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1917 bis 1989: Revolution und Thermidor

Eingereicht on 27. Januar 2017 – 15:51

Willi Eberle. Hundert Jahre nach der Russischen Revolution bleiben deren Grundkonflikte weiterhin von höchster Aktualität. So können die arabischen Revolutionen ab 2010 und deren blutige Zerschlagung durch die nationale

und internationale Bourgeoisie nicht ohne eine Interpretation als eine zugespitzte Form des Klassenkonfliktes verstanden werden. Auch die Arbeiterkämpfe bei uns in der Schweiz zeigen die gleichen Insignien einer Arbeiterklasse, die immer wieder versucht, den herrschenden Eliten die Kontrolle über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu entwinden. Es sei an den Ausspruch von Laurent, einem streikenden Arbeiter bei Swissmetell in Réconvilier vom Februar 2006 erinnert: «Wir Arbeiter und Arbeiterinnen brauchen die Aktionäre und das Management nicht, um die Firma zu führen. Wir können das gut selbst tun!». Die damalige Fabrikbesetzung sah sich schnell der mobilisierten Staatsgewalt in Form der Polizei gegenüber.

Der untenstehende Aufsatz stammt aus dem Jahre 2007 und wurde in einem Sammelband publiziert. Wir machen ihn mit einigen leichten Korrekturen und einem erweiterten Literaturverzeichnis wieder zugänglich.

Wir könnten den Stalinismus[1] oder gar die gesamte Geschichte der Sowjetunion und derer wichtigen Akteure als durch die Geschichte gerichtet beiseitelegen. Dies ist aber aus zwei Gründen nicht möglich. Erstens entwickelte sich im Laufe des Jahres 1917 unter Führung vor allem der proletarischen Massen im Rahmen der Rätebewegung ein sehr weit gediehener Bruch mit den Regierungsformen der Besitzenden und des Ancien Régime. Dabei spielte die bolschewistische Partei eine entscheidende Rolle. Innerhalb eines Jahrzehnts setzte dann ein Thermidor[2] ein, der ab dem Ende der 1920er-Jahre als Stalinismus in eine weitgehende Auslöschung von allen Ansätzen von Dissens und vor allem von gesellschaftlicher Selbstorganisation und einer Massenvernichtung vor allem unter der Bauernschaft, der demokratischen Kräfte und der bolschewistischen Alten Garde und einer beispiellosen Disziplinierung der Arbeiterklasse führte. Zweitens wird der Stalinismus immer noch als Beweis für die Unmöglichkeit einer Alternative zur kapitalistischen Entwicklung, als Kronzeuge von TINA[3] wie dies heute heisst, angeführt. Die Frage, die uns hier beschäftigt, lautet: Wenn der Stalinismus nicht das unvermeidliche Resultat der Revolution von 1917 und der Machteroberung der bolschewistischen Partei und ihrer Strategien war, was führte dann zu dessen Sieg gegen Ende der 1920er-Jahre?

Die Einschätzung dieser Entwicklung ist nicht zu trennen von den eigenen politischen Perspektiven und Präferenzen. Für die bürgerliche europäische Öffentlichkeit war das Unheil bereits unmittelbar bei der Oktoberrevolution und im wesentlichen mit der Infragestellung der privaten Eigentumsrechte an den Produktionsmitteln gegeben. Die massgeblichen Sektoren der internationalen Bourgeoisie förderten in den sich verschärfenden politischen Krisen ab dem 1. Weltkrieg meistens die faschistischen Strömungen. Sie haben bis heute ein Interesse, die Aspekte einer Kontinuität des Schreckens ab der Oktoberrevolution über Zwangskollektivierung, Hungersnöte, Gulag, Stagnation, Zusammenbruch zu betonen. Im Sinne, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter und vor allem die Bolschewiki die natürliche Entwicklung von Privateigentum, Markt und Demokratie gestört hätten.[4] Gleichfalls die Sozialdemokratie, für die der konsequente Bruch der Bolschewiki mit ihnen und mit der Bourgeoisie im Vordergrund steht. Für die Sozialdemokratie und die Bourgeoisie war die Oktoberrevolution denn auch nichts anderes, als ein Putsch der bolschewistischen Partei, insbesondere von deren Führung um Lenin und Trotzki. Aus anderen Motiven sind die verschiedenen Traditionen des Stalinismus an der Betonung einer Kontinuität interessiert (gewesen). Für sie waren die terroristischen Züge des Stalinismus Unfälle oder gar Notwendigkeiten auf einem Weg des Aufbaus des Sozialismus. Obwohl es unverkennbare Kontinuitäten gibt vor allem ab ca. 1919, z.B. die  starke Rolle der Bürokratie, der Hang zur staatlichen Zentralisierung und Technikgläubigkeit und die damit zusammenhängenden Probleme, so werden im folgenden doch die Unterschiede und Brüche betont, die die Phase von 1917 bis um die Mitte der 1920er-Jahre von der Zeit nach 1928 und 1929 trennen, insbesondere die schnell abnehmende Bedeutung der Massenspontaneität und der Einflussmöglichkeiten der Alten Garde der Bolschewiki, bis dann gegen die Mitte der 1920er-Jahre die wichtigen Voraussetzungen für den Stalinismus erkennbar wurden. Und dieser sich ab der Krise von 1927 und 1928 durchsetzte.

Sozialismus und Demokratie hängen auf vielfältige Art innerlich zusammen (Meiksins Wood). Einmal geschichtlich. Denn die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie konnte ab den 1890er- Jahren nur mehr unter dem Druck insbesondere der organisierten Arbeiterklasse inhaltlich vorangebracht werden, insofern diese die demokratischen Prozesse und Beziehungen auf die gesellschaftlichen Bereiche von Produktion und Verteilung ausdehnen wollte, um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern zu können. Dies bedeutet, dass seither die Weiterentwicklung der Demokratie weitgehend nur mehr in Richtung einer proletarischen Demokratie, das heisst über eine Zurückdrängung der Interessen der Kapital- und Grundeigentümer aus den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen möglich war.[5] Dies ist eine der Leitideen dieses Aufsatzes, und wird am Beispiel der Russischen Revolution bis zum Oktober 1917 im ersten Kapitel ausgeführt.

Im zweiten Kapitel soll die Entwicklung ab der Oktoberrevolution von 1917 bis zum Thermidor in den wichtigsten Zügen skizziert werden. Im dritten Kapitel geht es um einige Aspekte der Frage, was die Sowjetunion in einem grösseren geschichtlichen Zusammenhang war, ob es sich z.B. nicht einfach um ein Modell autozentrierter Entwicklung handelte, wie bei anderen Ländern, die sich aus dem imperialistischen Zusammenhang herauslösen wollten. Im letzten Kapitel soll die Leistung der Bolschewiki gerade an den Elementen ihres Bruches mit der 2. Internationale, die ihre führende Rolle in der Oktoberrevolution ermöglichten, festgemacht werden.Luxemburg stellt in ihrem Aufsatz über die Russische Revolution im Jahr 1918 deren Leistungen und die Notwendigkeit der Beschäftigung damit, folgendermassen dar: «Alles was in Russland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlusssteine das Versagen des deutschen Proletariates und die Okkupation Russlands durch den deutschen Imperialismus sind. Es hiesse, von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig genug geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Umständen zu leisten war. Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not eine Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr in allen Stücken fixieren und dem internationalen [Proletariat] als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen.» Und: «Sich kritisch mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen auseinandersetzen, ist die beste Schulung der deutschen wie der internationalen Arbeiter für die Aufgaben, die ihnen aus der gegenwärtigen Situation erwachsen.» Dies gilt gerade heute immer noch!

