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Arbeiterklasse und Revolution. Thesen zum Marxistischen Klassenbegriff

Eingereicht on 25. Dezember 2016 – 11:54

Markus Lehner. Der Klassenbegriff ist für Marxisten das zentrale Moment für das Verständnis des Wesens gesellschaftlicher Prozesse und für deren Veränderbarkeit durch politisches Handeln. Jede Relativierung des Klassenwiderspruchs,

seiner zentralen Rolle für die Bestimmung sozialistischer Politik, jede Aufweichung eines methodisch begründeten Klassenbegriffs, sind ein untrügliches Zeichen für die Abkehr vom revolutionären Marxismus selbst. Es ist kein Wunder, daß schon die erste bedeutende Revision des Marxismus Ende des letzten Jahrhunderts (Bernsteins „Probleme des Sozialismus“ von 1896) mit dieser Relativierung der Bedeutung des Klassenwiderspruchs begonnen hat.

  1. Der revolutionäre Gehalt des Marxschen Klassenbegriffs und seine Geschichte

Dabei geht es nicht um das beliebte Gesellschaftsspiel vom „überholten Klassenwiderspruch“, bei dem die einen den „fundamentalen Wandel“ der gesellschaftlichen Verhältnisse seit Marx‘ Zeit betonen, die anderen dagegen die weiter bestehende oder wachsende soziale Ungleichheit. Es geht auch nicht um irgendwelche fruchtlosen Debatten, ob nun diese oder jene neue Schicht Teil der Arbeiterklasse oder einer „neuen Mitte“ sei. Die Debatte um den marxistischen Klassenbegriff zielt grundsätzlicher auf einen ganz bestimmten Begriff von menschlicher Befreiung und ihrer historischen Perspektiven.

Der junge Marx sah in der Arbeiterklasse die reale historische Tendenz erscheinen, durch die die jahrhundertelangen Bestrebungen der Philosophie nach einer radikalen menschlichen Emanzipation von den „Gespenstern der Vergangenheit“ zu einer materiellen Wirklichkeit werden könnte: „Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung“. [i]

In der Existenzweise des Proletariats verkörpert sich die Selbstentfremdung des Menschen von seinen wesentlichen Verwirklichungs- und Entfaltungsbestrebungen zu einem Extrem, „welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann“. [ii]

Die Bedingungen einer radikalen Revolution, d.h. einer die Wurzeln der menschlichen Gesellschaftlichkeit ergreifenden Neugestaltung, die alle Bedingungen umwirft, in denen „der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ [iii], sind mit dem Dasein des Proletariats und seiner tatsächlichen Bewegung gegeben. Auch wenn die Wirklichkeit in der Gestalt des Proletariats so „zum Gedanken drängt“, ist damit das Problem der Verwirklichung der philosophischen Emanzipationsbestrebung lange noch nicht gelöst: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie“. [iv]

Während sich alle bisherigen revolutionären Klassen mit der Eroberung der politischen Macht als neue herrschende Klasse etablierten, so zielt die Errichtung der Diktatur des Proletariats auf das Ende jeder Klassengesellschaft, jeder Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Die Machtergreifung der Arbeiterklasse und die Errichtung ihrer Herrschaft unterscheidet sich daher fundamental von jeder früheren revolutionären Umwälzung in der Geschichte. Nicht die Verewigung der Proletarierherrschaft oder die Verallgemeinerung des „Arbeiterseins“ auf die ganze Gesellschaft ist das Ziel, sondern das Verschwinden der Klassenspaltung selbst. Solange das Proletariat noch Proletariat ist, ist es notwendigerweise vom kapitalistischen Ausbeutungssystem geprägt, sind die Proletarier selbst nach der Machtergreifung daran gehindert, ihre menschlichen Potentiale voll zu entfalten, können die emanzipatorischen Bestrebungen, die zuerst von der Philosophie formuliert worden sind, nicht für alle Menschen verwirklicht werden.

Diese Perspektive wird im Kapitalismus nicht einfach durch eine geschichtlich einmalige Anhäufung von Reichtum ermöglicht, von dem für das Weltproletariat, das ihn hervorbringt, nur Brosamen abfallen. Auch alle vor-kapitalistischen Klassengesellschaften brachten Bedingungen hervor, unter denen sich die von den Menschen selbst erzeugten Verhältnisse von ihren Absichten, Zielen und Wünschen bis zum Extrem entfremdeten. Doch erst im Kapitalismus erscheinen diese Entfremdungs- und Unterdrückungszusammenhänge in einer dinglichen, objektivierten Form, „verdinglichen“ sich zu den sachlichen Zwängen einer allumfassenden Warenwelt. Insbesondere indem den verschieden entwickelten Arbeitsvermögen selbst die Warenform aufgezwungen wird und alle Subjektivität hinter das Funktionsträgertum im versachlichten Gesamt-Kapitalverhältnis zurückgedrängt wird, erscheint der Kapitalismus endgültig als Herrschaft der Arbeitsprodukte über deren Produzenten.

Es ist klar, daß „Befreiung“ daher nur möglich ist, indem die gesellschaftlichen Beziehungen, die sich hinter der Verdinglichung verbergen, einer grundlegenden Umwälzung unterzogen werden, durch die die Menschen erst wirklich zu Subjekten ihrer Verhältnisse werden. Der Klassenkampf der unterdrückten Klasse im Kapitalismus bleibt daher solange systemimmanent und stumpf, solange er nicht zu einem Kampf für eine radikale Selbstbestimmung der Produzenten selbst wird.

