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Die Integrationsfalle der Regierungsbeteiligung

Eingereicht on 15. Dezember 2016 – 11:04

Antikapitalistische Linke. Wenn linke Parteien bürgerlichen Regierungen beitreten, stärkt das die politische Struktur der Kapitalherrschaft. Ein historischer Überblick und eine Warnung an Die Linke und Verwandte.

Die Frage einer linken Regierungsbeteiligung im Rahmen einer sogenannten rot-rot-grünen Koalition auf Bundesebene wird inner- und außerhalb der Partei Die Linke seit geraumer Zeit diskutiert. Im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 und angesichts der neuen Berliner Koalition, die in dieser Woche ihre Arbeit begonnen hat, nimmt die Debatte nun wieder an Fahrt auf. Mit der Frage, was eine linke Regierungsbeteiligung außen- und innenpolitisch bedeutet, befasst sich auch das Podiumsgespräch der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar 2017 in Berlin. Unter dem Motto »Nach der Bundestagswahl 2017: NATO führt Krieg – die Linke regiert?« diskutieren dort der Vorsitzende der Partei Die Linke, Bernd Riexinger, Aitak Barani von der Stadtteilinitiative Zusammen e. V. (Frankfurt a.M.), die Sprecherin der Kommunistischen Plattform in der Partei Die Linke, Ellen Brombacher, und der Vorsitzende der Deutschen Kommunistischen Partei, Patrik Köbele. Die Redaktion veröffentlicht aus diesem Anlass in den kommenden Tagen an dieser Stelle Beiträge, die sich mit den Fallstricken vermeintlich linker Regierungen befassen. Der folgende, leicht gekürzte Text wird Ende des Jahres im Bulletin des »Geraer Sozialistischen Dialogs« erscheinen. 

Ekkehard LieberamInnerhalb der Partei Die Linke erlebten wir in der letzten Zeit beim Thema Regierungsbeteiligung viel Verwirrendes und Erstaunliches. Die Frage des Mitregierens im Bund ist im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 zum Fixpunkt aller Diskussionen geworden. Zunächst, nach den enttäuschenden Ergebnissen der Landtagswahlen am 13. März 2016 in Sachsen-Anhalt (Die Linke verlor 7,2 Prozentpunkte) waren sich die meisten noch einig, dass es ein »Weiter so« nicht geben dürfe, dass man sich als Partei der Lohnabhängigen und besonders der Prekarisierten, als Friedens-, ja als systemverändernde Partei profilieren müsse. Der Magdeburger Parteitag im Mai 2016 orientierte auf Opposition. Einen Monat zuvor hatten die Kovorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger sogar in einem Papier zur »Revolution« aufgerufen: »Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie«. Ein »linkes Lager« im Parteiensystem gebe es nicht, hieß es da. Man müsse die »außerparlamentarischen Bewegungen stärken«.[i]

Dann war das alles vergessen. Bernd Riexinger sprach am 20. Juni vom bevorstehenden »Lagerwahlkampf gegen die Bürgerlich-Konservativen«.[ii] Katja Kipping meinte im ARD-Sommerinterview in der Sendung »Berichts aus Berlin« vom 31. Juli: »Wir wollen eine links-grüne Regierung, die einen Politikwechsel einleitet.« Gregor Gysi verlangte gemeinsame Beratungen mit der SPD. Bodo Ramelow mahnte, dass an der ­NATO-Frage eine Koalition mit SPD und Grünen nicht scheitern dürfe. Und in einem ersten Entwurf für die Wahlkampfführung im Jahr 2017 von Ende August, vorgelegt vom Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn, war seltsam inhaltsleer formuliert worden: »Wir wollen und wir werden regieren, wenn wir mit anderen Politik ändern können.«[iii] Der Bundesvorstand lehnte diesen Vorschlag dann überraschend mit einer Mehrheit von 60 Prozent selbst als Diskussionsgrundlage ab, ein seltener, wenn nicht gar einmaliger Vorgang in der 150jährigen deutschen Parteiengeschichte. Die dann am 4. Dezember angenommene Wahlkampfstrategie setzt nun stärker auf ein oppositionelles Profil, ohne eine Koalition mit SPD und Grünen auszuschließen.