In diesem Sinne hängen die Überlegungen und Folgerungen dieses Aufsatzes mit den Folgerungen zusammen, die für eine linke Praxis gezogen werden können. Dies umso mehr, als dass die Einschätzungen zur Russischen Revolution und ihrem Schicksal nach wie vor direkt oder indirekt im Zentrum von Strategiediskussionen und der damit zusammenhängenden Aus­differenzierungen der Linken stehen. Denn dort lagen die meisten Probleme, die uns noch heute beschäftigen, so offen und dicht zutage wie kaum mehr seither. Somit liegen auch meiner Argumentation bestimmte grundsätzliche Auffassungen über eine linke Strategie zugrunde. Eine explizite Formulierung strategischer Folgerungen für eine linke Politik wird in einer nachfolgenden Arbeit versucht werden. [6]

Die Russische Revolution und die proletarische Demokratie

Die Entwicklung in Russland war während 1917 ab der Februarrevolution geprägt durch eine bis heute nie mehr erreichte Intensivierung und Radikalisierung der Rätebewegung und führte als solche unmittelbar in die Oktoberrevolution (Anweiler; ICC; auch Rabinowitch, Remington). Aus einer emanzipatorischen Perspektive war die Russische Revolution das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts (Anweiler; Remington; Berger und andere in Drewski). Dies betrifft in erster Linie den Grad der gesellschaftlichen Selbstorganisation, das heisst das allmähliche Zurückdrängen der besitzenden Eliten aus den wichtigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidungszusammenhängen, bis dann in der Oktoberrevolution der Bruch vollendet werden sollte. Die Gründe für diese Entwicklung waren vielfältig und werden z.B. auch in der angeführten Literatur aufgearbeitet. Die Schwäche der russischen Bourgeoisie und des Zarismus ist daraus ersichtlich, dass diese angesichts der sich seit den 1890er-Jahren verschärfenden politischen Krise keine Möglichkeit eines wirkungsvollen korporatistischen Arrangements sahen, wie es sich z.B. in Westeuropa als Sozial-Imperialismus mit den entsprechenden Integrationsideologien durchzusetzen begann (Stone; Wehler). Sie flüchteten sich blind in den 1. Weltkrieg, von dem sie, wie die meisten Regierungen in Westeuropa, eine Lösung der verschiedenen Probleme erhofften (Kolko).

Die aussichtslose Lage Russlands im Krieg und die damit verbundenen Härten für die Bevölkerung, für die Bauernschaft, die Soldaten und die Arbeiterschaft begünstigte ab der Februarrevolution ein Wiederaufleben der Rätebewegung in den Fabriken, im Dorfe und im Distrikt, in der Armee. Die Rätebewegung hatte bereits in der Revolution von 1905 eine entscheidende Rolle gespielt.[7] Im Februar 1917 wurden die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften von der Kraft und dem Inhalt dieser Rätebewegung teilweise völlig überrascht und überrannt. Diese Kräfte suchten einen Kompromiss mit den alten Mächten und der Bourgeoisie, der in die Provisorische Regierung mündete, ähnlich wie 1 1/2 Jahre später in Deutschland. (Harman)

Ab Januar bzw. Juli und August 1917 festigte sich bei Lenin die Einsicht, dass nur ein sofortiger Bruch mit allen Strukturen der bürgerlichen Provisorischen Regierung das Land vor einer Katastrophe bewahren konnte und dass dazu die Rätebewegung im Sinne einer Stellung der Machtfrage weitergetrieben werden musste. Im Verlauf des Kornilov-Putsches vom August und um diverse Ereignisse im September und Oktober erlangten die Bolschewiki in den allermeisten Rätestrukturen die Mehrheit. Nur sie waren mit den klaren Forderungen präsent, die die alten Mächte und die Provisorische Regierung offenbar nicht erfüllen konnten, und die die Motive dieser Radikalisierung zusammenfassten: «Friede, Land, Brot!» Und «Alle Macht den Sowjets!». Und zwar sofort!

Diese Rätebewegung war jedoch bis zur Oktoberrevolution kaum zusammenhängend und nicht darauf angelegt, die Machtfrage in ihren Konsequenzen zu stellen. Dazu fehlte ihr eine kohärente programmatische und strategische Orientierung für die Eroberung der Macht und vor allem für die Zeit danach. Gerade dies sollte ihr übrigens bald zum Verhängnis werden. Lenin drängte, selbst in der Führung der Partei mehr oder weniger völlig isoliert, ab ca. Mitte September auf einen sofortigen Sturz der Regierung Kerenski und einer Übergabe der Macht an eine Sowjetregierung, z.B. anlässlich des geplanten All-Russischen Sowjetkongresses von Ende Oktober. Für die Einzelheiten dieser stürmischen Entwicklung vergleiche man z.B. Rabinovitch und Trotzki. Das Ergebnis der Räteherrschaft der ersten Monate der Sowjetmacht war jedoch nicht eine Bändigung, sondern eine Steigerung des durch Krieg und Revolution herbeigeführten wirtschaftlichen Chaos und des Zerfalls jeglicher festen Ordnung. Die Losung »Alle Macht den Sowjets!«, verstärkt durch eine allgemeine Abneigung gegen den alten bürokratischen zaristischen Staat, führte zu einer raschen Auflösung der überkommenen zentralen Autoritäten und der Institutionen der Provisorischen Regierung. Im Nu hatte die Revolution eine Unzahl autonomer, untereinander weitgehend gleichberechtigter Fabriken, Kommunen, Regionen und Regimenter geschaffen, die einer Lösung der anstehenden Probleme – z.B. die grossen Versorgungsprobleme der Städte und der Industrie – im Wege standen und mit einem Auseinanderbrechen Russlands drohten. Die Bolschewiki waren über ihre Partei die einzigen, die durch ihre Verankerung im revolutionären Prozess diesem Trend eine Gegenkraft entgegensetzen konnten. Und dies entsprach sowieso einem ihrer zentralen organisatorischen und strategischen Grundprinzipien. (Remington)

Von der Oktoberrevolution zum Thermidor

In den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution herrschte eine kurze Phase des «unschuldigen Urkommunismus» (Anweiler) der Fabrikkomitees, der linken Sozialrevolutionäre, einiger anarchistischer und syndikalistischer Strömungen. Demgegenüber setzte sich unter der Macht der bolschewistischen Partei die staatliche Zentralisierung bereits ab Frühjahr 1918 mehr oder weniger als Staatskapitalismus (ICC) durch; eine territoriale Organisation der Macht anstelle der autonomen Fabriken und Dörfer entstand. Die bereits seit dem Sommer 1917 weitgehend bürokratisierten zentralen und regionalen Sowjetstrukturen wurden ab Winter 1917/1918 allmählich mit Funktionen als Träger der Staatsgewalt ausgestattet. Die Fabrikkomitees wurden im Sommer 1918 den Gewerkschaften eingegliedert und damit faktisch bedeutungslos (Pankratova). Der durch den Bürgerkrieg notwendige Aufbau der Roten Armee und die Reaktion auf das wachsende wirtschaftliche Chaos setzte den dezentralen Ansätzen in der ohnehin beinahe demobilisierten Armee und in der Ökonomie ein Ende, ausser sie entwickelten sich spontan und ausserhalb der Anstrengungen zur Zentralisierung, und damit aber tendenziell eher gegen die bolschewistische Partei. Zu dieser Zeit hatte diese bereits weitgehend das politische Monopol.

Der bereits im Sommer 1917 einsetzende Bürgerkrieg und die ab Frühsommer 1918 folgenden ausländischen Interventionen erforderten eine vermehrte Anspannung der Kräfte. Dies verstärkte bei den Bolschewiki die sowieso vorhandene Tendenz zur staatlichen Zentralisierung und beinhaltete unter anderem eine Einschränkung der politischen Rechte, eine Militarisierung der Arbeit, Privilegien für Spezialistinnen und Direktoren, die Zwangseintreibung von Lebensmitteln bei der Bauernschaft, die als Kriegskommunismus bezeichnet wird. Am Ende dieses Krieges war die Gesellschaft um ca. 50 Jahre zurückgeworfen, die industrielle Produktion auf weniger als einem Fünftel von 1914 abgesunken, das Proletariat war als handelnde Klasse in hohem Masse aufgerieben oder durch Krieg und Not vernichtet, jede moralische und zivilisatorische Kultur war in diesem barbarischen Kampf zerstört worden. Dass der Bürgerkrieg gewonnen wurde, ist – nebst der Zusammenführung aller Kräfte durch die Bolschewiki – darauf zurückzuführen, dass die grosse Mehrheit der Bauernschaft und der Arbeiterklasse letztendlich doch den Bolschewiki folgten: sie wollten keine Rückkehr zur alten Ordnung! (Marie 2005a)