Das Proletariat als Subjekt

Das Proletariat kann daher nicht bloß als eine durch die kapitalistische Warenwelt hindurch erkennbare wesentliche „objektive“ Gegebenheit begriffen werden, auch wenn deren Revolutionierbarkeit an objektive Entwicklungsbedingungen geknüpft ist. Das Proletariat im Marxschen Sinne ist vor allem ein Subjekt, das sich seiner Möglichkeiten und grundlegenden Aufgaben im Kampf gegen die alte Ordnung zunehmend bewußt wird – und überhaupt nur mit einem qualitativen Sprung der Bewußtwerdung zur Umwälzung dieser Ordnung in der Lage ist.

„Dieser Übergang ist aber – bei aller objektiven Notwendigkeit – eben der Übergang aus der Gebundenheit und Verdinglichung in die Freiheit und Menschlichkeit. Und darum kann die Freiheit nicht bloß eine Frucht, ein Resultat der Entwicklung sein, sondern es muß ein Moment der Entwicklung eintreten, wo sie zu einer der treibenden Kräfte wird, ihre Bedeutung als treibende Kraft muß ständig zunehmen, bis der Augenblick gekommen ist, wo sie völlig die Leitung der nunmehr menschlich gewordenen Gesellschaft übernimmt, wo die ‚Vorgeschichte der Menschheit‘ aufhört und ihre wirkliche Geschichte beginnen kann.“ [v]

Lukacs erklärt zurecht, daß dieses Moment der selbstbestimmten Subjektwerdung mit den Rätebewegungen 1871, 1905 und 1917 zur geschichtlichen Realität geworden ist und in Gestalt der bolschewistischen Partei ihre bisher höchste Entwicklungsform erreicht hat [vi]. In der revolutionären Partei verkörpert sich der Bewußtwerdungs- und Befreiungsprozeß des Proletariats, der unter Bedingungen vor sich geht, wo er nur durch den konsequenten Kampf um die Macht, um die Diktatur des Proletariats, zu sich selbst finden kann.

Klasse und Partei

Dies erfordert ein gegenüber dem Ganzen des Befreiungsprojekts verantwortliches Handeln, eine an Imperative des Kampfes gebundene Moral, die für die Klasse repräsentative Instanz einer politischen Organisation. Andererseits verkörpern sich die Tendenzen zur Aufhebung verdinglichter, funktionalistischer Organisationsstrukturen in einer auf radikaler Solidarität und die eigenen Ausrichtungen und Strukturen beständig kritisch hinterfragenden Partei. Sie muß „die erste Verkörperung des Reiches der Freiheit“ sein. Sobald sie aufhört, solche Tendenzen einer „Partei neuen Typs“ [vii] zu zeigen, wird sie von einer Verkörperung der Befreiungstendenzen des Proletariats zum Gegenteil, zu einer weiteren Kommandoagentur diesem gegenüber.

Genau diese Problematik greift Leo Trotzki in der Diskussion über das Übergangsprogramm auf, wenn er auf das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit eingeht:

Wir können weitergehen und sagen, daß die Disziplin unserer Partei sehr streng sein muß, weil wir eine revolutionäre Partei sind – gegen einen ungeheuren Block von Feinden, der sich seiner Interessen bewußt ist, und nun werden wir nicht nur von der Bourgeoisie angegriffen, sondern auch von den Stalinisten, die boshaftesten der bourgeoisen Agenten. Absolute Disziplin ist notwendig, aber sie muß auf einem gemeinsamen Verständnis beruhen. Wird diese Disziplin ohne dies auferlegt, ist sie ein Joch. Wenn sie vom Verständnis kommt, ist sie ein Ausdruck meiner freien Persönlichkeit, aber andernfalls ist sie ein Joch. Es besteht kein Gegensatz zwischen persönlichem Willen und der Partei, denn ich bin freiwillig eingetreten. Das Programm steht auch auf dieser Grundlage und dieses Programm kann auf einer sicheren politischen und moralischen Grundlage nur stehen, wenn wir es sehr gut begreifen.“ [viii]

Wir wollen uns jetzt der Frage zuwenden, warum und in welcher Weise die „Klassenfrage“ für revolutionäre Kommunisten heute wieder ins Zentrum der programmatischen Diskussion rücken muß: Es reicht nicht festzustellen, daß die Situation des Weltkapitalismus die Frage der sozialistischen Alternative wieder einmal „objektiv“ auf die Tagesordnung setzt, daß die Arbeiterklasse weiterhin „objektiv“ als unterdrückte Klasse existiert oder daß die objektive Situation die Klassen, ob sie es wollen oder nicht, heute in allen Erdteilen wieder in schärfere Formen der Klassenkonfrontation zwingt. Der historisch erreichte Stand einer mächtigen, die Grundlagen der Gesellschaft umwälzenden, klassenbewußt-emanzipatorischen Bewegung wurde mit den Niederlagen der Arbeiterbewegung seit den 20er-Jahren und der Entstehung des Phänomens Stalinismus in beispielloser Art und Weise untergraben. Das Proletariat als eine seiner Aufgabe bewußten Bewegung ist in allen Kontinenten heute nur noch als historisches Spurenelement erfahrbar.