Unbeirrt

Aber die Verfechter eines auf »R2G« (»Rot-Rot-Grün«) ausgerichteten Wahlkampfs ließen sich nicht beirren. Am 18. Oktober gab es einen »Trialog« von SPD, Linken und Grünen in Berlin. Etwa 30 Politiker der Linkspartei nahmen daran teil, auch Matthias Höhn. Man werde sich am 11. Dezember wieder treffen, »um über eine mögliche Koalition nach der Bundestagswahl zu sprechen«.[iv] Kurz vor dem ersten Advent kam dann die frohe Botschaft. Unter dem irritierenden Motto »Dem Trübsinn ein Ende« trafen sich am 26. November Dietmar Bartsch (Die Linke), Anton Hofreiter (Grüne) und Katarina Barley (SPD) in Leipzig und diskutierten mit knapp 300 Teilnehmern über eine »Machtoption rot-rot-grün«.[v]

In Mecklenburg-Vorpommern war Die Linke am 4. September nach einem aufs Regieren und die »Heimatliebe« ausgerichteten Wahlkampf mit 5,2 Prozentpunkten Verlust vom Wähler abgestraft worden. Das sorgte für Frust. Aber in Berlin, 14 Tage später, kam die Linkspartei auf das respektable Ergebnis von 15,6 Prozent der Zweitstimmen. Wieder war Mitregieren im Rahmen einer rot-rot-grünen Landesregierung angesagt. Eine Mitgliederbefragung stimmte dem in der vergangenen Woche mit fast 90 Prozent der abgegebenen Stimmen zu.

Bedenklich ist das Niveau der neuerlichen Regierungsbeteiligungsdebatte im Bund. Es wird so getan, als ob der Bundestag die Zentralachse der Politik wäre und die Macht aus den Wahlurnen käme. Die Hoffnung auf »Milderung des Neoliberalismus« oder gar auf einen »politischen Richtungswechsel« lässt vergessen, dass Herrschaft aus ökonomischer Macht erwächst und SPD sowie Bündnisgrüne nach wie vor zur »Agenda 2010« und zur Kriegsführung in aller Welt stehen. Schon wer die Umfragewerte zusammenzählt, müsste eigentlich wissen, dass es angesichts der voraussehbaren Mehrheitsverhältnisse im 19. Bundestag keine Mehrheiten für »R2G« geben wird.

Geradezu erschreckend aber ist die Geschichtsvergessenheit der Debatte. Es gibt in Deutschland und international eine Vielzahl von praktischen Erfahrungen mit dem Regieren von Linkssozialisten und Kommunisten in bürgerlichen Staaten. PDS und Linkspartei regierten selbst seit 1998 in vier Bundesländern mit. Weder die historischen noch die jüngsten Erfahrungen spielen jedoch in der aktuellen Debatte eine merkliche Rolle. Diskutiert wird gern über Details der Koalitionsvereinbarungen. Strategische Fragen aber werden verdrängt. Die »Integrationsfalle Mitregieren« hat Geschichtsvergessenheit nachgerade zur Voraussetzung. Denn die international negative Bilanz von Linksregierungen würde sonst stören. Sie ist deshalb auch kein Thema. Kritische Analysen der Regierungspraxis seitens der Parteiführung in Ländern wie Thüringen und Brandenburg gibt es nicht. Dabei behauptet sich angesichts der geschichtlichen und der jüngsten Erfahrungen Rosa Luxemburgs Sentenz vom Ende des vergangenen Jahrhunderts: »Wild nicht erlegt und die Flinte zugleich verloren«.[vi]

Millerands Sündenfall

Historisch gesehen begann alles mit dem Eintritt des französischen Sozialisten Alexandre Etienne Millerand am 22. Juni 1899 als Handelsminister in das Kabinett von Pierre Waldeck-Rousseau, dem mit General Gaston de Galliffet sogar einer der Schlächter der Pariser Kommune angehörte.