Die Ausläufer der Vitalität der revolutionären Phase drückten sich in einer Welle von sozialen Erhebungen vor allem ab 1920 bis in den Frühsommer 1921 aus, etwa die Bauernaufstände in Tambov, in Zentralrussland, die Streikbewegungen in Moskau, im Ural und in Leningrad, denen mit mehr oder weniger Gewalt begegnet wurde. Dies gipfelte im blutig niedergemachten Kronstädter Aufstand vom Februar und März 1921 während des 10. Parteikongresses. Um den Druck auf die Bevölkerung zu lockern und den chaotischen Auswirkungen der planlosen Zentralisierung zu begegnen, schwenkte die Partei an diesem Kongress unter Führung Lenins mit der Neuen ökonomischen Politik (NEP) auf einen sogenannten proletarischen Thermidor (Lewin 2005) ein, der im wesentlichen aus der Wiederzulassung einiger Marktelemente bestand. Gleichzeitig wurden mehrere während des Bürgerkrieges erlassenen befristeten kriegsrechtlichen Massnahmen verschärft und auf unbestimmte Zeit verlängert. (Marie 2005b)

In dieser Zeit des Rückzuges bedeutete Bolschewismus für Lenin in erster Linie, die in seiner Einschätzung unrealistische sozialistische Vision fallen zu lassen und auf eine gemischte Ökonomie zu setzen. Dies bedeutete jedoch nur einen Aufschub der Perspektive des unmittelbaren Aufbaus des Kommunismus, bis das europäische Proletariat den Durchbruch schaffen würde. Dabei soll in einem Pakt mit der Bauernschaft die Entwicklung weitergetrieben werden, und insbesondere soll von einer zwangsweisen Durchsetzung des Kommunismus auf dem Lande abgesehen werden. Die «zivilisatorische Rolle» des Kapitalismus, gesteuert durch den «proletarischen Staat» würde gemäss dieser Auffassung die Bauern zu sozialistischen Strukturen führen. Denn gerade die Lösung der sogenannten Agrarfrage, die Enteignung des feudalen Grossgrundbesitzes durch die Bauern, war in der Oktoberrevolution nicht nach den Erwartungen der Bolschewiki verlaufen. Diese hatten auf spontane kollektive Formen der Aneignung des Landes gesetzt, während die Bauern sich das Land zum grössten Teil individuell angeeignet hatte, und die traditionellen kollektiven Strukturen des russischen Dorfes kaum zum Tragen kamen. So konnte die Bauernschaft vorderhand nicht gewonnen werden für die kollektivistische Perspektive der Kommunisten. Ferner soll in der Absicht Lenins die Funktionsweise der Partei gegen die erdrückende Bürokratisierung so entwickelt werden, dass die einfachen Basismitglieder wieder einen möglichst grossen Einfluss gewinnen sollten, gerade auf das Generalsekretariat; in diesem Zusammenhang sollten auch die Parteikongresse gestärkt werden. Und angesichts der brutalen Übergriffe z.B. Stalins gegen die Völker im Kaukasus sollte in der Konzeption Lenins der grossrussische Nationalismus bekämpft werden, und für alle Völker der Sowjetunion die selben Rechte und Pflichten gelten. Keine dieser Ausrichtungen wurden von Stalin aufgenommen. (Lewin  2005)

Sosehr die Bolschewiki im Oktober getragen waren durch die grosse Mehrheit des Proletariats, so war dessen Mehrheit zu Beginn des Jahres 1921, am Ende des Bürgerkrieges, entweder kritisch-solidarisch, gleichgültig, hatte sich von ihnen abgewandt oder stellte sich gar gegen sie. Der Staatsapparat, seine Bürokratie und einige energische und zielbewusste Führer aus der bolschewistischen Partei, darunter vor allem Trotzki, waren die Träger der über den Bürgerkrieg im Rahmen des »Kriegskommunismus« gewachsenen Zentralisierung. Die Rätestrukturen in den Fabriken waren nun bedeutungslos oder zerfallen. Die Alte Garde war sich der gefährlichen Lage jedoch kaum bewusst. Trotzki führte zwar bereits um 1918 eine Kampagne, um die Partei aus der Verschmelzung mit dem Staatsapparat herauszulösen. Diese Verbindung war aber selbst ein wesentliches Element der Machtergreifung durch die Bolschewiki gewesen. Die Partei sollte als proletarische Avant-Garde eine Autonomie gegenüber der Staatsmacht behalten bzw. zurückgewinnen. Die Gefahr eines Auseinanderfallens der wirklichen Interessen des Proletariats und des Staatsapparates wurde jedoch vor allem vom späten Lenin ab 1922 wahrgenommen. Er war dann jedoch  krankheitshalber bereits nicht mehr in der Lage, den nötigen Einfluss auszuüben. (Lenin 1922; Broué; Lewin 2005)

Die Frage der Macht im Staate wurde ab 1923 nur mehr im engsten Kreise des ZKs entschieden. Allerdings war Stalin der einzige, der sich dessen voll bewusst war und entsprechend handelte (Bajanow).  Dabei konnte er, der seit 1922 Generalsekretär der KPdSU war, sich auf die seit dem Bürgerkrieg schnell wachsende Bürokratie stützen, bei der er durch seine Stellung bereits 1924 eine grosse Loyalität und eine weitgehende Autorität genoss. Der Staatsapparat war in dieser Zeit grosser Probleme der sicherste Weg für den sozialen Aufstieg, was der Partei massenweisen Zustrom verschaffte. Denn die Partei wurde oft als Eingangstor zum Staatsdienst wahrgenommen. Und Stalin verstand es, seine Entourage mit Leuten aufzubauen, die darin sozialisiert wurden und die eine offene Rechnung mit jemandem aus der Alten Garde, insbesondere mit Trotzki offen hatten. Ganz abgesehen von der während des Bürgerkrieges angeschwollenen Parteibasis, die meistens keinerlei Verbindung hatte zu den Erfahrungen der heroischen Phase des demokratischen Zentralismus und der Revolution. Die autoritären Prinzipien hatten bereits in den Ausnahmesituationen – Klan­de­sti­nität, Revolution, Bürgerkrieg – eine gewisse Bedeutung, wo die Parteimitglieder, nachdem eine Linie mal festgelegt war, gehorchen mussten.  Aber nun wurde diese Logik auf ganz andere Verhältnisse übertragen, auf die Partei, auf den Staatsapparat, auf die Verwaltung der Alltagsprobleme mit ihrer Routine und Stabilität. Ab dem 13. Kongress der KPdSU (1924) waren die Kader bereits disziplinierte Funktionäre in einer Hierarchie und die Alten erkannten ihre Partei nicht wieder. Bereits seit der Zeit des Bürgerkrieges wurden die Kader und die Mitglieder des ZKs kaum mehr durch die Basis bestimmt. (Lewin 2005)

Stalin und die Bürokratie hatten eine tiefe Feindschaft gegenüber der Partei als politischer Führung, was sie von der Alten Garde grundsätzlich unterschied.  Daneben nahm Stalin jedoch die Bürokratie als objektive Bedrohung seiner autokratischen Herrschaft wahr, was z.B. in folgender Passage aus einer Rede Stalins um 1924 illustriert wird: »Für uns gibt es keine objektiven Schwierigkeiten; das einzige Problem ist dasjenige der Kader. Wenn die Dinge nicht vorwärtsgehen oder schlecht laufen, so müssen die Gründe nicht bei irgendwelchen objektiven Umständen gesucht werden, es ist der Fehler der Kader.« (Lewin 2003, 52) Die bürokratische Neurose ist eine Art, echte Reformen zu umgehen, ausgehend von der Lieblingsidee Stalins, dass man nur die Verwalter zu korrigieren brauche.

Stalin schaffte sich somit die Voraussetzungen für ein System, das mehr oder weniger blind gegenüber den gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten wurde. Denn durch die faktische Liquidierung der Partei und damit aller politischen Parteien überhaupt, beseitigte er ein wichtiges Instrument politischer Herrschaft, um die gesellschaftlichen Konflikte politisch aufscheinen zu lassen und damit überhaupt wahrnehmen zu können. Er konnte seine Machtposition ohne unmittelbare Rücksicht auf die objektive Natur von Problemen ausbauen und sichern. Denn durch die Willkürherrschaft über die Spitzen der Bürokratie gelang es ihm, die Schuld für auftauchende Probleme immer wieder auf seine Gegner und auf potentielle Rivalen abzuwälzen und eine Lösung über eine dramatische Folge von despotischen »Notstandsmassnahmen« anzugehen.  Diese Blindheit konnte so gerade zur Grundlage einer politischen Diktatur werden, einer «verantwortungslosen Diktatur». (Lewin 2003)

Mit dem krankheitsbedingten Ausscheiden Lenins als massgebender Persönlichkeit ab dem Frühjahr 1922 verschärften sich in der Partei die Konflikte vor dem Hintergrund schwelender Probleme um die Weiterentwicklung der Partei und der Sowjetunion, die nun in einen Sog der Kämpfe um die Nachfolge Lenins als Parteiführer gerieten. Dabei gelang es Stalin durch taktisches Geschick und entschlossenem Durchgreifen, seine Machtposition recht schnell auf Kosten seiner Hauptrivalen, insbesondere Trotzkis, auszubauen. Im Rahmen der sich verschärfenden Krise der NEP, die sich als breite Verarmung in den Städten und auf dem Land und als Stagnation äusserte, verschärften sich die Auseinandersetzungen in der Partei um den weiteren Kurs der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Durch die politische Ausschaltung der linken Opposition und dann der vereinten Opposition wurden neben anderen Trotzki und Sinowjew 1927 aus der Partei ausgeschlossen, ein Jahr später die rechte Opposition um Kamenew, Bucharin und um den Gewerkschaftsführer Tomsky.

