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Pattsituation in Venezuela

Eingereicht on 13. Mai 2017 – 19:59

Über die vergangenen Wochen wurde Venezuela beinahe täglich von Protesten und Gegenprotesten erschüttert, da die Gegner des sozialistischen Präsidenten Maduro versuchen, seine Regierung zu stürzen.

Während die Medien diese Ereignisse als Volksaufstand gegen eine autoritäre Regierung darstellen, interpretiert die vor allem in ärmeren Schichten verankerte Anhängerschaft der vom früheren Präsidenten Hugo Chavez ins Leben gerufenen bolivarianischen Revolution als eine Verschärfung der andauernden gegenrevolutionären Kampagne, um die traditionellen Eliten Venezuelas wieder an die Macht zu bringen und die Errungenschaften der armen Bevölkerungsmehrheit aus der Zeit von Chavez und Maduro rückgängig zu machen.

Federico Fuentes sprach mit Steve Ellner, einem bekannten Analysten der lateinamerikanischen und venezolanischen Politik, über seine Ansichten zu den neueren Entwicklungen.

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Wenn die Medien über die aktuellen Unruhen in Venezuela berichten, so sind sie sich einig in ihrer Darstellung der Ereignisse: Die Regierung Maduro steht vor ihrem Zusammenbruch angesichts der überwältigenden Opposition des Volkes, auch aus deren ärmsten Sektoren, die früher die Regierung unterstützten. Sie kann deshalb für ihr Überleben nur mehr auf gewalttätige Repression zurückgreifen. Wie zutreffend ist diese Erzählung der Medien?

Diese Darstellung ist kaum zutreffend.

Es gibt wohl keine bessere Illustration der Verkehrtheit der Medienversion als die räumliche Verankerung der Proteste gegen die Regierung von 2014, die als «guarimba» bekannt wurden und dann wieder in diesem Jahr.

Die Proteste sind vor allem auf die Mittel- und Oberschichtenquartiere der grossen Städte konzentriert, die von Bürgermeistern aus der Opposition regiert werden. Die Strategie hinter diesen Protesten besteht darin, dass die Massenbewegung des zivilen Ungehorsams sich mit den Sicherheitskräften konfrontiert und auf breiter Basis öffentliches Eigentum zerstört, das vor allem für die ärmeren Quartiere bestimmt ist.

Gewiss haben die breiten Bevölkerungsschichten eine lange Tradition von Strassenprotesten, gerade über mangelhafte öffentliche Dienstleistungen. Die breiten Bevölkerungsschichten jedoch sind bis anhin passiv geblieben, allerdings nicht so verbreitet wie noch 2014. Offensichtlich setzt die Opposition auf grössere aktive Unterstützung als noch 2014.

In einer ähnlichen Logik wurde die chavistische sozialistische Einheitspartei Venezuelas (PSUV) durch die Wahlabstinenz enttäuschter Chavistas mehr geschwächt, als durch solche, die letztendlich die Opposition wählten. Solches Wahlverhalten erklärt die Niederlage der Chavistas in den Parlamentswahlen vom Dezember 2014.

Die chavistischen Führer verfügen jedoch weiterhin über eine beeindruckende Mobilisierungsfähigkeit, wie sich kürzlich an zwei Märschen zeigte, einer davon am 19. April, dem venezolanischen Unabhängigkeitstag, der andere am 1. Mai.

Die gefährliche wirtschaftliche Lage des Landes wie auch die umfassende politische Wende in ganz Lateinamerika stärken den Auftrieb der Opposition. Demgegenüber konnte in den vergangenen politischen Krisen, wie etwa beim versuchten Staatsstreich von 2002 und im Generalstreik von 2002-2003 die Regierung Chavez auf die Unterstützung anderer, selbst nicht linker, lateinamerikanischer Länder zählen.

Aktuell unterstützen die Regierungen der Nachbarstaaten von Venezuela – trotz ihrer grosser Unbeliebtheit und ihrer internen Zwiste – ausdrücklich die Anliegen der Opposition.

In dieser Situation würde ich die politische Lage in Venezuela als ein Patt bezeichnen, jedoch überhaupt nicht sagen, dass die Regierung am Ende sei. Selbstverständlich muss mit Vorhersagen, angesichts der politischen Unbeständigkeit der neuesten Vergangenheit, bestenfalls vorsichtig umgegangen werden.