Die unmittelbar danach in der SPD und in den anderen Parteien der Sozialistischen Internationale begonnene Auseinandersetzung um Sinn und Unsinn des Millerandismus bzw. Ministerialismus war eine heftige und gescheite Debatte. Der Internationale Sozialistenkongress von 1900 in Paris und auch noch der von 1904 in Amsterdam beschäftigten sich mit der Regierungsfrage. An der Debatte beteiligten sich in Deutschland besonders August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Karl Kautsky. Der Kongress in Paris nahm die »Resolution Kautsky« an, in der der Eintritt von Sozialisten in eine bürgerliche Regierung als »Notbehelf« bezeichnet und von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht wurde. Beim Kongress in Amsterdam wurde in Übereinstimmung mit einem Beschluss des Dresdener SPD-Parteitages von 1903, festgelegt, dass die Sozialdemokratie »einen Anteil der Regierungsgewalt in einer bürgerlichen Regierung nicht erstreben kann.«[vii]

Diese Debatte der SPD ab 1899 war eine Prinzipiendebatte einer marxistischen Partei. Erkannt wurde, dass Mitregieren ohne Verluste sozialistischer Grundsätze in aller Regel nicht zu haben ist. Es ging um den Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstrategie (Eroberung der politischen Macht, sozialistisches Endziel) und der Regierungsfrage und damit um tragfähige programmatische Positionen. Erstaunlich sind aus heutiger Sicht die Prognosekraft wie auch die Aktualität der damals formulierten Grundsätze. Es sind vor allem vier Erkenntnisse, die unsere Aufmerksamkeit verdienen:

Zum einen ist dies die Aussage von Wilhelm Liebknecht in seinem Brief an die französische Arbeiterpartei vom 10. August 1899: »Ein Sozialist, der in eine Bourgeoisieregierung eintritt, geht entweder zum Feind über, oder er gibt sich in die Gewalt des Feindes. In jedem Fall trennt ein Sozialist, der Mitglied einer Bourgeoisieregierung wird, sich von uns, den kämpfenden Sozialisten.«[viii]

Zum anderen gehört zu den damals formulierten und heute noch beachtenswerten Positionen der Satz von Rosa Luxemburg: »In der bürgerlichen Regierung ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.«[ix]

Diese Position ist keineswegs veraltet. Grundsätzlich gilt: Als Opposition trägt eine kommunistische oder linkssozialistische Partei dazu bei, Gegenmacht und Gegenöffentlichkeit zu entwickeln; als regierende Partei stärkt sie fast unweigerlich die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse.

Weiterhin ist hochaktuell, was Rosa Luxemburg seinerzeit zum Verhältnis von Regieren und eigenen Grundsätzen sagte: Die Taktik finde ihre Grenze dort, wo sozialistische Prinzipien in Frage gestellt werden.[x]

Außerhalb dieser Grenzen, kann es keine Taktik und so auch kein Mitregieren geben. Eine Anerkennung etwa der »Sozialpartnerschaft«, der Schuldenbremse und der Kriminalisierung der DDR als »Unrechtsstaat« wie in der Thüringer Koalitionsvereinbarung vom Dezember 2014 durch Die Linke ist prinzipienwidriges Taktieren. Infolgedessen gehen dann »beim Regieren selbst« weitere eigene Grundsätze (Verteidigung der demokratischen Rechte gegen den Verfassungsschutz oder Ablehnung von Entlassungen im Öffentlichen Dienst) sukzessive den Bach herunter.