Damit war für Stalin der Weg für seine «Modernisierung von oben» frei. Die wichtigsten Elemente (Golubovic, Reiman und andere in Daniels) dieser forcierten Modernisierung von oben waren: Totale staatliche Kontrolle der industriellen und landwirtschaftlichen Produktionsmittel, kompromisslose Zentralisierung der wirtschaftlichen Entscheidungen, beschleunigte Industrialisierung durch eine verschärfte Ausbeutung der Arbeiterschaft, Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die Einführung quasi-feudaler Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Bauernschaft und Staat, indem neue Gesetze die Bauern zwangsmässig an ihre Kollektive banden. Ferner verloren die Gewerkschaften den letzten Rest von Autonomie und wurden nur mehr gebraucht, um die ständigen Erhöhungen des Plansolls nach unten weiterzuvermitteln. Damit dies durchgesetzt werden konnte, musste die Bürokratie auf ganz neue Grundlage gestellt werden, was durch eine grossangelegte Bildungs- und Beförderungsoffensive vor allem im Proletariat eingeleitet wurde. Zudem wurde eine grossangelegte Propagandakampagne lanciert. Darin ging es einerseits darum, ein breites Einverständnis der arbeitenden Massen mit den immer härteren Arbeitsbedingungen und der Stärkung hierarchischer Strukturen in der Arbeit und im Alltag herzustellen. Und andererseits ging es um die Schaffung eines Klimas der Bedrohung durch den Klassenfeind, das zu einer Legitimation der politischen Führung beitrug, die sich ihre Gegner laufend mit politischen Prozessen, Arbeitslagern, Mord und Massenterror vom Halse schaffte. Dies alles war ein Bruch mit der gesamten Entwicklung bis dahin, wies aber doch einige Ähnlichkeiten auf mit dem Regime des Kriegskommunismus (1918 bis 1921), während dem Stalin und der grösste Teil der Bürokratie ihre entscheidenden Erfahrungen gemacht hatten.

All diese Massnahmen konsolidierten die Herrschaft der Bürokratie. Diese unterwarf sich über ihr Monopol auf die Entscheidungsprozesse im Staat die arbeitende Bevölkerung und nutzte dabei auch die Verschärfung der Herrschaft über die Lohnarbeit mit ähnlichen Mitteln, wie dies im Kapitalismus geschieht. Dies stand im krassen Widerspruch zu den Zielen einer proletarischen Demokratie, die als Perspektive 1917 besonders virulent war und die bis in die zweite Hälfte der 1920er-Jahre immer noch angestrebt wurde, wenn auch in zeitlicher Ferne. Bis zum Ende der 1920er-Jahre bestanden immer noch Chancen für einen Weg der Entwicklung zum Sozialismus[8].  Einerseits war die Alte Garde und wichtige Segmente der Arbeiterklasse immer noch auf dieses Ziel hin orientiert, trotz aller Fehlkonzeptionen und aller sich auftürmenden objektiven und politischen Schwierigkeiten. Und in der Gesellschaft waren immer noch die in den Oktober führenden Traditionen lebendig, wenn auch enorm geschwächt. Und drittens waren die Ideale von Gleichheit und Demokratie in der Partei noch stark genug, um immer wieder der Bürokratisierung und dem Despotismus entgegenzutreten. Und den möglicherweise unlösbaren Problemen mit einer Vielzahl von Ideen und Ansätzen zu begegnen. Die gewaltsamen Massnahmen des Massenterrors, der Säuberungen in der Bürokratie, der Moskauerprozesse etc. müssen vor allem in diesem Zusammenhang gesehen werden. Diese kombinierten sich oft mit Zwangsmassnahmen, wie Arbeitslager, Zwangsumsiedlung vor allem nach Sibirien und Zentralasien, um die enormen Arbeitsleistungen für die forcierte Modernisierung von oben aufzubringen. Abgesehen davon, dass das Innenministerium, das MVD, für sich selbst mit den Arbeitslagern ab Mitte der 30er-Jahre eine lukrative wirtschaftliche Basis geschaffen hatte.

Nach dem 2. Weltkrieg, dessen Hauptlast durch die UdSSR getragen und durch sie entschieden wurde, war diese zwar ein mächtiges und angesehenes Land, aber innerlich doch sehr fragil und geschwächt und am Ende ihrer Kräfte. Als Stalin im März 1953 starb, war der Reformdruck gross. So konnten die Reformen von Chruschtschew als spektakuläre Verbesserungen in vielen Bereichen wahrgenommen werden, etwa die «Normalisierung» des Funktionierens, die Verbesserung der materiellen Versorgung und der Lebensbedingungen und die technischen Erfolge. Und dabei bewies die UdSSR erneut ihre grosse Vitalität, personifiziert in Chruschtschew. Dieser jedoch war wie Stalin kein moderner Führer, sondern Relikt einer Agrardiktatur. Und dies weist zugleich auf die Grenzen der Reformen hin. Die Entstalinisierung unter Chruschtschew waren jedoch Taten und nicht nur Rhetorik, gerade auch was die Rehabilitierungen der Opfer des Terrors[9], die Untersuchungen über die Verbrechen und dann die Verurteilung Stalins und die Rationalisierung und die Stärkung der Bürokratie angeht. Seine kühnste Leistung war wohl die Zerschlagung des MVD und des Gulags, die ihn schliesslich den Kopf kostete. (Lewin 2003)

Angesichts der stagnativen und verschwenderischen Tendenzen des Systems bildete sich vor allem ab den 1960er-Jahren eine Schattenwirtschaft heraus. Die Schattenwirtschaft spielte eine immer wichtigere Rolle und vervielfachte sich z.B. zwischen 1960 und 1990 um den Faktor 18. Diese Schattenökonomie war zumindest ambivalent. Einerseits half sie unmittelbar, die Dysfunktionalitäten des Systems und die grössten Mängel in der Versorgung zu mildern. Andererseits aber lebte diese Schattenökonomie parasitär von der formalen Ökonomie. Denn dort wurden die Güter oft entwendet, die Arbeitskräfte von der formalen Ökonomie abgezogen und deren Verankerung in den vielfältigen Systemen sozialer Sicherung, dem Erziehungs-, Gesundheits-, und Schulsystem, der Altersvorsorge, dem Zugang zu billigem Wohnraum ausgenutzt. Ferner wurde sie zum Humus der sich entwickelnden Schattenpolitik und von politischen Zusammenhängen, die dann oft auch mit der Kriminalität und mit mafiösen Strukturen in Verbindung standen. Die Aufsteiger in der Schattenökonomie wurden beim Zusammenbruch der Sowjetunion häufig zusammen mit ihren Kumpanen aus der bürokratischen Oligarchie an die Oberfläche gespült. Diese Schattenwirtschaft war der Pfeiler, auf den Gorbatschew in den 1980er-Jahren sein «Übergangsprogramm» der Perestroika stützte. Das Ganze gedieh soweit bis zur Mitte der 1980er-Jahre, dass bei den in der Perestroika einsetzenden Privatisierungen die Schaltstellen der Netzwerke der Schattenökonomie – die Versorgungsbüros, Lagerhäuser, Verteilorganisationen – sich als Erste als private Unternehmen erklärten. Der Boden war bereitet für die gerade in der ursprünglichen Akkumulation des Kapitalismus noch ausgeprägte Verflechtung von gewaltsamer und krimineller Aneignung und «formaler Ökonomie». Dass damals die demokratischen Impulse kaum eine Chance hatten, liegt gerade auch daran, dass die in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre erneut aufflammenden erbitterten Arbeiterrevolten fragmentiert blieben und weder von den sogenannten demokratischen Kräften in Russland noch im Westen Unterstützung erhielten. (Lewin 2003)

