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Freihandel, Klassenkonflikt und die Aufgaben der Linken

Eingereicht on 30. April 2017 – 20:00

Willi Eberle. Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kündigte sich eine neue Periode an. Die Bourgeoisie geht in ihrer Jagd nach Surplusprofit verstärkt dazu über, die Löhne zu drücken und Arbeiterinnen und Arbeiter zu entlassen. Sie strukturiert den Produktionsprozess neu, indem sie die Wertschöpfungsketten regional und vor allem international ausweitet, vertieft und optimiert. Damit weitet sich der Handel aus. Dies führt in den USA, in England, in Deutschland, vor allem in Frankreich und in Italien zu grossen Arbeiterkämpfen. Diese werden von der Bourgeoisie mit Hilfe der Führungen der Sozialdemokratie, der Kommunisten und der Gewerkschaften niedergerungen.

Der neoliberale Konsens der Standortkonkurrenz

Die kämpferischen Teile der Arbeiterklasse haben schon immer die Profite gefährdet und gelegentlich direkt das kapitalistische Privateigentum bedroht, wie z.B. in Italien 1969/70. Am brutalsten wird dieses Programm der Disziplinierung der Arbeiterklasse beim Putsch in Chile am 11. September 1973 durchexerziert. Dort verkündete der führende Putschgeneral Pinochet auf einem Leichenberg von gegen 50´000 abgeschlachteten Frauen und Männern aus der Arbeiterklasse, um was es geht: «Der Aufbau einer Nation besteht darin, aus Chile ein Land von Eigentümern, nicht [von] Proletariern zu machen… Es sind die Reichen, die Geld schaffen. Sie müssen gut behandelt werden, damit sie mehr Geld hervorbringen.»

Man sieht bereits aus dieser brutalen Eröffnungsparade des Neoliberalismus, dass sich die Bourgeoisie keinesfalls auf den Rahmen der bürgerlichen Demokratie beschränken will, wenn es um die Sicherung ihrer Herrschaft und die Sicherung ihres Eigentums geht. Die chilenische Arbeiterklasse und die Bauern hatten mit dem schnellen Aufbau von landesweiten Rätestrukturen das kapitalistische Privateigentum angegriffen, insbesondere auch die im US-Besitz stehenden Kupferminen und die deutsche und die schweizerische Chemie- und Baustoffindustrie.

In dieser neuen Periode des Marktradikalismus ist der internationale Handel stark angewachsen, und in Europa und den beiden Amerikas bekam das Projekt der wirtschaftlichen und politischen Integration neuen Schub. Die Führungen der traditionellen Arbeiterbewegung orientierten sich unter dem Druck der neuen Verhältnisse auf den neoliberalen Konsens. Dessen fatale Illusion wurde von Helmut Schmidt als deutschem Kanzler aus der SPD Mitte der 1970er Jahre trefflich formuliert: «Die Profite von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen». Der gleiche Leitgedanke also wie bei Pinochet. In dessen Zentrum steht die Logik der Standortkonkurrenz, die da lautet: im Rahmen der sich verschärfenden internationalen Konkurrenz müssen die Lohneinkommen, die Renten und die Sozialleistungen gekürzt und die Steuern für die Reichen und Unternehmen gesenkt werden. Dieses Programm gewann ab dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Krise der 1990er Jahre noch stärker an Fahrt und die neoliberale Einheitsfront rückte immer weiter nach rechts.

Gegen die Mitte der 1990er Jahre wurde der Welthandel auf neue Grundlagen gestellt: Zollabbau und gewisse Handelserleichterungen genügten nun nicht mehr. Mit der Gründung der WTO 1995 erhielten die Vereinheitlichung von Normen, Regulierungen und insbesondere der Investitionsschutz Priorität; es ging fortan hauptsächlich um eine Eigentumsgarantie auf den Investitionen der multinationalen Unternehmen und einen Schutz ihrer Profite vor den Auswirkungen von Gesetzen zum Umwelt-, Konsumenten- und Arbeitsschutz. Der erste solche Versuch war das MAI. Dieses scheiterte aber am grossen Widerstand der Antiglobalisierungsbewegung und am Widerstand der sogenannten Schwellenländer. Heute streben TTIP, TISA, CETA usw. dasselbe an und lösen ebenfalls grosse Massenproteste aus.

