; Übersetzung Redaktion maulwuerfe.ch

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