Über die Natur der Sowjetunion im geschichtlichen Zusammenhang

Diese Frage ist umso komplexer, als die Sowjetunion unter mindestens drei Versionen existiert hat. Einerseits war sie spätestens ab Sommer 1918 ein zunehmend autoritäres System, wenn auch unter verschiedenen Varianten. Ferner war sie ab den 1930er-Jahren sicher nicht mehr sozialistisch, insofern die Produktionsmittel nicht der Arbeiterklasse gehörten und die Demokratie zurückgedrängt und verweigert wurde. Aber sie war nie kapitalistisch, da die Produktionsmittel beinahe vollständig Eigentum des Staates waren und dieser der Bürokratie gehörte. Sie war ab den späten 1920er-Jahren unter Stalin eine Art Agrardespotismus, später eine Art bürokratischer Absolutismus. (Lewin 2003)

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich weltweit als Imperialismus eine politische Konstellation heraus, in der eine Weiterentwicklung der Demokratie nur mehr unter dem Druck von Massenbewegungen proletarischen Charakters möglich war (Stone; Meiksins Wood).[10] Die Eigentumsfrage bindet den Liberalismus und damit die Bourgeoisie immer wieder an konservative und – in Zeiten starker Umbrüche, wie sie gerade auch für heute kennzeichnend sind – an offen reaktionäre und autoritäre Kräfte. Die Entwicklung in Russland muss deshalb auch als Antwort auf die politische Gestalt des Kapitalismus, wie er als Imperialismus aus der grossen Depression gegen Ende des 19. Jahrhunderts hervorging, verstanden werden. Die dabei aufgeworfenen Probleme sind heute wieder auf sehr beunruhigende Art auf dem Tisch, in der Zunahme autoritärer, gewalttätiger und irrationaler Elemente in der nationalen und internationalen Politik und in der Gesellschaft und einer sichtbaren und grossräumigen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die geschichtlichen  Aufgaben des rückständigen Russland konnten nur durch den Weg der proletarischen Revolution erfüllt werden. Denn nur durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel konnte Russland aus der Barbarei herausgeführt werden, ohne in die Abhängigkeit von den imperialistischen Staaten Europas (und später der USA) zu geraten. Oder unter diese aufgeteilt zu werden. Dies war auch die Schlussfolgerung Trotzkis, wie er sie als Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung formuliert hat.

Politik und Ökonomie sind keine getrennten Phänomene, sondern verschiedene Aspekte gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Die Frage der politischen Form, wie sie sich in Russland aus dem revolutionären Prozess ergeben sollte, musste durch die Erlangung gesellschaftlicher und damit ökonomischer Macht durch eine der konkurrierenden Klassen entschieden werden. Und aus diesem Kampf um die Macht ging letztendlich die Bürokratie siegreich hervor, in der die Partei bereits gegen Mitte der 1920er-Jahre zunehmend aufging. Sie setzte sich gegen die anderen Klassen durch, die alle zu schwach waren, um ihre Interessen durchzusetzen: Das Ancien Régime des Zarismus, getragen durch Feudaladel und Bürokratie war diskreditiert durch den Krieg und seine generelle Perspektivlosigkeit. Die Bourgeoisie war wie in allen Ländern der imperialistischen Peripherie im 20. Jahrhundert zu schwach (Chibber), um eine nationale Entwicklung anzuführen; die industrielle Entwicklung in Russland war zu einem grossen Teil durch europäisches Kapital getragen, und die russische Bourgeoisie stützte sich in diesem Prozess auf ein Bündnis mit dem Zarismus und machte sich dabei dessen starke Bürokratie und deren autoritären Charakter zunutze. Das (industrielle) Proletariat umfasste lediglich 5 bis 10% der Bevölkerung. Die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung war 1917 agrarisch gebunden, ein Teil des Proletariats kehrte periodisch für längere Zeit aufs Land zurück. Trotz alldem entwickelte das Proletariat ab den 1890er-Jahren in heftigen Kämpfen eine reiche Erfahrung in Ansätzen von proletarischer Demokratie, z.B. in der Revolution von 1905, wo die Rätebewegung gerade in den Fabriken und der Gestaltung der konkreten Arbeits – und Lebensbedingungen eine grosse Bedeutung erlangte. Aber es konnte sich nach der Oktoberrevolution nicht durchsetzen. Die Bolschewiki übernahmen im Rahmen einer Vorstellung und Strategie die Macht, die sie zu Anwälten der proletarischen Demokratie machten – ganz als Bestätigung ihrer Konzeption einer proletarischen Avant-Garde Partei. Sie ordneten als Ausdruck ihrer Vorstellung der Entwicklung des Sozialismus die Ökonomie der Politik unter. Ganz entgegen der Vorstellung von Karl Marx, für den der Aufbau des Kommunismus darin bestand, dass die Gesellschaft den Staat absorbieren müsse, da dieser Ausdruck der Klassenherrschaft sei (Remington).  Als aber diese Vorstellung im Verlaufe des Bürgerkrieges und des schwächer Werdens der Rätebewegung mit den Zielsetzungen der Modernisierung, der Lösung der dringenden materiellen Probleme und des Machterhaltes konfrontiert war, bekam diese Vorstellung eine Bedeutung, die sich in der Realität nicht mehr auf das Proletariat abstützte, sondern entsprechend der realen Kräfteverhältnisse die Bauernschaft und das Privateigentum wieder mehr als Grundlage hatte.

Im Gegensatz zu den verschiedenen Modellen auto-zentrierter Entwicklung, die ab dem 2. Weltkrieg im Rahmen der Dekolonialisierung und des damit verbundenen Anti-Imperialismus als nationale Revolutionen ihren Anfang nahmen, war die Sowjetunion in ihren Anfängen auf einem Pfad der internationalistischen proletarischen Demokratie als autonomer Regierungsform, das heisst einer Regierung unter Ausschluss der besitzenden Klassen. Die Bolschewiki waren in der heroischen Phase organisch an die Perspektive einer internationalen proletarischen Erhebung mit dem Ziel der Machtübernahme gebunden. Spätestens ab 1923 war klar, dass dieser Durchbruch des europäischen und insbesondere des deutschen Proletariats auf absehbare Zeit unwahrscheinlich war. Die Gründe dafür waren vielfältig: einerseits war dort die Bourgeoisie stärker als in Russland, andererseits hatte diese in der Weimarer Republik die Führung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften auf ihrer Seite. Denn die korporatistischen Strukturen waren in Deutschland nicht nur in der politischen Orientierung der Sozialdemokratie als Revisionismus[11], sondern bis in die Betriebe hinein stark ausgeprägt. Zudem fehlte ein organisatorischer Zusammenhang ausserhalb dieser korporatistischen Strukturen, der in den entscheidenden Momenten zwischen 1918 und 1923 in den vorwärtstürmenden Massen genügend verankert gewesen wäre, wie es z.B. die bolschewistische Partei 1917 in Russland gewesen war. (Harman)

Die Leistung der Bolschewiki. Eine kritische Würdigung

Die Bolschewiki wären wohl eine launische und vielleicht mehr oder weniger tragische Marginalie der Geschichte geworden ohne die in Europa und Russland seit ca. 1912 stark an­schwel­lende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse und der damit einhergehenden Herrschaftskrise des Ancien Régime und der Bourgeoisie. Umgekehrt aber wäre diese erstaunliche Vitalität der Arbeiterklasse wahrscheinlich nicht zum Durchbruch gekommen, ohne die klare Orientierung der Bolschewiki auf die Machtfrage und deren proletarische Lösung. Diese Leistung der Bolschewiki zeichnete sie – um mit R. Luxemburg zu sprechen – vor der Sozialdemokratie  aus. Denn Lenin, dessen Schöpfung die Partei war, und Trotzki  mit seiner Konzeption der permanenten Revolution hatten die Partei ab dem Frühjahr 1917 klar auf einen Bruch mit der russischen und der internationalen Bourgeoisie geführt. Dies äusserte sich zuerst in der Forderung einer sozialistischen Einheitsfront innerhalb und ausserhalb der Provisorischen Regierung und ab Mitte September in der Orientierung auf einen Alleingang im Hinblick auf eine Machtergreifung, zusammen mit den linken Abspaltungen der anderen sozialistischen Parteien. Lenins Parteikonzeption war bereits lange vor der Gründung der bolschewistischen Partei im Jahre 1912 in der Autonomie der proletarischen Organisationen gegenüber den verschiedenen korporatistischen Modellen begründet. Dieser Korporatismus wurde in der praktischen Orientierung von vielen Fraktionen der damals stark zersplitterten und dezimierten Menschewiki und der Sozialrevolutionäre nach europäischem, insbesondere deutschem Muster angestrebt (LeBlanc). Und genau dies ermöglichte den Bolschewiki ab der Februarrevolution die schnelle und breite Verankerung vor allem in den Fabrikkomitees und in der Armee.