Stalinistische Mythen

Im Stalinismus verkam der Begriff „Wille der Arbeiterklasse“ zu einer Mythologisierung der eigentlichen Interessen der handelnden Partei- und Machteliten. Konsequenterweise war auch die stalinistische „Klassentheorie“ eine Sammlung positivistischer, verdinglichter Kategorien, in denen „objektive“ soziologische Untersuchung und politisches Handeln fein-säuberlich („wissenschaftlich“) getrennt waren. Die Sonntagsrede von den „sich ständig verschärfenden Klassenwidersprüchen“ war bloßer Ausdruck des instrumentalistischen Verhältnisses zur Arbeiterklasse, die vor allem als Manövriermasse in den taktischen Wendungen der um ihre Macht besorgten Parteibürokratie diente.

Die Partei selbst, statt „erste Verkörperung des Reichs der Freiheit“ zu sein, wurde durchzogen von, den kapitalistischen Rationalitätsprinzipien zugehörigen, bürokratisch-instrumentalistischen Funktionsweisen, in Verkehrung des noch bei Lenin klar vorhandenen Verständnisses von der Partei als der höchsten Form der Selbstorganisation des Proletariats unter den gegebenen historischen Bedingungen.

Der emanzipatorische Gehalt des Proletariats-Begriffs wurde so gründlich entsorgt, daß die mechanistische Vorstellung vom geschichts-automatischen Übergang zum Kommunismus fast allgemeingültig mit der Marxschen „Klassenlehre“ verwechselt wird: Danach führen die objektiv-unbewußt vor sich gehenden ökonomischen und demokratischen Kämpfe der „Arbeiterklasse“ unter der „wissenschaftlichen“ (d. h. angeblich bewußten) Führung einer kommunistischen Partei zu objektiven gesellschaftlichen Umwälzungen, die in einem kontrollierten Prozeß des Übergangs quasi-automatisch in den „Kommunismus“ übergeführt werden können; die Hauptschwierigkeit bilden dabei die extrem-reaktionären kapitalistischen Machteliten, die nicht nur zu faschistischer Gewalt jederzeit bereit sind, sondern auch die „Arbeiterklasse“ immer wieder vom rechten Weg abzulenken versuchen.

Statt also die Frage der Selbstorganisierung und -bewußtwerdung in allen Fragen der Politik und des Alltags ins Zentrum zu rücken, werden taktische Fragen von den strategischen Zielen der proletarischen Bewegung losgelöst und als bloß technisch-organisatorische Probleme behandelt. Das Proletariat wird nicht als Potential, als mögliches, werdendes Subjekt der Befreiung, aufgefaßt, sondern als positiv „Gegebenes“. Es ist dabei zweitrangig, ob die Arbeiterklasse „eng“ gefaßt und im Wesentlichen auf das Industriearbeitermilieu und seine ökonomischen Kämpfe reduziert wird, oder ob sie, wie bei den Stamokap-Theorien, fast alle Lohn- und Gehaltsbezieher einschließt und die „anti-monopolistische Demokratie“ der Arbeiterklasse als strategisches Ziel suggeriert wird.

Proletariatsbegriff und bürokratische Herrschaft

Es verwundert daher auch nicht, daß die soziale Realität und Vorstellung von „Sozialismus“ in den stalinistischen Gesellschaften eher eine Verallgemeinerung des Schicksals der Industriearbeiterschaft darstellte, „wo die Bestimmung des Arbeiters … nicht aufgehoben, sondern auf alle Menschen ausgedehnt“ wird – wie Marx kritisch bemerken würde. Gegenüber diesem „real existierenden“ Proletariat, das in seinen entfremdeten Bedingungen weiterhin funktionierte und zu funktionieren hatte, mußte die Rede vom „revolutionären Proletariat als geschichtlichem Subjekt“ wie auch die von der „Partei neuen Typs“ notwendigerweise zu einer Mythologie verkommen.

Die Zerstörung der in jahrzehntelangen Kämpfen herausgebildeten revolutionären Subjekthaftigkeit des Proletariats durch Sozialdemokratie und Stalinismus ging nicht widerstandslos und nie vollständig vonstatten. Doch muß die Tatsache, daß zwei so zentrale Verkörperungen der Emanzipationsbestrebungen einer Klasse wie die Zweite und Dritte Internationale innerhalb von wenigen Jahrzehnten oder gar Jahren in das Funktionsgefüge des kapitalistischen Weltsystems integriert werden konnten und sogar zu wesentlichen politischen Ordnungsfaktoren desselben wurden, in dieser Klasse schwerwiegende Blockierungen seiner systemüberwindenden Tendenzen und ihrer Organisierung hervorbringen.

Trotzkis Kritik

Trotzki repräsentierte in den 20er und 30er Jahren die weitsichtigste und einzig konsequente Form der Verteidigung des revolutionären Marxismus. Insbesondere seine Kritik der KPD-Linie im Kampf gegen die Machtergreifung der Nazis, etwa in der „Einheitsfront“-Debatte, zeigt ein klares Gegenüberstellen von instrumentalistischem Verhältnis zur Klasse gegenüber der „Verkörperungs“-Perspektive:

„Die Klasse an sich ist nur Ausbeutungsmaterial. Die selbständige Rolle des Proletariats beginnt dort, wo es aus einer sozialen Klasse an sich zu einer politischen Klasse für sich wird. (…) Der Weg der Klasse zum Selbstbewußtsein, d.h. die Herausbildung einer revolutionären Partei, die das Proletariat hinter sich herführt, ist ein verwickelter und widerspruchsvoller Prozeß. Die Klasse ist nicht homogen. Ihre verschiedenen Teile kommen auf verschiedenen Wegen und zu verschiedenen Zeitpunkten zu Bewußtsein. Die Bourgeoisie nimmt aktiven Anteil an diesem Prozeß. Sie schafft ihre Organe innerhalb der Arbeiterklasse oder benutzt die vorhandenen, indem sie bestimmte Schichten von Arbeitern anderen gegenüberstellt. Im Proletariat wirken gleichzeitig verschiedene Parteien. Politisch bleibt es daher den größten Teil seines historischen Weges gespalten“ [ix]

Das Proletariat als politische Bewegung ist daher für Trotzki keine „Gegebenheit“, sondern eine Aufgabe, für die politisch gekämpft werden muß in Auseinandersetzung mit den das Proletariat dominierenden politischen Strömungen. Erst die Herausbildung einer die überwältigende Mehrheit der Arbeiterklasse umfassenden revolutionären Strömung formt das Proletariat zu einer Klasse, die überhaupt erst als politisches Subjekt sichtbar und wirksam wird. Dagegen besteht das Prinzip stalinistischer Ideologie gerade darin, die erst zu erreichende politische Subjekt-Werdung des Proletariats bereits im Parteiapparat als gegeben zu sehen, der damit vom tatsächlichen Bewußtseinsstand, Befreiungswillen und -vorstellungen des tatsächlichen Proletariats vollständig unabhängig wird:

„Die im Prinzip bestehende Identität der Interessen des Proletariats und der Aufgaben der Kommunistischen Partei bedeutet weder, daß sich das gesamte Proletariat schon heute seiner Interessen bewußt ist, noch daß die Partei sie unter allen Umständen richtig formuliert. Erwächst doch die Notwendigkeit der Partei selbst gerade daraus, daß das Proletariat nicht mit zureichendem Verständnis seiner historischen Interessen auf die Welt kommt. Die Aufgabe der Partei besteht darin, in der Kampferfahrung zu lernen, dem Proletariat ihr Recht auf Führung zu beweisen. Aber die stalinistische Bürokratie glaubt, auf Grund des mit dem Kominternsiegel versehenen Parteipasses vom Proletariat kurz und bündig Unterwerfung fordern zu können. Jede Einheitsfront, die nicht im Voraus unter Führung der Kommunistischen Partei steht – wiederholt die ‚Rote Fahne‘ -, ist gegen die Interessen des Proletariats gerichtet. Wer die Führung der Kommunistischen Partei nicht anerkennt, ist schon dadurch ein ‚Konterrevolutionär‘. Der Arbeiter ist verpflichtet, der kommunistischen Organisation auf Vorschuß, aufs Ehrenwort Glauben zu schenken. Aus der prinzipiellen Identität der Aufgaben von Partei und Klasse leitet der Bürokrat sein Recht ab, die Klasse zu kommandieren. Die historische Aufgabe, welche die Kommunistische Partei erst zu lösen hat – Vereinigung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiter unter ihrem Banner – verwandelt die Bürokratie in ein Ultimatum, einen Revolver, den sie der Arbeiterklasse an die Schläfe setzt. Das dialektische Denken wird durch formalistisches, administratives, bürokratisches Denken ersetzt“. [x]

Hier streift Trotzki das wesentliche Moment des marxistischen Proletariatsbegriffes. Er kann nicht als Summe seiner zersplitterten Einzelkämpfe, nicht als Ensemble seiner Aktionen zu einem bestimmten Zeitpunkt begriffen werden, sondern muß vom Endpunkt seiner revolutionären Klassenbildung her, von den weltgeschichtlichen Perspektiven der proletarischen Bewegung, gefaßt werden. Andererseits ist dieser Endpunkt jedoch aus der mit dem Kapitalverhältnis gegebenen materiellen Klassenlage und der darauf aufbauenden historisch gegebenen tatsächlichen Klassenbildung zu entwickeln.

Wird dieses dialektische Spannungsverhältnis in Klassenanalyse oder darauf aufbauender Politik nicht gehalten, so ist dem Wechselspiel von Mythologisierung, Ultimatismus und Instrumentalisierung Tür und Tor geöffnet. Zumeist drückt sich das dann in der Dopplung von „Klassentheorie“ und „revolutionärer Politik“ aus. Der „Klassentheorie“ kommt die Aufgabe einer Vergewisserung der „Praktiker“ zu, daß das Proletariat im Prinzip immer noch das entscheidende revolutionäre Subjekt sei. Dazu wird zumeist eine empiristisch-positivistische Analyse der „gegebenen“ Klassenschichtungen mit der „die Klassenwidersprüche verschärfen sich“-Analyse verknüpft. Diese Analysen zeichnen sich jedoch vor allem dadurch aus, daß sie für die tatsächliche klassenmäßige Rückkopplung von „praktischer Politik“, insbesondere was die klassenbildungsmäßige Bedeutung bestimmter Bewegungen innerhalb der Arbeiterklasse oder unterdrückter Agrarbevölkerungsschichten betrifft, meist konsequenzenlos bleiben. Es bleibt dann nur noch zu staunen, welche politischen Bewegungen, politischen Orientierungen und Wendungen etc. plötzlich zu den aktuellen „Verkörperungen“ des historisch-revolutionären Bildungsprozesses des Proletariats würden.