Letztendlich werden die breiten Sektoren der einfachen Bevölkerung das letzte Wort haben. Sollten sie sich den Protesten anschliessen, dann wäre die Feststellung, dass die Regierung Maduro am Ende ist, zutreffend. Dies entspräche dann weitgehend der Situation in der Sowjetunion von 1991, als die Bergarbeiter begannen, sich gegen die Regierung zu mobilisieren und so den Zusammenbruch des Regimes ankündigten.

Sogar frühere Anhänger der Regierung sprechen heute von einer autoritären Wende Maduros. Steckt in diesem Vorwurf ein Kern Wahrheit?

Um diese Frage zu beantworten, muss darauf hingewiesen werden, dass sich Venezuela nicht in einer normalen Situation befindet, wo eine sogenannte «loyale Opposition», die die Rechtmässigkeit der Regierung anerkennt, im Rahmen der Spielregeln mitspielt. In diesem Sinne ist es irreführend, über die Massnahmen der Regierung zu sprechen, ohne diese in ihren Zusammenhang zu stellen. Dies aber tun die privaten Massenmedien.

Die Führer der Opposition von heute sind meistens dieselben, die am Staatsstreich und am Generalstreik von 2002-2003 beteiligt waren, dieselben, die sich weigerten, die Legitimität der Wahlen von 2004 und 200 anzuerkennen und durchwegs die Legitimität des nationalen Wahlrates in Frage stellten, ausser in den Fällen, wo die Regierung unterlegen war.

Es sind auch dieselben, die sich weigerten, den Triumph von Maduro in den Präsidentschaftswahlen von 2013 anzuerkennen, was mit ungefähr einem Dutzend Toten endete; sie förderten den viermonatigen Protest von 2014, wo es zu massiven Bewegungen des zivilen Ungehorsams mit beträchtlicher Gewalt kam, was zu 43 Toten, darunter sechs Mitgliedern der Nationalgarde, führte.

Die aktuelle Periode setzte 2015 mit dem Triumph der Opposition bei den Wahlen in die Nationalversammlung ein, als deren Präsident, Heny Ramos Allup, sofort erklärte, dass es innerhalb von sechs Monaten zum Sturz der Regierung kommen würde; daraufhin lehnte die Nationalversammlung das Budget der Regierung ab. Die ganze Zeit wies die Opposition den Aufruf der Regierung für einen nationalen Dialog zurück und forderte Zugeständnisse als Vorbedingung für Verhandlungen. Die Proteste des vergangenen Monats (April 2017) sind eine Wiederholung des guarimba von 2014. Die Führer der Opposition schweigen hartnäckig zur Frage der Gewalt, abgesehen davon, dass sie – im abstrakten Sinne nur – dagegen seien.

Sie rufen praktisch täglich zu Mobilisierungen in den wohlhabenden östlichen Stadtteilen von Caracas auf und versuchen dabei, zum Stadtzentrum zu gelangen, wo der Präsidentenpalast liegt. Sprecher der Regierung haben wiederholt erklärt, dass das Stadtzentrum von Caracas für die Demonstrationen der Opposition gesperrt sei; die Sicherheitskräfte setzen normalerweise Tränengas ein, um den Zugang abzusperren.

Der Grund für dieses Verbot der Regierung liegt auf der Hand. Mit einer starken Präsenz der Opposition im Stadtzentrum über eine undefinierte Zeitspanne würde es zu massivem zivilem Ungehorsam, einer Umzingelung des Präsidentenpalastes und Gewalt kommen, was in ein unkontrollierbares Chaos münden könnte.

Die Konfrontation würde durch die Berichterstattung der internationalen Medien nur angeheizt, die seit je ihre Berichte zugunsten der Opposition zurechtgestutzt haben. Die Tatsache, dass die wichtigsten Führer der Opposition über die letzten Wochen täglich zu Demonstrationen in Richtung des Stadtzentrums von Caracas aufgerufen haben, obwohl sie ganz genau wissen, dass es dabei zu Zusammenstössen kommt, deutet darauf hin, dass sie eine Strategie der Machteroberung fahren, die Strassensperren und Strassenkämpfe beinhaltet.