Gleichzeitig aber zeigte sich, dass dieser Bruch mit der 2. Internationale nicht weit genug ging. Dieser Mangel macht letztendlich die tragische Rolle der Partei aus und wurde dann für die tragenden Kräfte der Revolution, die Fabrikkomitees und die bolschewistische Partei selbst zum Verhängnis. Insbesondere übernahm diese zumindest teilweise die sehr problematischen Vorstellungen der 2. Internationale über den Staat, Entwicklung, Modernisierung und wirtschaftliches Wachstum, Technik, die technokratische Auffassung über Organisation und Stellvertreterprinzip, wie sie mehr oder weniger in der Sozialdemokratie bis heute massgebend sind. Entsprechend waren ihre Vorstellungen über die Verwirklichung des Sozialismus noch bei der Machteroberung gerade auch bei Lenin sehr einfach. Durch die entschlossene Umsetzung dieser Vorstellungen unter den ausserordentlich ungünstigen Bedingungen wurden gerade die Fabrikkomitees als eigentliche Schöpfungen proletarischer Demokratie immer mehr zurückgedrängt (Remington). Die Vitalität der Arbeiterklasse war dadurch zwar noch nicht erschöpft und knüpfte immer wieder an die alten Zusammenhänge und Erfahrungen an, wie sich dann z.B. in den Krisenjahren 1919 und 1920 in den Arbeiteraufständen zeigte. Diese stellten sich nun oft gegen die harten Bedingungen des Kriegskommunismus und damit gegen die Herrschaft der Partei, die meistens hart gegen diese Aufstände vorging (Aves).

Die Vorstellungen der Bolschewiki über den Aufbau des Sozialismus entsprachen zur Zeit der Revolution in etwa derjenigen der übrigen damaligen 2. Internationale. Sie und insbesondere Lenin betrachteten – wie bereits vor ihnen der Zarismus und die Provisorische Regierung – die deutsche Kriegswirtschaft als organisatorisches Modell. Dabei interessierte sie vor allem, dass die Wirtschaft Deutschlands einer zentralen staatlichen Planung unterworfen und auf ein Ziel, eben die Kriegsproduktion hin orientiert war. Sie stellten sich vor, dass dasselbe Modell unter einer proletarischen Diktatur für den Aufbau des Sozialismus genutzt werden konnte. Von daher war die Eroberung der (Staats-)Macht das wichtigste Ziel einer jeden revolutionären Bewegung. Die 1917 von der Arbeiterbewegung geschaffenen Errungenschaften proletarischer Demokratie und gesellschaftlicher Institutionen, wie die Räte, die Fabrikkomitees, die bewaffneten Arbeitergarden, Zeitungen, Gewerkschaften, lokale, regionale und überregionale Koordinationsorgane waren zwar notwendige Voraussetzungen, um die alten Klassen und deren Instrument, den alten Staat, zu zerschlagen. Dies war auch die Meinung Lenins in seinem im Sommer 1917 verfassten «Staat und Revolution». Nach der Revolution würde die revolutionäre Partei, als proletarische Avant-Garde, den Staat nutzen für eine kombinierte gesellschaftliche und staatliche Entwicklung, in der die Klassenfeinde ausgeschaltet und das kulturelle, wirtschaftliche und politische Umfeld für den Sozialismus geschaffen würde. (Golubovic in Daniels). Dass die Alte Garde sich in den Machtkämpfen ab 1922 immer an dieser Vorstellung der staatszentrierten Entwicklung des Sozialismus – und der damit verbundenen «ursprünglichen sozialistischen Akkumulation»[12]  – orientierte, verunmöglichte letztendlich ein wirksames Bündnis von ihnen, insbesondere von Trotzki, mit den verschiedenen Widerstandsansätzen in der Arbeiterklasse. Dies spielte dann dem stalinistischen Thermidor in die Hände, der sich auf derselben konzeptionellen Grundlage entwickelte, ausser dass dabei ab 1924 offiziell nur mehr an den «Aufbau des Sozialismus in einem Lande»[13] gedacht wurde. Ganz abgesehen davon, dass die Alte Garde sich weigerte, einen neuen organisatorischen Zusammenhang aufzubauen, um den vorhandenen Widerstand zu strukturieren und ihm eine autonome Handlungsbasis zu verleihen. Ihre Loyalität zur Partei hinderte sie daran, diesen entscheidenden Schritt zu tun. (ICC)

Seit dem Beginn der Russischen Revolution fanden in und ausserhalb der Partei heftige Auseinandersetzungen statt über die Strategien zum Aufbau des Sozialismus, die bis Anfang der 1930er-Jahre anhielten. Dabei konnten sich immer wieder die Vorstellungen über eine mehr oder weniger autoritäre staatliche Zentralisierung durchsetzen, was erheblich erleichtert wurde durch die konzeptionelle und organisatorische Schwäche der Rätebewegung. Diese konnte in den entscheidenden Auseinandersetzungen in der Partei, in den Betrieben und Städten und überhaupt in der Politik ihre Interessen nicht einbringen, insbesondere nicht Vorstellungen über die Weiterentwicklung der Arbeiterkontrolle angesichts der schwierigen Probleme. Es gelang ihren verschiedenen Strömungen nicht, den sich verbreitenden Unmut vor allem am Ende des Bürgerkrieges gegen Ende von 1920 hinter einem kohärenten Programm zu organisieren und dem sich durchsetzenden technokratischen autoritären Zentralismus entgegenzutreten. Die Partei wäre zu dieser Zeit für solchen Druck durchlässig gewesen, da die egalitären und demokratisch-proletarischen Tendenzen bis zur stalinschen Revolution (Daniels) gegen Ende der 1920er-Jahre immer noch präsent waren. Demgegenüber gelang es den Bolschewiki für ihre technokratischen Konzeptionen das Management auf Betriebsebene und die technische Intelligenz im Lande an sich zu binden und die Gewerkschaften in das Projekt einzubinden. (Remington)

Das Verständnis des Avant-Garde Konzeptes, wie es die Alte Garde der Bolschewiki verkörperten, zeigte ihren Sinn in der Rolle der Partei ab Frühjahr und insbesondere ab Sommer 1917. Diese Auffassung war im Zusammenhang einer vorwärts stürmenden Arbeiterklasse, die vor allem in der schnell wachsenden Bewegung der Fabrikkomitees ihren eindrücklichen Ausdruck fand, ein wesentliches Element für den Durchbruch vom Oktober und kam dadurch zu ihrer geschichtlichen Bestätigung. Aber die Frage bleibt, ob durch etwas mehr Vertrauen in die Vitalität der Arbeiterklasse, in das Potential der proletarischen Demokratie und der Arbeiterkontrolle nicht viele Aspekte der notwendigen Koordination von Produktion und Verteilung, von der Armee und der Verwaltung dem schnellen Aufsteigen der Bürokratie eine wirksame und vor allem demokratische Gegenkraft entstanden wäre? Immerhin hatten sich diese Fabrikkomitees vor allem ab dem Sommer 1917 in einem Teil der russischen Industrie nicht nur die Entscheidungsmacht über Arbeitsbedingungen angeeignet. Sondern sie waren zunehmend zu Enteignungen oder doch massgebendem Einfluss auf die Ausrichtung der Produktion übergegangen. (Pankratova) Sie begannen auch, sich im regionalen und überregionalem Rahmen über die Versorgung mit Rohstoffen zu koordinieren (Rachleff). Dies war ja gerade ein wichtiger Teil der sogenannten Doppelmachtsituation, wie sie sich seit der Februarrevolution herausbildete. Sicher darf dabei der grosse Problemdruck nicht ausser Acht gelassen werden, dem sich die Bolschewiki durch Krieg, Bürgerkrieg, ausländische Intervention und Boykott, Auseinanderfallen jeglicher Autorität im Land, der zahlenmässigen Schwäche der Arbeiterklasse und der schwachen Industrie gegenübersahen. Diese ungünstigen Bedingungen waren allem voran noch potenziert durch das Ausbleiben der Unterstützung durch das europäische Proletariat. Aber es bleibt, dass ab der NEP allmählich eine Bürokratie die faktische Macht ergriff, die dann über ca. 3 Jahrzehnte von einem archaischen Despoten (Lewin 2003; Fitzpatrick u.a. in Daniels) auf eine total neue Grundlage gestellt wurde und immer wieder angepeitscht und in die Schranken gewiesen wurde. Und die aus tiefstem Eigeninteresse jeden Ansatz von Demokratie, geschweige denn von proletarischer Demokratie, ausschalten musste.