Eine bedeutende Ausnahme

Schließlich nennt Rosa Luxemburg eine wichtige Ausnahme von der Regel einer Ablehnung der Regierungsbeteiligung: Es gäbe »Augenblicke«, wo eine solche als »notwendig erschiene«. Das sei namentlich der Fall, wo es sich um »die demokratischen Errungenschaften, wie die Republik, handelt«.[xi]

Natürlich verlangt nicht jede Bedrohung demokratischer Errungenschaften eine Aufgabe der Oppositionsrolle. Rosa Luxemburgs Hinweis gilt bei außergewöhnlichen Bedrohungen. Es gehört zu den politischen Fehlern der KPD, dass sie gemäß den Weisungen aus Moskau in der Endphase der Weimarer Republik dies im Kampf gegen den Nazifaschismus nicht berücksichtigte. Sie erklärte die SPD-Führung zum Feind, obwohl die Aufgabe anstand, mit Sozialdemokraten (auch mit den führenden) und bürgerlichen Demokraten entschlossen und gemeinsam die Übertragung der Macht an die Nazipartei zu verhindern. In Frankreich setzte die Kommunistische Partei ab 1934 auf eine Volksfrontpolitik mit den Sozialisten und Radikalen. Sie unterstützte das am 6. Juni 1936 gebildete Kabinett der Sozialisten und der Radikalen Partei unter Leon Blum, beteiligte sich aber nicht an ihr mit eigenen Ministern. In Spanien kam es nach dem Ausbruch des Krieges im September 1936 zu einer Volksfrontregierung, der erstmals auf nationaler Ebene in einem bürgerlichen Staat Mitglieder der Kommunistischen Partei angehörten. In beiden Ländern gelang es mit dieser Politik, den Vormarsch der Faschisten eine Zeitlang aufzuhalten.

Am 9. November 1918 übertrug Reichskanzler Max von Baden, mit Verweis auf eine entsprechende Absicht von Wilhelm II., die Regierungsgewalt an Friedrich Ebert als neuen Reichskanzler. Als Revolutionsregierung wurde der Rat der Volksbeauftragten gebildet, dem jeweils drei Vertreter der SPD und der USPD angehörten. Er bezeichnete sich selbst als »rein sozialistisch« und formulierte als Aufgabe, nunmehr »das sozialistische Programm zu verwirklichen«[xii] Unter Karl Kautsky setzte die Regierung am 24. November eine Sozialisierungskommission ein. Karl Liebknecht wurde aufgefordert, in den Rat der Volksbeauftragten einzutreten. Man wollte seine Autorität nutzen. Liebknecht lehnte ab, worauf noch einzugehen ist.

Geschaffen war so das Grundmuster, um eine Regierungsteilnahme von links zu rechtfertigen: Es ist die Verheißung, damit beginne der Weg hin zu einer sozialistischen Gesellschaft bzw. (heute) hin zu einer »sozialen Gesellschaft« oder zu einem politischer Richtungswechsel weg vom Neoliberalismus.

Friedrich Ebert ließ Armee, Justiz und Beamtenapparat unangetastet und schloss am 10. November ein geheimes Abkommen mit dem Chef der Obersten Heeresleitung im Kampf gegen die Revolution. Der Sozialismus kam nicht, er wurde verhindert. Man betrieb in einer Revolution, die das Potential in sich hatte, von einer bürgerlich-demokratischen in eine sozialistische hinüberzuwachsen, Herrschaftssicherung unter linker Flagge. Ab Februar 1919 war Gustav Noske Reichskriegsminister. Die Revolution wurde militärisch niedergeschlagen.