Die Epigonen brechen mit Trotzkis Verständnis

Diese Degeneration des Marxismus hat sich nicht auf die stalinistisch geprägten Organisationen und Theoretiker oder ihre maoistischen Ableger beschränkt – auch der Großteil der sich auf Trotzki beziehenden Organisationen ist seit Beginn der Nachkriegsperiode durch ein Verhältnis zur Arbeiterklasse gekennzeichnet, das zwischen Mythologisierung und Positivismus schwankt. In der Kalten-Kriegs-Situation, in der die Arbeiterklasse und ihr revolutionäres Potential vollständig in sozialdemokratische oder stalinistische Blöcke kanalisiert und blockiert wurde, waren die Vertreter einer revolutionären Organisierung des Proletariats in eine praktisch/theoretische Isolation gedrängt, die sich nicht einfach durch Festhalten an der „Orthodoxie“ überwinden ließ. In verschiedenen Varianten wurde von den Epigonen Trotzkis (Pablo, Mandel, Healy, Lambert,…) die Aufgabe der revolutionären Subjektwerdung des Proletariats im Parteibildungsprozeß durch die „Entdeckung“ objektiv-unbewußter revolutionärer Subjekte ersetzt, die in der „revolutionären Übergangsperiode“ automatisch zu richtigen revolutionären Handlungen gedrängt werden.

Die Aufgabe der revolutionären marxistischen Organisation gegenüber solchen neuen Erscheinungsformen des revolutionären „Weltgeistes“, wie Tito, Mao, Castro, den Sandinistas, diversen linksreformistischen Gewerkschaftsführern, etc. bestünde in der solidarisch-begleitenden Kritik, in der Verstärkung der „objektiven“ revolutionären Tendenz. Statt die Instrumentalisierung der Arbeiterklasse und unterdrückten Landbevölkerung durch solche Linkswendungen im stalinistisch-sozialdemokratischen Block offenzulegen und ihre besondere Rolle in der Blockierung der Selbstorganisation der Klasse aktiv zu bekämpfen, wurden sie zu einer „verzerrten Form“ dieser Selbstorganisierung hochgejubelt, von der man sich nicht sektiererisch abschließen dürfe.

Damit war der Weg bereitet für das gleichzeitige Hochhalten des Mythos vom revolutionären Proletariat und der auf dem Fuße folgenden Abkehr von jedem Vertrauen in die tatsächliche Revolutionierbarkeit der Klasse, die sich in der Bejubelung eindeutig nicht-proletarisch-revolutionärer Bewegungen und Organisationen ausdrückte. Bei dieser Inkonsistenz und gleichzeitigem formalen Beibehalten des Konzepts der „Partei neuen Typs“ war natürlich die endlose Kette von Spaltungen der trotzkistischen Gruppierungen vorprogrammiert.

Der manipulativen Anpassung an alle möglichen nicht-revolutionären Strömungen in- und außerhalb der Arbeiterklasse entspricht natürlich auf der anderen Seite das ultimatistische Beharren auf „orthodoxen“ Positionen des „revolutionären Proletariats“. Im Extremfall können sich trotzkistisch nennende Organisationen dann zu regelrechten Karikaturen des bürokratischen Ultimatismus des Stalinismus gegenüber der Arbeiterklasse werden – nur daß es keine ihnen wohlgesonnene Arbeitermassen gibt, denen sie die Pistole an die Schläfe setzen könnten.

Von der maoistischen Posse …

In der Bundesrepublik wurde nach den „Studentenprotesten“ der späten 60er Jahre in sehr viel kurzlebigerer Form unter dem Label des „Maoismus“ dasselbe Drama nochmals durchlaufen. Der Anspruch, in kürzester Zeit eine proletarische Partei „neuen Typs“ in völliger Mißachtung der tatsächlichen Kampf- und Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse aufbauen zu können, endete meist noch in den 70er Jahren entweder in der vollständigen Anpassung an „Ersatzsubjekte“ (z.B. den Grünen) oder im rigiden Ultimatismus nach dem Vorbild der Sozial-Faschimus-Bekämpfer der KPD der späten 20er Jahre.

Wurden diese Entwicklungen des trotzkistischen oder maoistischen Zentrismus auch von vielen mit überheblicher Ironie verfolgt, so waren sie doch bloß der organisierteste, konsequenteste Ausdruck einer allgemein in der Linken jenseits von SPD und DKP (aber natürlich auch in deren „linken“ Teilen) herrschenden Haltung zur Arbeiterklasse: einerseits eine wachsende Abkehr von der Perspektive einer Revolutionierbarkeit des realen, sozialdemokratisch dominierten Proletariats, andererseits die Aufrechterhaltung des Mythos vom bald und in einigen fernen Ländern (Vietnam, Chile,…) schon jetzt erscheinenden revolutionären Proletariat.

Diese Doppelbödigkeit war nicht nur die Marotte einiger trotzkistisch/maoistischer Sektierer, sondern praktisch kennzeichnend für den Mainstream der westeuropäischen Linken. Je größer die Kluft zwischen tatsächlichen Perspektiven und linker Mythologie wurde, umsomehr boomte vor allem in der BRD der 70er Jahre die Literatur zur „Klassentheorie“. Dies hatte aber vor allem den Charakter einer abstrakten Selbstvergewisserung und produzierte immer mehr sich verselbständigende quasi-akademische Scheindebatten – etwa um den Klassencharakter der „technischen Intelligenz“. Zu dem Problem, wie denn die in ökonomistischen Kämpfen und Illusionen in reformistische Politik blockierte Klasse wieder zum Bewußtsein ihrer radikalen Bedürfnisse nach Befreiung und einer entsprecheden revolutionären Selbstorganisierung finden könne, hat diese Debatte wenig beitragen können.