Grosse Mobilisierungen gegen die Standortkonkurrenz

Der Aufstand der Bäuerinnen und Bauern im mexikanischen Gliedstaat Chiapas vom 1. Januar 1994 kann als symbolischer Auftakt dieser Widerstandswelle betrachtet werden; an diesem Datum trat der NAFTA-Vertrag in Kraft. In dieser weltweiten Aufstandswelle kam es in Europa und Lateinamerika zu grossen politischen Erschütterungen. In Lateinamerika bildeten sich linke Regierungen heraus, die den Massenwiderstand aber in den Rahmen einer nationalen kapitalistischen Ordnung zwangen.

Ab den 1990er Jahren wuchs die Zahl der Freihandelsverträge weltweit von wenigen Dutzend auf heute über 500 an. Die ausländischen Direktinvestitionen erwiesen sich als das materielle Rückgrat des Freihandels oder der Globalisierung. Sie wuchsen vor allem seit dem Ende der 1970er Jahre weltweit von ca 5% auf heute über einen Drittel des Bruttosozialproduktes (BSP) an. Heute werden zwischen 70 und 80 % der weltweiten Wirtschaftsleistung direkt oder indirekt von multinationalen Firmen über die globalisierten Wertschöpfungsketten kontrolliert. Diese Wertschöpfungsketten sind auf möglichst tiefe Herstellungs- und Vertriebskosten hin optimiert. Das bedeutet neben anderem möglichst tiefe Stücklohnkosten, tiefe Nebenkosten wie Steuern, Sozialabgaben, sowie schwache Bestimmungen zu Umwelt-, Arbeits- und Konsumentenschutz usw.

Grenzen des neoliberalen Konsenses

Entsprechend geriet die Lebenslage von breiten Teilen der Bevölkerung in Europa und den USA über die vergangenen 40 Jahre unter immer grösseren Druck. Dies wird z.B. in der Lohnquote sichtbar; diese drückt den Anteil der Löhne am Nationaleinkommen aus. Stand diese in den imperialistischen Zentren Mitte der 1970er Jahre, der Zeit ihres bisherigen Höchststandes, bei ca. 70 bis 80 %, so liegt sie heute bei deutlich unter zwei Dritteln. In der Schweiz liegt sie traditionellerweise tiefer. Gleichzeitig nimmt weltweit die soziale Ungleichheit dramatisch zu; heute besitzen 8 Milliardäre gleich viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Menschheit. Vor etwa 7 Jahren brauchte es dazu noch über 250 Milliardäre. Warren Buffet mit etwa 60 Mia $ einer von ihnen, sagte jüngst: «Sicher gibt es den Klassenkonflikt. Aber wir gewinnen ihn!»

Mittlerweile ist klar, dass diese neoliberale Strategie der Handelsausweitung und der Standortkonkurrenz, der Liberalisierung der Arbeitsmärkte, der Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen und des offensiven Sozialabbaus, der Plünderung der Altersvorsorge, der Steuersenkung für Reiche und Unternehmen an seine Grenzen stösst. Der Aufstieg der Neuen Rechten ist ein untrügliches Signal, dass die Verlierer und Verliererinnen vor allem aus den Segmenten der Kleinunternehmer und Marginalisierten, aber auch aus der Arbeiterklasse dringend eine Antwort suchen. Sie fordern einen Ausstieg aus dem neoliberalen Konsens, wie er sich in der institutionalisierten Politik abspielt. Sie sind oft von dem Zynismus der Eliten angewidert und wollen einfach etwas ganz Anderes.

Vor allem aber auch Teile der Bourgeoisie möchten aus dem neoliberalen Konsens aussteigen; sie wurden durch die vergangenen Erfolge ermutigt und wollen noch schneller noch aggressivere Konzepte durchsetzen. Donald Trump formuliert dies in aller Offenheit. Dabei beuten sie den Reflex gegen die Eliten und gegen den Freihandel aus, um sich über die Neue Rechte einen politischen Massenanhang aufzubauen. Sie haben keine Hemmungen, mit althergebrachten rassistischen, chauvinistischen und autoritären, ja mit fortlebenden faschistischen Strömungen Bündnisse einzugehen, um an ihr Ziel zu kommen. Dieses von den breiten Segmenten der Bourgeoisie geforderte forschere Vorgehen ist nichts Neues und besteht seit spätestens den frühen 1990er Jahren.

