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Die Aprilthesen Lenins: Umrüstung der Partei

Eingereicht on 8. April 2017 – 16:35

Jaqueline Katherina Singh.Im Februar 1917 hatten die ArbeiterInnen und Soldaten den Zaren zum Abdanken gezwungen. Sie bildeten dabei eigene revolutionäre Kampf- und Machtorgane, Sowjets (Räte). Aber deren Führung lag in den Händen versöhnlerischer, sozialchauvinistischer Kräfte, der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen.

Diese nutzten ihre Position nicht, um die ArbeiterInnenklasse und die Bauernschaft zur Machtergreifung zu führen und die Revolution zu einer sozialistischen voranzutreiben, sondern sprachen sich dafür aus, die Regierung bürgerlichen, imperialistischen Kräften zu überlassen. Ihrer Meinung nach war nämlich Russland für eine sozialistische Revolution noch nicht reif. Sie mussten also in einer solchen Doppelmachtsituation unwillkürlich einer anderen Kraft die Macht überlassen, übertrugen sie an die „Provisorische Regierung“ unter Fürst Lwow.

Ihre Politik ging damit einher, der Bourgeoisie und den Gutsbesitzern die politische Macht zu überlassen, Bauernschaft, Soldaten und ArbeiterInnenklasse zu vertrösten. Derweil sollte der imperialistische Krieg „demokratisch“, trotz Hungers und Landknappheit weitergeführt werden.

Dagegen entsteht oftmals der Eindruck, dass die Bolschewiki von Beginn an dieses Treiben geschlossen abgelehnt hätten. Doch gerade in dieser Doppelmachtsituation brodelten die Diskussionen innerhalb der Partei: Wie verhalten wir uns gegenüber den Räten? Welche Rolle spielen die Fabrikkomitees? Treten wir für eine vollständige Machtübernahme ein? Sind wir dazu überhaupt in der Lage?

Haltungen zur Provisorischen Regierung

Eine der wichtigsten Debatten mit vier verschiedenen Standpunkten fand direkt nach dem Errichten der ersten Provisorischen Regierung statt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Lenin noch im Exil.

Das Wyborger Distriktkomitee stand zu einem Programm, das ein tiefes Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung mit dem Glauben, dass die Revolution strikt demokratisch wäre, kombinierte. Am 1. März rief es die Sowjets auf, eine Revolutionäre Provisorische Regierung zu bilden. Das Ziel dieser Regierung sollte sein, den Weg für das Zusammentreten einer demokratischen Konstituante vorzubereiten.

Das Petrograder Komitee hingegen nahm einen konservativeren Standpunkt ein und beschloss, der Provisorischen Regierung nicht entgegenzutreten, sofern deren Aktivitäten den Interessen des Proletariats und der breiten Volksmassen entsprächen.

Das Büro des exilierten Zentralkomitees forderte hingegen, dass eine revolutionäre Provisorische Regierung von den im Exekutivrat des Sowjets vertretenen Parteien gebildet werden sollte. Zudem beschränkte es seine Forderungen auf das sozialdemokratische Minimalprogramm -Achtstundentag, demokratische Republik, Konfiskation der Landgüter und ihre Übergabe an die Bauernschaft – sowie die Wahl einer konstituierenden Versammlung.

Den rechtesten Standpunkt vertrat aber die Redaktion der „Prawda“ unter Stalin, Muranow und Kamenew. Sie erklärte am 7. März: „Was uns betrifft, so ist, was jetzt zählt, nicht der Sturz des Kapitalismus, sondern der Sturz der Autokratie und des Feudalismus.“ Sie trat für eine „kritische Unterstützung“ der Provisorischen Regierung ein, sofern diese die Revolution vorantriebe. Der bürgerliche Charakter der Regierung wurde beschönigt, der imperialistische Charakter des Krieges relativiert. Damit wurde auch der revolutionäre Defaitismus von der Prawda-Redaktion praktisch aufgegeben und die Verteidigung des „demokratischen“, imperialistischen Russland „kritisch“ befürwortet.

Lenins Kampf

Diese unterschiedlichen Positionen verdeutlichen eine gewisse Perspektivlosigkeit. Aus dem Exil schrieb Lenin die „Briefe aus der Ferne“, teilweise und mit kritischen Anmerkungen von Stalin in der Prawda abgedruckt.

Nach seiner Rückkehr nahm Lenin den Kampf für seine Position innerhalb der Partei auf. Die Aprilthesen wurden verfasst. Auf wenigen Seiten versuchen sie, eine Antwort auf die aufgeworfenen Fragen zu formulieren. In 11 kurzen Thesen wurde der Partei ein neues Programm zu geben, die Perspektivlosigkeit zu überwinden versucht.

Für die Thesen spielten die internationale Lage und die Kriegsfrage eine zentrale Rolle. Der Erste Weltkrieg forderte bis 1917 Millionen von Opfern und ließ die Massen verelenden. Er sorgte für eine Zunahme der Spannungen im Inneren, die letzten Endes den russischen Zar zu Fall brachten. Die Massen forderten Brot, Land und Frieden, aber mit Einsetzen der Regierung Lwow wurde der Krieg weitergeführt.