… zur Abkehr vom Proletariat

Es ist daher wenig verwunderlich, daß gerade unter den theoretischeren Köpfen dieser Linken eine stärker und stärker werdende Tendenz zur Entsorgung des lästig werdenden Proletariats-Mythos einsetzte. Ein wichtiger Ausgangspunkt in der BRD hierfür war die sogenannte „kritische Theorie“. Insbesondere Adornos Begriff des „Spätkapitalismus“ schien zu erklären, warum der Klassenwiderspruch in der Entwicklung des Kapitalismus von Auschwitz bis heute sein Befreiungspotential endgültig verloren habe. Die Herrschaft des Tauschwertes ist nach Adorno derart total geworden, daß selbst die sublimsten Regungen des individuellen Lebens davon betroffen sind und jede über seine Rationalität hinausgehenden Erfahrungen, Bedürfnisse oder gar Zielsetzungen von Grund auf gehemmt würden (siehe z.B. „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“ oder „Reflexionen zur Klassentheorie“):

„Die Gewalt jenes Abstraktums [d.h. des „Tauschverhältnisses] über die Menschen ist leibhaftiger als die einer jeden einzelnen Institution, die stillschweigend vorweg nach dem Schema sich konstituiert und es den Menschen einbläut“ [xi]; so wird durch die nach dem Tauschprinzip konstituierten Meinungsmonopole „die einfachste Kenntnis und Erfahrung der bedrohlichsten Vorgänge“ gehemmt; „die Verselbständigung des Systems gegenüber allen, auch den Verfügenden hat einen Grenzwert erreicht“ [xii]. Unter diesen Umständen wird die Konstitution einer Klasse zur bewußten, diese Tauschzwänge negierenden revolutionären Bewegung unmöglich – die Konfliktlinie verschiebt sich zum von den Widersprüchen dieses allmächtigen Abstraktums bedrohten „Menschen“.

Die diversen, dieser Spätkapitalismus-These folgenden politischen Theorien (z.B. Offe „Spätkapitalismus – Versuch einer Begriffsbestimmung“), erklärten daher den Klassenwiderspruch für befriedigt durch diverse „spätkapitalistische Regulierungs-Institutionen“, allerdings mit Verschiebung der Grundwidersprüche des Kapitalverhältnisses auf diverse strukturelle Widersprüche „nachgeordneter Lebensbereiche“ (z. B. Mißverhältnis zwischen hochentwickelten Militärapparaten und stagnierender Entwicklung des Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungswesens; Einsatz nur bedingt beherrschbarer Großtechnologien, z.B. Atomkraft). Praktisch wies dies ein breites Absprungfeld vom „revolutionären Klassenkampf“ im linksextremen Blätterwald hin zu Bürgerinitiativen, „neuen sozialen Bewegungen“ etc.

Kurzsche Marxkritik

Zeitgenössisch weitergeführt und verschärft wird diese Linie etwa von der „krisis-Gruppe“ in ihrer „Kritik der Warengesellschaft“. Mit der Behauptung, der Klassenkampf könne heute nur noch „die immanente Formbestimmung des Kapitalverhältnisses“ darstellen, nicht mehr aber eine Bewegung zur Aufhebung dieses Verhältnisses, findet sich z.B. bei Robert Kurz eine zentrale Achse für die Abkehr vom „Arbeiterbewegungsmarxismus“:

„Marx konnte diese beiden Ebenen sozialer Emanzipationsbewegung [Klassenkampf, Aufhebung des Kapitalverhältnisses]  noch kurzschlüssig in eins setzen (obwohl dies von Anfang an begrifflich verschwommen blieb), weil die relative Emanzipation innerhalb von Warenform und Lohnarbeit noch einen geschichtlichen Horizont vor sich hatte. Jetzt ist das Kapitalverhältnis völlig ausentwickelt bis an seine äußerste Grenze und wir haben es deswegen mit der Krise des gemeinsamen Bezugssystems von ‚Kapital und Arbeit‘ zu tun. Erst wenn man das begriffen hat, wird verständlich, warum die neue sozialökonomische Krise zusammenfällt mit der Paralyse des alten Klassenkampfes. Es geht also nicht um die ‚kleinbürgerliche Klassenversöhnung‘ innerhalb und auf dem Boden der (gemeinsamen) totalen Warenform, sondern um die Kritik und Aufhebung dieser gemeinsamen historisch-gesellschaftlichen Fetischform selber. Denn jetzt wird unausweichlich deutlich, daß alle Erscheinungen der sozialen Degradation, der Armut und Unterdrückung primär dieser Form der totalen Ware-Geld-Beziehung als solcher und nicht der bloßen Subjektivität ihrer selber bornierten Funktionsträger entstammen“. [xiii]

Die keineswegs neue Erkenntnis, daß die Lohnarbeiter selbst in ihren Auseinandersetzungen mit dem Kapital in Tauschkategorien befangen sind und mit der Warenförmigkeit ihres Arbeitsvermögens selbst in das verdinglichte Kategoriensystem kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Rationalität verstrickt sind, wird hier zur Aussage verkehrt, Marx habe im Proletariat ein revolutionäres Potential erkannt, weil es zu seiner Zeit noch nicht vollständig in das Geld-Ware-System integriert war. Gerade umgekehrt sah Marx die Arbeiterklasse als sich herausbildendes revolutionäres Subjekt, da in ihr die Widersprüche dieser Beziehung sowohl zum Extrem der Entmenschlichung getrieben werden, andererseits auch die Handlungsmöglichkeit eines die Bedingungen des Arbeitsprozesses (als konstituierendes Element des menschlichen Seins) in bewußte Regie nehmenden Subjekts entsteht.