Der phänomenale Erfolg der Bolschewiki im Sommer und Herbst 1917 war auch ihrer demokratischen, toleranten und dezentralen Struktur geschuldet. Dazu kam, dass mit der Konzeption und der Kultur des demokratischen Zentralismus die divergierenden Tendenzen immer wieder einer organisatorischen Einheit und Disziplin und damit einem verlässlichen Zusammenhang zugeführt werden konnten. Dadurch entstand eine enorme Fähigkeit, sich den laufend ändernden Situationen anzupassen. Und es entwickelte sich ein organisatorischer Zusammenhang, der sich im Rahmen der Kräfteverhältnisse in den turbulenten Klassenkonflikten um den Oktober gegen das Ancien Régime und die Bourgeoisie stellen konnte, ganz im Sinne der Rätebewegung. Ferner verfügte die Partei über ein Arsenal äusserst fähiger Kader, allen voran der überragenden Fähigkeiten Lenins und ab Frühjahr 1917 Trotzkis. Dies alles in Verbindung zu dem offenen Massencharakter der Partei. All diese Eigenschaften stehen mehr oder weniger sowohl im Gegensatz zu dem traditionellen leninistischen Modell –wie es bis heute von vielen Gruppierungen der Linken angewandt wird –  wie erst recht zu den Modellen der Sozialdemokratie und des Stalinismus (LeBlanc). Diese Grundzüge, die bis in die zweite Hälfte der 1920er-Jahre hinein mehr oder weniger noch wirksam waren, erlaubten den untergeordneten Parteiinstanzen grosse Unabhängigkeit. Dies ermöglichte gerade während 1917 einen starken Zulauf und eine zunehmend starke Verankerung in den verschiedenen Szenarien des Zerfalls der alten Macht und der spontanen Herausbildung neuer Machtorgane. Diese untergeordneten Parteiorgane hatten eine entscheidende Rolle inne bei der Vorbereitung des Oktober und dann des organisatorischen Zusammenhalts der Sowjetunion über die verschiedenen schwierigen Phasen der 1920er-Jahre. Die bolschewistische Partei wurde so ab Sommer 1917 zur bei weitem am besten verankerten Kraft in den vorwärtsstürmenden Segmenten, die an der Verteidigung der Errungenschaften der Februarrevolution, d.h. vor allem der Demokratie interessiert waren. (Rabinovitch; LeBlanc)

Die Bolschewiki waren ab der Machtergreifung mit einer Sturmflut von ungünstigen Problemlagen konfrontiert, über die sie zusehends die Kontrolle verloren. Aber die Fiktion dieser Kontrolle im Interesse der Klasse der Lohnabhängigen, angelegt in der damals in der 2. Internationalen gängigen Auffassung der proletarischen Avant-Garde Partei, führte angesichts der Probleme ab 1918 zusehends in das, was oft als Substitutionismus bezeichnet wird. Das Proletariat war in dieser Einschätzung als handelndes Subjekt mehr oder weniger ausgelöscht. Die Partei handelte als dessen Stellvertreterin in deren mittel- und langfristigem Interesse. Und diese Einschätzung als proletarische Avant-Garde wurde der Legitimierung der KPdSU zugrunde gelegt und zunehmend via die Kommunistische Internationale von den kommunistischen Parteien Europas und ausserhalb übernommen. Die materielle Erosion des Proletariats als geschichtlichem Subjekt und damit seiner Organe, der Räte und insbesondere der Fabrikkomitees, machte die Partei in den Augen der Bolschewiki – und vieler Beobachter –  zum einzigen Instrument der Durchsetzung einer kohärenten Politik. Dies war gerade im Bürgerkrieg entscheidend für den Sieg. Trotzki formulierte bereits um 1903 die wesentliche Gefahr dieser substitutionistischen Konzeption in seiner Kritik an Lenin folgendermassen: «Die Parteiorganisation tritt an die Stelle der Partei selbst, das Zentralkomitee an die Stelle der Parteiorganisation und schlussendlich der Diktator an die Stelle des Zentralkomitees.» Dies traf dann spätestens anfangs der 1930er-Jahre ein, als der Stalinismus sich festgesetzt hatte und bereits Tausende aus der Alten Garde aus der Partei ausgeschlossen worden waren. Damals begann auch der Massenterror. Im Rahmen dieser Strategie wurde der proletarische Charakter des Staates durch die Tatsache sichergestellt, dass dieser sich in den Händen einer proletarischen Partei befand, die danach trachtete, die Arbeiterklasse zum Sozialismus zu führen. Es war gewissermassen das tragische Schicksal der bolschewistischen Partei, sich in den Zeiten der grossen Krisen und des Zurückflutens der Kräfte der Rätebewegung hartnäckig und misstrauisch als Verkörperung der proletarischen Interessen an der Macht zu halten und in der Konsequenz selbst unterzugehen. All der Schmach und der Verrat, der mit dem Bolschewismus assoziiert wurde und wird, hängt damit zusammen.

Der politisch egalitäre Trend, ja das Ethos von 1917, der die sowjetische Modernisierung während der heroischen Phase, d.h. bis zur faktischen Marginalisierung der Alten Garde spätestens um 1928 bis 1929 getragen hat, steht dem europäischen und amerikanischen Modell der Modernisierung entgegen. Es bezieht seine Ressourcen einerseits aus der ländlichen Tradition Russlands und andererseits aus der europäischen Arbeiterbewegung, insbesondere aus deren radikalen Traditionen, wie sie vor allem im revolutionären, nicht-revisionistischen Marxismus ihren theoretischen und praktischen Ausdruck gefunden hatten (Rabinovitch). Dieses Prinzip wurde von den Bolschewiki zuerst im Kriegskommunismus, dann in verstärktem Masse in der NEP mit der Privilegierung der technokratischen und administrativen Mittelschichten aber selbst aufgeweicht. Die Krise 1927 bis 1929 war  selbst Ausdruck einer wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft: in den Städten standen eine Mittelschicht von privilegierten Managern und Bürokraten einem wachsenden armen Proletariat gegenüber, das einer zunehmenden Arbeitslosigkeit ausgesetzt war. Auf dem Land eine verhältnismässig wohlhabende Schicht von Mittel- und Grossbauern (Kulaken) und einer verarmenden Mehrheit von Kleinbauern. Diese Widersprüche konnten durch Stalin genutzt werden, um ab 1928 seine forcierte Modernisierung von oben (Reiman in Daniels) in der eigentlichen Eröffnung der stalinistischen Periode durchzusetzen.