In den Aprilthesen formulierte Lenin deutlich, dass sich der Charakter des Krieges durch die neue Regierung nicht verändert habe und man konsequent gegen die Beteiligung daran eintreten müsse. Die Agitation gegen den Krieg war entscheidend, um die Massen zu gewinnen. Denn als einzige Kraft lehnten die Bolschewiki beharrlich den Krieg ab, während die SozialrevolutionärInnen und Menschewiki sich den Interessen des Kapitals unterordneten, die Massen verrieten und sich an der Provisorischen Regierung beteiligten.

Bürgerliche Demokratie oder Sozialismus?

Dies war die wohl zweitwichtigste Kontroverse innerhalb der Partei, die in den Aprilthesen aufgegriffen wird. So schreibt Lenin: „Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Russland besteht in dem Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewusstseins und der mangelhaften Organisiertheit des Proletariats die Bourgeoisie an die Macht brachte, zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muss.“

Anders als noch 1905 ging Lenin davon aus, dass die russische Revolution bei ihren bürgerlichen Aufgaben nicht stehenbleiben könne, zu einer sozialistischen voranschreiten müsse. Nur wenn die ArbeiterInnenklasse die Macht ergreife, die Wirtschaft unter ihre Kontrolle stelle, könne sie selbst nur die bürgerlichen Aufgaben erfüllen. Mit dieser Sicht übernimmt Lenin praktisch Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution, während viele „alte Bolschewiki“ auf seiner Auffassung von 1905 beharren, dass die Revolution nur eine bürgerliche sein könne.

Lenin erkannte, dass ein „Stehenbleiben“ bei einer „demokratischen“ bürgerlichen Herrschaftsform, die die Forderungen der Massen nach Land, Brot und Frieden eben nicht erfüllen könne, sich als unmöglich erwiesen hatte. So sei Aufgabe der Partei, den „erwachten Massen des Proletariats“ den Weg zu weisen zur Machtergreifung.

Gegen die Provisorische Regierung, Kampf für die Rätemacht!

Inmitten der Positionsdebatten machte Lenin klar, dass die Bolschewki die Verlogenheiten der Regierung, ihre leeren Versprechen und Illusionen in die bürgerliche Demokratie aufzudecken hätten. Dies sollte innerhalb der Räte, in denen die Bolschewiki zu Beginn des Jahres 1917 klar in der Minderheit waren, geschehen. Entgegen der menschewistischen Vorstellung, dass die Räte reine Foren zum Austausch waren, seien die Sowjets die einzig wahre Revolutionsregierung. Während der mehrfachen Krisen der Provisorischen Regierung fiel diese Agitation auf fruchtbaren Boden. Zwar gab es auch Rückschläge durch harte Repressionswellen und Diffamierungsversuche nach den verfrühten Aufständen im Juli, aber nichtsdestotrotz eroberten die Bolschewiki die Mehrheit in den Räten.

Flüchtige Betrachtungen der Russischen Revolution schenken der Landfrage wenig Beachtung – zu Unrecht: nicht nur weil ungefähr 80 % der Bevölkerung der Bauernschaft angehörten, sondern diese auch eine entscheidende Rolle im Verlauf der Revolution einnehmen sollte, nachdem die SozialrevolutionärInnen ihre Versprechen bezüglich der Landreform nicht einhielten. So forderte Lenin nicht nur die Enteignung des gesamten adligen Grundbesitzes, die Nationalisierung des gesamten Bodens unter Verwaltung durch Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräte, sondern auch die Schaffung von besonderen Deputiertenräten der halbproletarischen Dorfarmut.

Über diese Punkte hinaus wurde die Zentralisierung aller Banken zu einer Nationalbank unter ArbeiterInnenkontrolle, die Änderung des Programms bezüglich der Kriegsfrage, des Minimalprogramms und der Räte gefordert sowie die Schaffung einer neuen Internationale nach der Degeneration der II. Internationale mit Beginn des I. Weltkrieges vorgeschlagen.

Neues Programm, neue Methode

Ende April 1917 war es Lenin gelungen, dafür eine Mehrheit in der Partei zu erringen. Dies war nur möglich, weil die Vorhut der ArbeiterInnenklasse – insbesondere in den Großbetrieben der Hauptstadt – selbst in diese Richtung drängte wie auch Teile des Bolschewismus versuchten, eine unabhängige Politik im Rahmen seiner alten Strategie von 1905 zu formulieren, als nicht die Machteroberung der ArbeiterInnenklasse, sondern eine „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“ auf Basis einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution angestrebt wurde.

Die inneren Widersprüche dieser Formel trieben den rechten Flügel des Bolschewismus Richtung Sozialpatriotismus, zur Linie der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen. Der linke Flügel versuchte zwar gegenzuhalten, vermochte aber die Grenzen der alten Formel nicht zu überwinden. Die Aprilthesen sprengten dieses Korsett. Lenin verwirft die Formel der „demokratischen Diktatur“, das Festhalten am bürgerlichen Charakter der Revolution als „überlebt“. Seine Fähigkeit, an einem geschichtlichen Wendepunkt das Programm auf die Höhe der Zeit zu heben, macht die Aprilthesen zu einem historischen Dokument, zu einem Übergangsprogramms vom Kapitalismus zum Sozialismus.

Quelle: Neue Internationale 218, April 2017… vom 8. April 2017

 

 

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