Was Ersteres betrifft: Marx sieht die Betroffenheit von den Entfremdungsprozessen, die mit der Warenform gegeben sind zwar auch für die gesamte Gesellschaft, keineswegs jedoch in unterschiedsloser Weise:

„Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß diese Entfremdung als ihre eigene Macht, und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die Zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz“. [xiv]

Daß das Proletariat auch diese Form der Existenz nur durch ökonomischen Klassenkampf – ob zur Beschränkung des Arbeitstages, zur Sicherung von Gesundheitsversorgung, gegen beständige Verschlechterung von Arbeitsbedingungen, etc. – sichern kann, bedeutet freilich noch keinen Schritt zur Überwindung dieses Systems. Aber es ist beständiges Moment für die Herausbildung kollektiver Erfahrung, Bewußtheit und Organisierung in einer gemeinsamen, nicht bloß vereinzelten Auseinandersetzung mit der „Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz“.

Die Auflösung des „gemütlichen Herr-Knechtverhältnisses“ des Feudalismus und der irrationale Systemzwang der Kapitalakkumulation, der das Kapital immer wieder dazu zwingt, die Existenzgrundlage der Arbeiterklasse und die Natur, damit seine eigenen Reichtumsquellen anzugreifen, erzeugt eine Dynamik von Klassenkonfrontation, die es in der Geschichte von Klassengesellschaften bisher nicht gab. Dies schafft die Möglichkeit für die Herausbildung eines massenhaften revolutionären Bewußtseins, ist aber dafür noch nicht hinreichend.

Die sogenannte “Aufhebung der Arbeit”

Zweitens verkehrt die krisis-Theorie die Marxsche Wertanalyse zu einer post-modernen irrationalistischen Kritik am „Arbeitsfetischismus“. Marx erkannte in der Hervorbringung der Wertform nicht nur eine Verschleierung von Ausbeutungsverhältnissen, sondern durchaus auch einen historischen Fortschritt, durch den der gesellschaftlich effektive Gebrauch von vorhandenem Arbeitsvermögen in Form von Arbeitszeitquanta in eine für alle wahrnehmbare, öffentliche und berechenbare Form tritt. Nicht dies ist das Entfremdungsphänomen des Kapitalismus, sondern die Tatsache, daß diese Rationalisierung/Vergesellschaftlichung des Arbeitsprozesses ohne Gesamtplanung von dessen Zielen, sondern unter Bedingungen der privaten Aneignung vor sich geht. Dies führt dazu, daß diese Form sich verselbständigt, daß aus Geld Kapital wird.

Es geht daher keineswegs um die „Aufhebung von ‚Arbeit'“ wie es Robert Kurz besonders peppig zu formulieren versucht, sondern um ihre Neuorganisation durch ein bewußtes Gesamtsubjekt der Produktion. Dieses beläßt es zwar nicht bei den Rationalitätsprinzipien der kapitalistischen Produktion, kann aber nicht hinter das erreichte Niveau an Vergesellschaftung und Effektivität im Einsatz des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens zurückfallen. Die Überwindung und Aufhebung der Warenform in einer gesellschaftlich progressiven Form kann nur über die Umwälzung des Produktionsbereiches und der gesellschaftlichen Beziehungen in ihm erfolgen. Hierin ist die Möglichkeit gegeben, daß aus der Dynamik von Klassenkämpfen auch tatsächlich revolutionärer Klassenkampf werden kann, da er mit einer systemüberwindenden Perspektive, also einem revolutionären Programm geführt werden kann.

Ohne diese tatsächliche Bewegung eines Klassensubjekts bleibt gegenüber der Allmacht des Tauschwerts nur die „Kritik“ und die „Verweigerung“ der Einzelnen. Genau dies ist auch die Konsequenz des Weges von Adorno bis Kurz: „Das bedeutet als unabdingbaren kategorischen Imperativ hier und heute die (auch emotionale) Verweigerung des kapitalistischen Leistungs- und Erfolgswahns, die historische ‚Arbeitsverweigerung‘ (…). Es gilt überhaupt (…), eine Kultur der Verweigerung zu entwickeln“. [xv]

Es ist klar: der überkommene „Arbeiterbewegungsmarxismus“ mit seinen Gleichsetzungen von ökonomischem und revolutionärem Klassenkampf, seinen Mythologisierungen der sozialdemokratisch dominierten Arbeiterklasse, die kurz davor steht, zum revolutionären Proletariat zu mutieren, dem Hochjubeln aller möglichen Nationalisten und Kleinbürger zu „neuen Lenins“ etc. hat es den Kritikern wie Robert Kurz (der allerdings wie viele ähnlich gelagerte Fälle vorher selber zu den Elchen zählte) leicht gemacht mit zum Teil berechtigter Kritik an der Degeneration des revolutionären Marxismus zugleich das ganze Marxsche Konzept des revolutionären Proletariats über Bord zu werfen.

