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Das Mindestlohndebakel – dank Sozialpartnerschaft

Eingereicht on 30. Mai 2014 – 15:30

Willi Eberle. Seit Jahren bröckeln die real verfügbaren Löhne und Renten eines grossen Teils der Bevölkerung. Von daher hat die von den Gewerkschaften 2008 lancierte Mindestlohn-Initiative viel für sich. Umso mehr mag erstaunen, dass diese am 18. Mai 2014 von über ¾ der Stimmenden abgelehnt wurde. Die massive Ablehnung ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die Gewerkschaften selbst in den zentralen Bereichen der Arbeits- und Alltagsrealität der Lohnabhängigen kaum mehr Glaubwürdigkeit besitzen. Eine Einschätzung.

«Ein starkes Land braucht faire Löhne». So prangte es stolz von den Plakatwänden und auf der Web-Seite des Initiativkomitees, des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und weiterer Verbände; einige Sektionen wollten offenbar von solch dummen Spässen etwas Abstand nehmen und setzten stattdessen «Gute Arbeit. Mindestlohn». Die Co-Präsidentin der Unia, Vania Alleva, sagte auch gleich, worum es den Gewerkschaften geht: « Dieses Erfolgsmodell [der Schweiz] ist ….auch dem Masshalten [der Gewerkschaften] bei den Löhnen» zu verdanken (NZZ 12.Okt. 2013).

Die Forderung der Initiative ist tatsächlich bescheiden, wenn man die Entwicklung der realen Lebenshaltungskosten betrachtet. So arbeiten mindestens 330‘000 Menschen, über 8% der Lohnabhängigen, mit einem Lohn von unter 48‘000.- per Jahr (Vollzeitäquivalent). Zahlen bestätigen, dass in den vergangenen 15 Jahren für 90% der Lohnabhängigen die Löhne kaum entsprechend der Steigerung der realen Lebenshaltungskosten gestiegen und für etwa ⅕ davon gar gefallen sind (Tages Anzeiger 29. April 2014). Die Unternehmerverbände sagten denn auch klar, wer hier in diesem scheinbaren Erfolgsmodell das Sagen hat, und bauten ihre Gegenkampagne auf ihre unumschränkte Macht in den Betrieben und in der Politik auf: sie drohten bei einer Annahme der Initiative mit einer Entlassungswelle. Sie wissen nur zu gut, dass die Gewerkschaften und die Regierungslinke dieser Drohung nichts Glaubwürdiges entgegenzusetzen haben.

Alleine gelassen im Arbeitsalltag

Wie sieht diese Ohnmacht im Alltag eines Arbeiters aus? So etwa (A l’encontre, Eintrag vom 19. Mai 2014): «Man kann von uns nicht jeden Tag verlangen, im Betrieb brav zu sein, nicht zu laut zu werden, zu schweigen, den Unternehmer als Partner anzusehen und dann, am Tag der Abstimmung, zum angreifenden Tiger zu werden». Dann fährt er weiter: «Dies umso mehr, wenn das Schweigen wie eine Bleikappe über der Wut und den Enttäuschungen und den Ängsten liegt. Meine Erfahrung lehrt mich aber: mein Chef hat überhaupt nicht gezögert, mich zu entlassen».

So beneiden denn etwa ausländische Medien die Schweiz als Unternehmerparadies, wo das Volk regelmässig die Macht der Unternehmer in den Abstimmungen bestätigt und heben dabei insbesondere den fehlenden Kündigungsschutz hervor (z.B. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Mai 2014). Allerdings aus einer anderen Optik als der oben zitierte Arbeiter, der wohl für die Mehrheit steht, die im Alltag dieser Allmacht der Unternehmer beinahe schutzlos ausgeliefert sind. Dank der Politik der Sozialpartnerschaft und des Arbeitsfriedens, die für die Lohnabhängigen jeglichen Ansatz kollektiven Widerstandes beinahe undenkbar macht.

Die Arbeiterbewegung, deren Produkt die Gewerkschaften sind, war aber ursprünglich, gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, aufgebaut auf Formen des kollektiven Widerstandes gegen die Macht der Unternehmer in den Betrieben und in der Politik. Die Errungenschaften im Bereich der Einkommen, der Arbeitsbedingungen und der Demokratie waren Resultat von kollektiven Kämpfen und von Mobilisierungen der Arbeiterklasse. Der seit 40 Jahren fortschreitende Abbau dieser Errungenschaften ist entsprechend ein Abbild der Degenerierung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Das wachsende Misstrauen breiter Bevölkerungsteile gegenüber ihnen findet angesichts dieser Situation keine andere Ausdrucksform, als eine wachsende Orientierung zu den «systemkritischen» rechtsnationalen Parteien, wie etwa die Europawahlen vom 25. Mai gezeigt haben.