Wichtige Lehre

Zu den wichtigen Lehren der deutschen Novemberrevolution gehört, dass Regieren durch »Sozialisten« in der Regel mit Machtveränderung zugunsten der Lohnarbeiter in Richtung Sozialismus nichts zu tun hat. Mitregieren ist in der Hauptsache eine Integrationsfalle. Wenn eine sozialistische oder kommunistische Partei in diese hineintappt, dann verstärken sich Anpassung und Fügsamkeit. Die Interessen ihrer Führungsschicht verbinden sich mit den Interessen der Konzerne und Banken, die Parteiführung selbst wird allmählich eine politische Struktur der Kapitalherrschaft. In einem längeren geschichtlichen Prozess des Hin und Her (bedingt durch Konflikte zwischen den Interessen der Führungsgruppe und den entgegengesetzten Klasseninteressen der Basis) kommt es zunächst zur Einordnung der Führung und dann der Gesamtpartei in das System kapitalistischer Klassenherrschaft. Dieser Prozess erstreckte sich bei der SPD über Jahrzehnte bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aus einer sozialistischen Prinzipienpartei wurde eine Organisation, die die Denkschemata und die Freund- und Feindbilder der Herrschenden vollkommen übernahm, die sich unter Gerhard Schröder mit der »Agenda 2010« geradezu als Rammbock des Neoliberalismus betätigte – wobei in Teilen der Führung, vor allem aber an der Basis und bei den Jungsozialisten jeweils mit unterschiedlicher Ausprägung noch vage Erinnerungen an das einstige sozialistische Programm existieren.

Rosa Luxemburg hatte grundsätzlich die Möglichkeit verneint, in eine Regierung einzutreten bevor der bürgerliche Staat in Trümmern liegt. In den ersten Tagen der Novemberrevolution lehnte Karl Liebknecht den Eintritt in den Rat der Volksbeauftragten ab. Er stellte Bedingungen wie die Übertragung der Macht an die Arbeiter- und Soldatenräte. Ebert und die SPD-Vertreter stimmten nicht zu. Liebknecht folgte dem Konzept Lenins vom Oktober 1917: »Keine Unterstürzung der Provisorischen Regierung. Alle Macht den Sowjets«. Die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets im Rahmen einer Doppelherrschaft hatte in Russland, gestützt auf die revolutionären Massen, zum Sturz der Provisorischen Regierung und zur Errichtung der Sowjetmacht geführt. In Deutschland war das gleiche Konzept 1918 nicht erfolgreich. Der Einfluss der revolutionären Kräfte in der Arbeiterbewegung war schwächer; die politischen Reserven der Konterrevolution größer.

Die Kommunistische Internationale gab auf ihrem IV. Weltkongress im November/Dezember 1922 die Losung der Arbeiterregierung aus. Sie ging davon aus, dass in der nach ihrer Einschätzung begonnenen vorrevolutionären Situation in einigen Ländern die Machteroberung mit der Schaffung einer Einheitsfront und mit Arbeiterregierungen aus Kommunisten und linken Sozialdemokraten auf neue Weise mit der Regierungsfrage verbunden werden müsse.

In Deutschland orientierte die KPD auf den Sturz der Reichsregierung unter Wilhelm Cuno und die Bildung einer solchen Regierung. Der 8. Parteitag der KPD (unter dem Vorsitz Heinrich Brandlers) stimmte dem Ende Januar 1923 mit Zweidrittelmehrheit zu. In der entsprechenden Resolution hieß es: »Die Arbeiterregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher parlamentarischer Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiterklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben.«[xiii]

Im Oktober 1923 bildeten sich in Thüringen und Sachsen Regierungen mit jeweils zwei Ministern der KPD. Sie bestanden nur 27 bzw. 19 Tage. Die Reichsregierung setzte sie mittels Artikel 48 der Weimarer Verfassung ab und ließ die Reichswehr einmarschieren. Der Plan der Kommunistischen Internationale, das vorhersehbare militärische Eingreifen der Reichswehr mit einem Generalstreik zu beantworten und so eine Revolution auszulösen, schlug fehl. Die Überlegungen von Heinrich Brandler und seiner Anhänger aber gingen offensichtlich weiter: eben gestützt auf revolutionäre Massenbewegungen in der Regierung im Rahmen der bürgerlichen Demokratie real Arbeiterpolitik zu machen und dabei den Weg zum Sozialismus zu öffnen.