Die räumliche Struktur der Proteste ist zentral. Man könnte sagen, dass die Regierung gut daran tut, die Proteste davon abzuhalten, bis ins Stadtzentrum von Caracas vorzudringen. Die Frage jedoch ist, ob die Chavistas friedliche Demonstrationen aus den wohlhabenden östlichen Quartieren durch die Bollwerke der Quartiere der einfachen Bevölkerung dulden würde.

Diese Frage wird dadurch vernebelt, dass die Demonstrationen der Opposition beinahe immer Ausbrüche von zivilem Ungehorsam und Gewalt beinhalten.

Verfechten deiner Auffassung nach sowohl die Chavistas wie die Opposition unvereinbare Positionen?

Beide Seiten spielen ein hartes Spiel, aber ohne eine Beschreibung der politischen Rahmenbedingungen ist es unmöglich einzuschätzen, worum es dabei geht. In der Tat ist der demokratische Charakter einiger Entscheide der Regierung fragwürdig, insbesondere deren zwei.

Vor einem Monat wurde dem Gouverneur des Gliedstaates Miranda, Henrique Capriles, der bereits zwei Mal für die Präsidentschaft kandidiert hatte, unter dem Vorwurf der Korruption das Recht auf Teilnahme an Wahlen abgesprochen.

Zweitens wurden die Gouverneurs- und die Gemeindewahlen, die auf Dezember 2016 vorgesehen waren, aufgeschoben; als Grund wurden andere anstehende Wahlprozesse angegeben. Obwohl Maduro darauf hinwies, dass seine Partei an solchen Wahlen teilnehmen werde, wurde immer noch kein Datum dafür festgelegt. Fände heute Wahlen statt, würden die Chavistas sehr wahrscheinlich Verluste erleiden.

Die Hardliner innerhalb der chavistischen Bewegung, angeführt vom Abgeordneten der Nationalversammlung Diosdado Cabello, geben offensichtlich den Ton an und treten für eine harte Linie gegenüber der Opposition ein. Die am ehesten hörbare Stimme der weicheren Linie ist der ehemalige Vizepräsident José Vicente Rangel, der Signale für Verhandlungen befürwortet und jene innerhalb der Opposition stützen würde, die gegen die Konfrontation auf der Strasse sind.

Desgleichen sitzen die Radikalen in der Opposition fest im Sattel. Sie machten klar, dass sie, einmal an der Macht, die Führer der Chavistas wegen Korruption und der Verletzung der Menschenrechte inhaftieren würden. Ihr Aufruf für ein «Nein der Straflosigkeit» ist eine verschlüsselte Botschaft. Sie bedeutet in Wirklichkeit eine Hexenjagd auf die chavistische Bewegung und die Auslösung einer Repressionswelle, die den Weg für unpopuläre neoliberale Reformen freimachen würden.

Tatsächlich war Capriles’ Wahlplattform bei den Präsidentschaftswahlen von 2012 und 2013 vom Neoliberalismus geprägt. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den radikalen Taktiken und der Intoleranz der Opposition einerseits und, andererseits, dem neoliberalen Programm, das von ihnen durchgesetzt würde, wenn sie erneut an die Macht käme.

Zusammengefasst ist die Darstellung von Maduros Regierung als autoritär eine offene Verdrehung der wirklichen Verhältnisse. Andererseits haben sich die chavistischen Führer gelegentlich selbst von demokratischen Grundsätzen entfernt. Ihr Handeln muss jedoch im Zusammenhang gesehen werden.

Was war die Auswirkung der Einmischung der US-Regierung und der Organisation Amerikanischer Staaten, zusammen mit der veränderten Haltung einiger Regierungen in der Region?

Den ausländischen Akteuren, die du erwähnst, ist es nicht gelungen, sich über die venezolanische Innenpolitik zu stellen und eine friedliche Lösung in einem Konflikt zu fördern, der sehr wohl zu einem Bürgerkrieg ausarten könnte. Die Verlautbarungen des Weissen Hauses wie auch diejenigen des Generalsekretärs der OAS Luis Almagro stimmen voll und ganz mit den Interpretationen und Forderungen der Opposition überein.