GAVs für wen?

In vielen Bereichen gibt es GAVs mit Minimallöhnen unter 4‘000.-/Monat, oder 48‘000.- im Jahr. Z.B. der vielgepriesene und traditionsreiche  GAV der MEM-Industrie, der 2013 in Kraft trat, weist erstmals seit über 75 Jahren überhaupt Bestimmungen über Minimallöhne auf. Er umfasst 555 Betriebe mit  96‘000 Lohnabhängigen, davon über 80% Männer und legt in bestimmten Regionen Mindest-Jahreslöhne (auf Basis von 2’080 Arbeitsstunden) von 46‘800.—bzw. gar nur 42’900.—fest. Weshalb schloss die Gewerkschaft bis kurz vor der Abstimmung beinahe nur GAVs ab, die auch Mindestlöhne unter 4‘000.- festlegen?

Mit wenigen Ausnahmen werden GAVs hinter dem Rücken der Lohnabhängigen unter absoluter Geheimhaltung von der Gewerkschaftsspitze geführt. Man wird unwillkürlich an die Vorkommnisse um Arbeitskämpfe erinnert, wo sich die Gewerkschaftsführungen offen gegen die Streikenden wandten, um mit den Unternehmern in Geheimverhandlungen ein Abkommen zu treffen, das meist weit entfernt war von den Forderungen der Streikenden. Erinnert sei an den Generalstreik vom November 1918, an den Abschluss des historischen Friedensabkommens vom Sommer 1937, an den historischen Arbeitskampf der Arbeiter und Arbeiterinnen der Swissmetal in Réconvilier (2006) , an den Arbeitskampf in der Kartonfabrik Deisswil von 2010, nebst vielen, viel zu vielen ähnlichen Beispielen.

So erstaunt es nicht, dass die Gewerkschaften nun, nach der Klatsche vom 18. Mai, erneut die GAVs mit dem Arbeitsfrieden und der Sozialpartnerschaft als den Königsweg hochpreisen. Nur glauben die Lohnabhängigen ihnen offensichtlich nicht mehr. Wir gehen von der Schätzung aus, dass die GAVs mit der damit verbundenen Finanzierung durch die Arbeitgeber etwa ⅓ bis zur Hälfte ihrer Ausgaben bestreiten. Die GAVs sind das beste Mittel, um der Gewerkschaftsführung ein planbares und gesichertes politisches Leben zu ermöglichen – Hand in Hand mit den Unternehmern. Als Preis dafür müssen sie das unvorhergesehene Einbrechen des spontan und lokal aufflammenden Widerstandes der Arbeiterklasse  in die Schranken weisen. Das Debakel vom 9. Februar und vom 18. Mai ist ein Resultat dieser verheerenden Politik.

Den Widerstand – endlich! – aufbauen

Angesichts dieses Verlustes an Bodenkontakt sehen die Gewerkschaften nun – nebst dem Arbeitsfrieden – mit der SP einen forschen Kurs auf einen EU-Beitritt als einzigen Ausweg aus der Krise. So zumindest im work vom 23. Mai 2014 – der grössten Gewerkschaftszeitung der Schweiz, als deren Spiritus Rector der ex- SP-Präsident Peter Bodenmann im Hintergrund wirkt. Dass es eine Krise um die gewerkschaftliche Mobilisierungsfähigkeit gibt, war Mitte der 1990er Jahre bereits allen klar. Die 1998 im Umfeld des SGB lancierten fünf Bouquet-Initiativen sollten diese Schwäche der gewerkschaftlichen Arbeit im Betrieb durch einen Effort mit politischen Kampagnen wettmachen.

Doch alle derartigen Projekte, deren vorläufig letztes die Mindestlohninitiative war, sind gescheitert. Es bleibt nichts anderes übrig, als die Arbeit am Aufbau von kampffähigen Kernen in den Betrieben nun ernsthaft anzugehen. Soll der fortwährende Niedergang der Arbeits- und Lebensbedingungen und der demokratischen Rechte aufgehalten werden, muss von solchen kampfwilligen Handlungszusammenhängen ausgegangen werden. Dies kann wohl nur mehr über den Aufbau einer neuen Linken und einer neuen Arbeiterbewegung geleistet werden.

Erscheint im Vorwärts vom 6.Juni 214

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