An dieses Konzept knüpfte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von kommunistischen und linkssozialdemokratischen Parteien an, zumeist unter den Losungen der Linksfront und der Linksregierung. Es gab in Europa (abgesehen von Regierungsbeteiligungen von 1945 bis 1947) derartige Versuche zu verschiedenen Zeiten, unter sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kräftekonstellationen in acht Ländern: in Finnland, Frankreich, Zypern, Schweden Norwegen, Dänemark, Italien und Griechenland.

Gefahr der Sozialdemokratisierung

Die Erfahrungen sind überwiegend negativ. In Italien kam es zu einer Sozialdemokratisierung der Kommunistischen Partei, die sich umbenannte und voll in den bürgerlichen Politikbetrieb einordnete. Die Partei der Kommunistischen Neugründung (Partito della Rifondazione Comunista), die sich 1991 konstituierte, beteiligte sich ab 1996 zweimal an Regierungen. Sie scheiterte danach an den Sperrklauseln (vier bzw. acht Prozent) und ist heute in beiden Kammern des Parlaments nicht mehr vertreten. In Griechenland versprach Alexis Tsipras nach Bekanntwerden des Wahlsieges am Abend des 25. Januar 2015, Griechenland lasse damit »das Spardiktat und die Angst« hinter sich, eine angesichts der festgefügten Kapitalherrschaft in der EU absurde Illusion. Von damals 36,5 Prozent der Wahlstimmen blieben bei Umfragen im September 2016 gerade einmal noch 17,5 Prozent übrig. Für die linken Parteien in den skandinavischen Ländern Vertreter in die Exekutive entsandten, gilt: »Schlechte Erfahrungen mit Regierungsbeteiligungen lösen kaum politikwirksame Lernprozesse oder gar Mobilisierungseffekte von unten, sondern eher Resignation und weitere Anpassung aus.«[xiv]

Differenzierter sind die Ergebnisse der Linksregierung in Frankreich nach dem Sieg von François Mitterand bei den Präsidentschaftswahlen am 10. Mai 1981 zu bewerten. Im ersten Halbjahr der am 23. Juni 1981 gebildeten Linksregierung, der auch vier Kommunisten als Minister angehörten, gab es nicht nur Versprechungen, sondern tatsächlich Eingriffe in die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und wichtige Reformen im Interesse der Lohnabhängigen. 39 Banken und fünf große Konzerne wurden verstaatlicht. Die Rechtstellung der Arbeiter und der Gewerkschaften in den Betrieben wurde deutlich verbessert. Und es wurden substantielle soziale Verbesserungen für die Lohnabhängigen durchgesetzt: 39-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich, Erhöhung des Mindestlohnes um 20 Prozent, Absenkung des Rentenalters auf 60 Jahre. In der Außen- und Militärpolitik allerdings, die in den Händen von Mitterrand lag, blieb alles wie bisher.

Aber bereits nach einem halben Jahr kamen die Reformen zum Stillstand. Mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen setzte die Kapitalistenklasse die Linksregierung unter Druck. Ihre Waffen waren Kapitalflucht, Investitionsverweigerung und Pressekampagnen. Hinzu kamen die Auswirkungen einer zyklischen Wirtschaftskrise, einschließlich rapide steigender Arbeitslosenzahlen. Auch die Finanzmärkte setzten die französische Regierung massiv unter Druck. Die Linksregierung ging schon 1982 zu einer Politik der Steuererleichterungen für das Kapital über. Die Vertreter der Kommunistischen Partei blieben dennoch in der Regierung und blockierten sogar Demonstrationen gegen diese Politik. Die Kommunistische Partei verlor daraufhin drastisch an Einfluss. 1981 hatte sie bei den Parlamentswahlen noch 16,1 Prozent der Stimmen erhalten, 2012 im Rahmen des »demokratischen und republikanischen Bündnisses« waren es nur noch 6,9 Prozent.