Anstatt sich auf eine Seite in diesem internen Konflikt Venezuelas zu stellen, hätte die OAS zu einem nationalen Dialog aufrufen und eine unparteiische Kommission ernennen sollen, um die umstrittenen Vorfälle zu untersuchen. Der Entscheid der Regierung Maduro, sich aus der OAS zurückzuziehen war eine Reaktion auf die Parteilichkeit der Organisation, die die politische Polarisierung nur noch mehr aufgeheizt hat.

Die OAS und andere internationale Akteure bestärken die Opposition nur in ihrer Interpretation, in der die dringenden wirtschaftlichen Probleme und der angebliche Autoritarismus der Regierung Maduro zusammengeworfen werden. Dieses Vorgehen stärkt unbeabsichtigterweise den Einfluss der Hardliner innerhalb der Opposition.

Er einzige Weg, um einen Regimewechsel mittels undemokratischer Mittel wie auch die Einmischung ausländischer Akteure wie der OAS zu rechtfertigen, besteht im Versuch nachzuweisen, dass das Land sich auf eine Diktatur zubewegt und systematisch Menschenrechte verletzt.

Die Gemässigten innerhalb der Opposition – obschon sie zur Zeit über keine nationale Führungsfigur verfügen – betonen lieber die wirtschaftlichen Fragen, um die breite Bevölkerung anzusprechen und einige der enttäuschten Chavistas an sich zu ziehen; gleichzeitig treten sie für einen Dialog mit der Regierung ein. Die Gemässigten setzen deshalb ihren Akzent auf wirtschaftliche Probleme und weniger auf politische.

In diesem Sinne tragen die sich einmischenden ausländischen Akteure, die das demokratische Funktionieren der venezolanischen Regierung in Frage stellen, zur weiteren Polarisierung des Landes bei.

Wie ernst ist die Versorgungslage?

Das Problem der Versorgung mit den Gütern des Grundbedarfs besteht zweifellos, auch wenn es nicht zutrifft – wie die Medien wie beispielswiese das Wall Street Journal behaupten -, dass das Land vor dem Abgrund einer breiten Hungersnot stehe. Der Hunger ist eine Geissel, die vor allem die unteren Schichten in anderen lateinamerikanischen Ländern betrifft. Aber die Schlüsselindikatoren aus sozialer und politischer Sicht verweisen auf eine Verschlechterung der Lage in Venezuela gegenüber früheren Jahren. Die Verschlechterung ist sicher markant verglichen mit der Periode vor dem scharfen Fall der Erdölpreise von Mitte 2015.

Welch Entwicklungen siehst du für die unmittelbare Zukunft? Wird das Maduro-Regime stürzen? Was hältst du von der vorgeschlagenen verfassungsgebenden Versammlung?

Maduros Vorschlag einer verfassungsgebenden Versammlung ist nicht eindeutig hinsichtlich einer möglichen Stabilisierung.

Einerseits ist es eine Initiative, um die Blockierung zu überwinden, in der sich das Land befindet. In einem günstigen Szenario wären die Chavistas imstande, ihre Basis und die sozialen Bewegungen zu aktivieren und könnten so einen hohen Grad an Wahlbeteiligung erreichen.

Ferner könnten im besten Fall die Delegierten einer verfassungsgebenden Versammlung tragfähige Vorschläge zur Lösung der dringendsten Probleme ausarbeiten, wie etwa der Korruption, und die machthabenden Chavistas würden dann in aller Öffentlichkeit darauf eingehen. Kurzum, eine verfassungsgebende Versammlung, die auf eine breite Beteiligung absetzt, könnte die Dynamik verändern.

Im Falle eines anderen Szenarios würde die verfassungsgebende Versammlung als eine Finte angesehen, um sich Zeit zu kaufen und den Wahlprozess zu umgehen.

Steve Ellner koordiniert gerade eine Ausgabe von Latin American Perspectives, die dem Thema der Klassenpolitik von progressiven lateinamerikanischen Regierungen gewidmet ist. Seine Arbeit  «Implications of Marxist State Theories and How They Play Out in Venezuela» soll in der nächsten Ausgabe von Historical Materialism erscheinen.

Quelle: links.org.au… vom 13.Mai 2017; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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