In der Sowjetunion  wurden aber unbestrittene Leistungen her­vorgebracht. Oft wohl eher trotz der Fehlleistungen von Stalin und der Bürokratie, gerade auch dank der Vitalität der  Arbeiter- und Bauernschaft. Man denke nur an den Sieg über den Faschismus, die erstaunlichen wirtschaftlichen Leistungen ab den frühen 1930er- bis Anfang der 1960er-Jahre. Oder an die Schaffung eines Manöverierraumes für die anti-kolonialen oder anti-imperialistischen Revolutionen bis Ende der 1970er-Jahre. Trotz der oft problematischen, ja verbrecherischen Rolle der Kommunistischen Internationale und von Stalin und seinen Nachfolgern in dieser Hinsicht. Dass die Sowjetunion während 70 Jahren einen hohen Grad politischer und wirtschaftlicher Autonomie gegenüber den Grossmächten Europas und der USA bewahren konnte, hängt gerade mit der starken Zentralisierung zusammen. Dies weist trotz aller Probleme auf die unumgängliche Funktion der Eroberung der Staatsmacht als strategischem Ziel von revolutionären Kräften hin, insbesondere in der imperialistischen Peripherie.[14] Dies wird gerade heute deutlich, insofern in den Ländern des Trikonts jede politische und ökonomische Autonomie wegerodiert, sofern nicht eine nationale Revolution in der Nachkriegszeit den Staatsapparat nutzte, um wichtige wirtschaftliche Entscheide zu zentralisieren. Die Zerfallserscheinungen bezüglich Lebens- und Arbeitsbedingungen für den grössten Teil der Bevölkerungen der ex-Sowjetunion, in Osteuropa und dem Balkan, die ab dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzten, das Aufkommen starker faschistoider Strömungen an vielen Orten z.B. in Polen, Rumänien, der Ukraine und Ungarn und die vielen Kriege deuten darauf hin, dass die Hülse dieses autoritären Staates zumindest das Schlimmste verhinderte. Dass beim Zusammenbruch diese zerstörerische Entwicklung losgetreten werden konnte, hat sehr viel damit zu tun, dass am Ende der 1980er-Jahre keine der günstigen Voraussetzungen mehr vorhanden gewesen ist, die den Durchbruch proletarischer Demokratie 70 Jahre vorher ermöglicht hatten: es war keine revolutionäre proletarische Organisation mehr vorhanden, denn die bolschewistische Partei war seit mindestens 60 Jahren untergegangen. Und die gegen Ende der achtziger Jahre aufflammende Massenspontaneität zur Verteidigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen war zu fragmentiert, obwohl oft – z.B. in der Schwerindustrie, in den Bergwerken und der Erdölindustrie im Ural, in Sibirien und vor allem in Rumänien – erbittert und lange gekämpft wurde. Und auf internationaler Ebene waren die vorläufig letzten Ausläufer proletarischer Erhebungen seit den 1970er-Jahren durch Repression und Korporatismus ausgetreten worden. Eigentlich entsprach dies weitgehend den Bedingungen, die global seit Ende der siebziger Jahre zur Durchsetzung der neoliberalen Offensive gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen breitester Bevölkerungssegmente führte.

Literaturverzeichnis

Im Text wird weitgehend auf die genauen Referenzen in der Literatur verzichtet. Dies entsprechend seinem Charakter, eher eine polemische Intervention als eine wissenschaftlich abgerundete Arbeit zu sein. Klassiker des Marxismus (z.B. Lenin, Trotzki, Bucharin, Luxemburg etc.) wurden nur ansatzweise in diese Liste aufgenommen, da ihre Schriften beinahe durchwegs herangezogen werden können, ja teilweise müssen, um die Problematik in ihrer Breite und Tiefe begreifen zu können.

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KPdSU: Kommunistische Partei der Sowjetunion

MVD: Innenministerium; verwaltete unter anderem den Gulag

NEP: Neue ökonomische Politik. Gemischtwirtschaftliche Phase in der Sowjetunion (1921 bis 1928)

SU: Sowjetunion

TINA: There is no Alternative, Es gibt keine Alternative. Triumphaler Leitspruch M. Thatchers, geäussert bei ihrem Amtsantritt als britische Premierministerin 1979.

UdSSR: Union der Sozialistischen Sowjet Republiken

ZK: Zentralkomitee. Führungsorgan der KPdSU

 

[1] Im strengen Sinne war der Stalinismus das politische und gesellschaftliche System in der Sowjetunion, das sich um die Mitte der 1920er-Jahre abzuzeichnen begann, sich mit der Einleitung der Zwangskollektivierung und dem Ersten Fünfjahresplan (1928/29) durchsetzte und mit dem Tode Stalins (März 1953) bzw. der Geheimrede Chruschtschows am 20. Parteikongress der KPdSU über die Verbrechen Stalins (1956) endete. Diese Bezeichnung ist insofern berechtigt, als die­ses System zunehmend um die Person Stalins herum strukturiert war.  Allerdings ist der Stalinismus weit über die Sowjetunion und die Lebenszeit Stalins hinaus wirksam gewesen. In dieser Arbeit wird jedoch nur die diesbezügliche Entwicklung in der Sowjetunion betrachtet.

[2] Unter Thermidor wird ein Abbruch und eine Umkehr einer revolutionären Entwicklung und ein mehr oder weniger gewaltsames Zurückdrängen von deren tragenden Kräften verstanden. Diese Bezeichnung geht auf das Ende der Französischen Revolution (Thermidor 1794, Absetzung der Jakobiner) zurück und wird von Trotzki im Zusammenhang mit der Russischen Revolution für die Durchsetzung der Alleinherrschaft Stalins (Ende der 1920er-Jahre) gebraucht.

[3] TINA: There Is No Alternative, Wahlspruch am Ende der siebziger Jahre der britischen Premierministerin M. Thatcher

[4] Konsequenterweise beginnt für sie das Problem bereits spätestens mit Marx und dem Marxismus. Ihre bis heute bekanntesten Anwälte sind nebst einer Vielzahl anderer z.B. Karl Popper mit Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Friederich Hayek mit Der Weg zur Knechtschaft, François Furet mit Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, Stéphane Courtois mit Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror oder Richard Pipes mit Kommunismus.

[5] Im Rahmen dieses Aufsatzes bleiben die inhaltliche Weiterentwicklung der Demokratie, wie sie durch die Bürgerrechtsbewegung und die Frauenbewegung bis weit ins 20. Jahrhundert erkämpft wurden, ausgeklammert. Allerdings haben diese meistens nur dort wirklich emanzipatorische Durchschlagskraft erreicht, wo sie die Eigentumsfrage einbezogen haben, das heisst sich im Zusammenhang mit den Klassenkonflikten orientiert haben. Wie übrigens das Umgekehrte erst recht gilt. Für diese Diskussion möchte ich auf z.B. auf  den Reader von Nancy Holstrom: The Socialist Feminist Project, New York 2002, verweisen.

[6] Siehe mittlerweile beispielsweise Neue Strategie, neue Partei? in inprekor vom Januar / Februar 2016. [eingefügt 2017]

[7] Siehe Leo Trotzki: Die Russische Revolution 1905; ders.: Ergebnisse und Perspektiven; auch Lenin 1917 [eingefügt 2017]

[8] siehe dazu z.B. verschiedene Beiträge in Daniels; auch Lewin 2003

[9] Dass dabei die Mitglieder der Linken Opposition und damit auch Trotzki nie  rehabilitiert wurden, weist ebenfalls auf die Grenzen dieser Entstalinisierung hin.

[10] Da mag eingewendet werden, dass gerade in der imperialistischen Peripherie die Revolutionen durch die Bauern getragen waren und vorläufig immer noch sind. Mein Argument geht aber in die Richtung, dass die proletarische Demokratie, als ein Zurückdrängen der Herrschaft der Eigentümer an Kapital und Grundeigentum aus den wichtigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen in einer Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, also auch des privaten Grundeigentums besteht. Und bislang endeten die Agrarreformen, die auf Revolutionen folgten, nur ausnahmsweise in einer Durchsetzung des kollektiven Eigentums auf dem Lande, etwa in China. Das heisst, die Rätestrukturen, als genuine proletarische Weiterentwicklung der Demokratie, spielten kaum eine Rolle. Das Problem liegt in der Sowjetunion ja gerade darin, dass diese demokratischen kollektiven Eigentumsformen sich nicht von der Industrie auf das Land ausgeweitet haben, während z.B. in China sich diese vom Land nur als autoritäre Formen auf die Industrie ausgeweitet haben. Man vergleiche dazu z.B. Wolf (1974), wo diese Grenzen sichtbar werden, obwohl das dort entwickelte Argument nicht in die hier vertretene Richtung geht.

[11] Als Revisionismus wird die um den Beginn des 20. Jahrhunderts sich durchsetzende Vorstellung  bezeichnet, dass der Kapitalismus durch friedliche Reformen langsam in den Sozialismus überführt werden könnte. Dazu  genüge die Eroberung der Mehrhit in den Parlamenten. Diese Vorstellung, die von E. Bernstein theoretisch formuliert wurde und eine heftige Debatte auslöste im sogenannten Revisionismusstreit, ist bis heute die unhinterfragte Grundauffassung der Sozialdemokratie.

[12] Dieser Begriff geht auf Preobrashenski und Bucharin in der Zeit des Kriegskommunismus zurück und rechtfertigt unter anderem auch die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch den proletarischen Staat vor dem Ziel der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft.

[13] Rede Stalins vor dem 13. Parteikongress (1924); diese Formel wurde 1926 in der Kommunistischen Internationalen (!) bestätigt.

[14] Dies ist wohl der strategisch entscheidende Einwand gegen das Argument von  J. Holloway, das dieser im Buch  Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen  entwickelt, und das gerade im Umfeld der Antiglobalisierungsbewegung eine breite Zustimmung gefunden hat.

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