Internationale Arbeiterdemokratie statt Freihandel

Dieses Jahr jährt sich die Russische Revolution zum hundertsten Mal. Sie ist ein Pfahl im Fleische der Bourgeoisie und der Führungen der traditionellen Arbeiterbewegung. Für uns aber ist dieses Jubiläum auch ein Anlass für eine Hoffnung, dass es gesellschaftliche Kräfte gibt, die Stiefel im Gesichte nicht gerne haben. Die gezwungen sind, die Bühne der Geschichte zu betreten und aktiv zu werden. Denn nur sie können den gefährlichen Entwicklungen Einhalt gebieten und die Bourgeoisie im politischen und sozialen Kampf herausfordern. Dafür müssen sie jedoch ihre eigenen politischen und sozialen Instrumente aufbauen. Diese neuen Formen einer demokratischen Gesellschaft sind untrennbar mit der Selbstorganisation der Arbeiterklasse verbunden – und deshalb unvereinbar mit allen Formen der Klassenzusammenarbeit. Solche Erfahrungen wiederholen sich seit der Pariser Kommune vom Frühjahr 1871 immer wieder – bis heute!

In der Schweiz kann heute ganz konkret an diese Geschichte angeknüpft werden, beispielsweise mit dem linken Referendum gegen die Pläne der neoliberalen Einheitsfront, mit dem Plan Berset die Altersvorsorge massiv zu schwächen. Diese sieht eine Rentenaltererhöhung, eine Senkung der Renten in der 2. Säule, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vor und bringt keine Verbesserung für die über 2 Millionen gegenwärtigen Rentnerinnen und Rentner. Oder man arbeitet aktiv mit in linken politischen Zusammenhängen, die sich anstatt auf die Regierungsbeteiligung auf die Entwicklung von Mobilisierungen gegen den Freihandel, den Sozialabbau, die Sparpolitik, gegen Entlassungen, Betriebsschliessungen und Lohnkürzungen orientieren, die sich für die internationale Solidarität, gegen die Unterdrückung der Frauen, gegen Rassismus, gegen die ökologische Zerstörung und gegen die imperialistische Kriegstreiberei engagieren.

Der Streik in den SBB Werkstätten in Bellinzona vom Frühjahr 2008 war neben anderen Beispielen ein weitherum gehörtes Signal, dass auch die Arbeiterklasse in der Schweiz durchaus fähig ist, erfolgreich zu kämpfen. Oder die vereinzelten Streiks gegen Lohnsenkungen 2012, als die Gewerkschaftsführungen angesichts des «starken Frankens» einknickten.

Im Allgemeinen geht es um ein sozialistisches Programm mit dem Ziel, die Enteigner zu enteignen. Dieses sollte Massnahmen enthalten wie die Aufteilung der Arbeit auf alle verfügbaren Arbeitskräfte bei gleichzeitiger Erhöhung des Mindestlohns, die Verstaatlichung der Banken, der Versicherungen und der strategischen Sektoren der Wirtschaft unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse. Ein solches Programm muss die Nichtzahlung der Schulden und der Kampf für die Erlassung der Schulden in den Gläubigerländern, den Bruch mit allen Abkommen und Verträgen mit den USA, mit der EU und der Nato und den Stopp aller rassistischen und fremdenfeindlichen Maßnahmen gegen die Immigrantinnen und Immigranten fordern. Es muss sich klar und eindeutig gegen die Kriegstreiberei und die zunehmende Einschränkung der Bürgerrechte durch die Regierungen wenden. Ein solches Programm kann nur durch den Anstoss des Klassenkampfes in ganz Europa durchgesetzt werden. Dies geht nur, wenn die Methode der Generalstreiks wieder belebt wird.

Dies ist der einzige Weg, die Neue Rechte zurückzudrängen. Ein solches Projekt unterscheidet sich grundsätzlich von anderen politischen Projekten, die darauf aus sind, über die Eroberung von Parlamentsmehrheiten in die Regierung zu gelangen und sich dabei gegen soziale Bewegungen und die Selbstorganisation der Arbeiterklasse stellen. Nicht nur hat das tragische 20. Jahrhundert zur Genüge die Gefährlichkeit solcher Illusionen gezeigt, auch die neueste Geschichte ist voll von solchen verfehlten Ansätzen. Dies zeigen beispielsweise die Erfahrungen mit der griechischen SYRIZA oder der brasilianischen Partido dos Trabalhadores. Sie sind zu Rettern des neoliberalen Konsenses geworden. Sie stärken damit die Neue Rechte.

Referat in St Gallen an der Veranstaltung Freihandel: Welche Antwort der Linken? vom 2. Mai 2017

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