Notwendigkeit harter Opposition

Die Regierungsfrage ist auch heute historisch-konkret zu beantworten. »R2G« im Bund wäre eine politische Großkatastrophe für die Linken. Bereits die Beispiele aus jüngster Zeit in Italien und Griechenland legen nahe, dass seit geraumer Zeit in Europa Mitregieren politisch geradezu tödlich sein kann. Die Erfahrungen der PDS und der Linken in den Regierungen ostdeutscher Bundesländer bestätigen dies. In den Landesregierungen haben sich deren Minister und Staatssekretäre von entscheidenden Grundsätzen ihrer Partei verabschiedet. Im Ergebnis verliert Die Linke nicht nur an politischem Profil, sondern auch an Stimmen. Selbst in Thüringen mit ihrem nach wie vor populären Ministerpräsidenten Bodo Ramelow hat sie nach Umfragen im November gegenüber dem Wahlergebnis vom 14. September 2014 (29,2 Prozent) mit 23 Prozent gut sechs Prozentpunkte verloren.

Das weitere Schicksal der Linkspartei ist schwer zu prognostizieren. Ist der Anpassungskurs erst einmal eingeschlagen, lässt er sich nur schwer wieder umkehren. Für das nächste Jahr ist es daher besonders wichtig, dass Die Linke zumindest das Theater um »R2G« im Bund beendet und den Bundestagswahlkampf als Kampf um eine linke Alternative zur neoliberalen Politik führt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in der Jungen Welt vom 10.12.2016, Seite 12/Thema

 

Literatur: Ekkehard Lieberam: Integrationsfalle (Mit)Regieren. Wild nicht erlegt – dafür Flinte verloren. Pad-Verlag, Bergkamen 2016, 68 Seiten, 5 . Zu bestellen unter: pad-verlag@gmx.net

Ekkehard Lieberam war Professor für Staatstheorie und Verfassungsrecht an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Er ist Sprecher des Marxistischen Forums der Partei Die Linke in Sachsen.

Quelle: antikapitalistische-linke.de… vom 15. Dezember 2016

 

 

[i] Katja Kipping/Bernd Riexinger: Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie, http://t1p.de/5j9q

[ii] N-TV, Kurznachrichten vom 20.6.2016, AFP

[iii] Strategischer Ansatz für die Bundestagswahl 2017. Wahlstrategie, Stand 12.9.2016, S. 3

[iv] Michael März: Rendezvous in Szene gesetzt, junge Welt, 20.10.2016

[v] Aert von Riel: Große Koalition hat sich erschöpft, Neues Deutschland, 28.11.2016

[vi] Rosa Luxemburg, Possibilismus und Opportunismus, Sächsische Arbeiterzeitung, 30.9.1898

[vii] Zit. n. Ehrenfried Pößneck: Der Fall Millerand, www.triller-online.de/k0173.htm

[viii] Zit. n.: Ekkehard Lieberam, Integrationsfalle (Mit-)Regieren, Bergkamen 2016, S. 49

[ix] Rosa Luxemburg: Eine taktische Frage, Leipziger Volkszeitung, 6.7.1899

[x] Vgl. Rosa Luxemburg: Die badische Budgetabstimmung 1901, in: dies.: Gesammelte Werke, Band 1, 2. Halbband, Berlin 1970, S. 78

[xi] Luxemburg: Eine taktische Frage, a.a.O.

[xii] Regierungsprogramm des Rates der Volksbeauftragten, 12. November 1918, zit. n.: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, Berlin 1966, S. 494

[xiii] Zit. n.: ebd., S. 650

[xiv] Edeltraut Felfe: Wenn nicht gewagt wird, das Kapital anzugreifen …, in: Gleiss Thies/u.a. (Hg.): Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden. Die Linke und das Regieren, Köln 2016, S. 126

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