Der Erfolg dieser rechten Kritik am „Arbeiterbewegungsmarxismus“ liegt allerdings nicht vorrangig an ihren eigenen theoretischen Stärken. Wo sie wirkliche Schwächen der Linken trifft, wurden diese Argumente schon früher und ausführlicher vorgebracht. Die politischen Schußfolgerungen der krisis-Gruppe bedienen auch ein Bedürfnis der kleinbürgerlichen Linken, besonders des autonomen Milieus. Die „Aufhebung der Arbeit“ erfreut sich bei diesen Gruppierungen nicht aufgrund ernster revolutionären Ziele und theoretischer Anstrengungen solcher Beliebtheit sondern vor allem, weil damit die kleinbürgerliche Existenzweise der Autonomen höhere „anti-kapitalistische” Weihen erhält. „Abschaffung der Arbeit“, nichts tun und schon gar keine Verantwortung über den Mief des autonomen „Zusammenhangs“ hinaus übernehmen zu müssen – das spricht dieser anti-proletarischen geistigen und sozialen Strömung aus der Seele.

Das ändert jedoch nichts daran, daß der Proletariatsbegriff nur gerettet werden kann, wenn er durch eine Kritik seiner Verstümmelung wieder auf die Höhe der Zeit gehoben wird. Denn es handelt sich hier keineswegs um einen Streit um bloße Begriffe, sondern um die prinzipielle Frage der Möglichkeit einer radikalen Umwälzung des Kapitalismus in seiner heute neu erscheinenden Form, unter den Bedingungen einer wesentlich neu formierten Klassenlandschaft, nach einer historischen Entwicklung, die durch den jahrzehntelangen Bruch revolutionärer Kontinuität in der Arbeiterbewegung gekennzeichnet war.

Da kann man sich nicht auf die Wiederholung revolutionärer Programme der Vergangenheit, auf „das kann man alles bei den Klassikern nachlesen“ etc. zurückziehen. Diese Situation erfordert eine fundamentale, programmatische Neuorientierung, einen neuen Anlauf im Herausbildungsprozeß der Arbeiterklasse als revolutionärer Klasse. Das bedeutet aber auch, daß Grundkategorien, wie der Klassenbegriff, neu angeeignet werden und aus ihrer verknöcherten, überkommenen Form herausgelöst werden müssen, um immer wieder neu gegen die verfehlten Denkmuster des degenerierten Marxismus anzukämpfen. Schließlich ist klar, daß im Zeitalter des postmodernistischen Irrationalismus nicht bloß in Frage gestellt wird, daß das Proletariat das revolutionäre Subjekt der Veränderung sein kann. Es wird grundlegend die Suche nach einem solchen „umfassenden Subjekt“ für „mythologisierend“ und totalitär erklärt.

In den poststrukturalistischen Dekonstruktionen des „Proletariats-Mythos“ wird mehr oder weniger der Versuch in der Vielheit der differierenden „Subsysteme“ noch ein Subjekt, ein Bewußtsein des Gesamtzusammenhangs, ein gemeinsames Handeln zu schaffen, als bloßes Erzeugen eines neuen Subsystems von objektivierenden Zwängen erklärt. Dieser an sich banale, aber sehr wortreich vorgetragene Versuch, eine „aufs Ganze“ zielende politische Orientierung für unmöglich zu erklären, muß hier nicht weiter behandelt werden.

Er wurde eigentlich schon von Lukacs in seinem Aufsatz „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ eindrucksvoll dargelegt, in dem er zeigte, wie sich das bürgerliche Denken gegen die Kategorie der Totalität wehrt, gerade weil hinter der scheinbaren Unübersichtlichkeit und Vielheit der verschiedensten Teilsysteme der kapitalistischen Gesellschaft, ein doch ganz eindeutiger, totalitärer Zusammenhang besteht: der Wert und seine Bewegungsformen, der schließlich sehr wohl ein allumfassendes Subjekt hervorbringt, wenn auch nur das „automatische Subjekt“ des sich selbst verwertenden Wertes, auch Kapital genannt.

Quelle: arbeitermacht.de….

[i] K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“; MEW Band 1, S.391

[ii] ebd., S.390

[iii] ebd.,S.385

[iv] ebd., S.391

[v] G. Lukacs, „Die moralische Sendung der kommunistischen Partei“(1920); aus: ,“Taktik und Ethik“, Darmstadt, 1975; S.222

[vi] siehe: „Sozialismus und Demokratisierung“, FfM, 1987; S.97

[vii] Unter „Partei neuen Typs“ verstehen wir hier die Bolschewistische Partei Lenins. Keineswegs meinen wir die anti-revolutionären bürokratischen Gebilde, die Stalinisten und Maoisten als „Parteien neuen Typs“ bezeichneten, die jedoch das genaue Gegenteil der leninschen Partei darstellen.

[viii] Trotzki, Weitere Diskussionen über das Übergangsprogramm, in: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale, S. 62

[ix] L. Trotzki, „Was nun?“, aus: Schriften über Deutschland, S.202f

[x] ebd., S.204f.

[xi] T. Adorno, Spätkapitialismus oder Industriegesellschaft, Stuttgart 1969, S.21.

[xii] ebd., S.21.

[xiii] R. Kurz, „Die letzten Gefechte“, in: krisis18, Bad Honnef 1996, S.45

[xiv] K. Marx / F. Engels, Die Heilige Familie, MEW Band 2, S.37.

[xv] R. Kurz, „Die letzten Gefechte“, in: krisis18, Bad Honnef 1996, S.49

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