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Constituyente oder Krieg

Eingereicht on 18. Mai 2017 – 8:33

Venezuelas Regierung setzt auf Verfassunggebende Versammlung. Opposition ­verweigert Dialog und will Präsident Maduro stürzen.

André Scheer, Caracas. Am Mittwoch verbreitete die Nachrichtenagentur dpa: »Bei den jüngsten Demonstrationen gegen die sozialistische Regierung in Venezuela sind innerhalb von 24 Stunden vier Menschen ums Leben gekommen. Die Männer wurden in den Bundesstaaten Miranda, Táchira und Barinas erschossen, wie die Generalstaatsanwaltschaft am Dienstag mitteilte. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, machte die Streitkräfte für den Tod der Demonstranten verantwortlich und warf ihnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.«

Ganz so einfach ist es nicht, wie ein genauerer Blick auf die Ereignisse am Montag zeigt. Der vom Kulturministerium betriebene Rundfunksender Alba Ciudad, der seit Wochen sehr zuverlässig über die Hintergründe der fast 50 Todesfälle im Zusammenhang mit den Protesten berichtet, veröffentlichte am Dienstag (Ortszeit) auf seiner Homepage einen Artikel zu den jüngsten Ereignissen. Demnach wurden im Bundesstaat Táchira zwei Menschen erschossen. Die tödlichen Schüsse fielen offenbar, als 180 Personen eine Polizeiwache attackierten. Ein Opfer, der 18jährige Luis José Alviarez Chacón, soll zu den Angreifern gehört haben. Der zweite Getötete, der 33jährige Diego Hernández, war dagegen Mitglied der Regierungspartei PSUV. Man werde sehr genau untersuchen, warum dieser »sehr geschätzte Revolutionär« getötet wurde, der sich außerhalb des Unruheherdes aufgehalten habe, erklärte der Gouverneur von Táchira, José Vielma Mora. Ein Polizist wurde festgenommen.

Im Bundesstaat Barinas wurde ein 17jähriger ermordet. Nach Angaben von Familienangehörigen war er auf dem Weg von zu Hause zu seinen Großeltern, als er in der Nähe einer Oppositionskundgebung vorbeikam. Dort seien aus einer Gruppe von Personen heraus mehrere Schüsse auf ihn abgegeben worden. Erste Untersuchungen deuteten darauf hin, dass die tödlichen Geschosse aus selbstgebauten Waffen abgefeuert wurden, hieß es. Zeugen machten hingegen Angehörige der Nationalgarde für den Vorfall verantwortlich. Alba Ciudad wies aber auch darauf hin, dass die Eltern des Getöteten einer Gruppe von 400 Bauern angehören, die seit sieben Jahren ein brachliegendes Latifundium besetzt halten, um dort arbeiten zu können. Vor wenigen Tagen sei dort eine Gruppe bewaffneter Zivilisten erschienen, die die Bauern bedroht und zehn Hütten in Brand gesteckt habe.

Festgefahrende Lage

Die Lage in Venezuela ist festgefahren. Das Oppositionsbündnis MUD (Tisch der demokratischen Einheit) hat sich darauf festgelegt, den gewählten Präsidenten Nicolás Maduro stürzen zu wollen, dessen Amtszeit bis Anfang 2019 läuft. Im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung sind »vorgezogene Neuwahlen«, wie sie die Sprecher der Rechtsallianz gebetsmühlenartig fordern, jedoch nicht vorgesehen. Wenn Maduro jetzt seinen Rücktritt erklärt, würde nach Artikel 233 der Vizepräsident die Amtsgeschäfte bis zum regulären Wahltermin im kommenden Jahr fortführen.

Selbst eine Aufforderung von Papst Franziskus zum Dialog wurde von den Regierungsgegnern zurückgewiesen. Und die Bischofskonferenz stellte sich sogar gegen ihren Pontifex und auf die Seite der Rechten. Am 5. Mai rief der venezolanische Klerus per offizieller Erklärung die Bevölkerung auf, »nicht aufzugeben, ihre Stimme des Protests zu erheben«. Dabei solle man jedoch nicht auf »das Spiel derjenigen hereinfallen, die Gewalt schüren, um das Land in Szenarien noch größerer Konfrontation zu führen und so die Situation zu verschärfen und an der Macht zu bleiben«. Eine Einladung der Regierung zum Gespräch haben die Bischöfe ausgeschlagen.

Franziskus hatte am 29. April bei einer Pressekonferenz während des Rückflugs von seinem Besuch in Ägypten erklärt, Teile der Regierungsgegner wollten keinen Dialog: »Die Opposition selbst ist gespalten, und andererseits scheint es, als spitze sich der Konflikt immer mehr zu.« Einen Tag später rief er in Rom »die Regierung und alle Mitglieder der venezolanischen Gesellschaft« auf, jede weitere Form der Gewalt zu vermeiden »und Verhandlungslösungen für die schwere humanitäre, soziale, politische und Wirtschaftskrise zu suchen«.

Wiederum einen Tag später kündigte Venezuelas Präsident Nicolás Maduro bei der Kundgebung zum 1. Mai an, die Nationale Verfassunggebende Versammlung, die Asamblea Nacional Constituyente (ANC), einzuberufen. Das sei die einzige Möglichkeit, trotz der Blockadehaltung der Opposition einen Ausweg aus der Krise zu finden und einen Bürgerkrieg zu verhindern. »Ihr seid meine Zeugen, dass ich immer wieder zum politischen Dialog mit der Rechten aufgerufen habe«, rief der Staatschef den Demonstranten zu.

Die Regierungsgegner wiesen die Einberufung der Constituyente umgehend zurück und warfen Maduro vor, eine aus handverlesenen Mitgliedern bestehende ANC bilden zu wollen. Im Dekret des Präsidenten, das an den Nationalen Wahlrat (CNE) übergeben wurde, wird nämlich vorgeschlagen, über die Delegierten nicht nur in territorialen Wahlkreisen zu entscheiden, sondern die Hälfte dieser 500 Abgeordneten direkt durch die verschiedenen Gesellschaftsgruppen wählen zu lassen. So sollten mindestens 100 Mitglieder der Constituyente Arbeiter sein, die durch die Arbeiter selbst gewählt würden, erläuterte Maduro am vergangenen Freitag bei einer Rede vor Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern aus 36 Ländern. Sie waren auf Einladung der von Maduro eingesetzten Kommission zur Vorbereitung der Constituyente nach Caracas gekommen.

Die Kritik der Opposition an dem Konzept der doppelten Stimmabgabe wies Maduro zurück und erinnerte daran, dass es bereits einen Präzedenzfall gegeben habe: 1999 setzte der gerade erst gewählte Präsident Hugo Chávez durch, dass die indigene Bevölkerung drei Vertreter in die damalige Verfassunggebende Versammlung entsenden konnte, die zudem nach deren traditionellen Riten ausgewählt wurden. Auch damals war das Projekt einer neuen Verfassung von der Opposition und den Bischöfen bekämpft worden.

Unter den Chavistas hält sich die Begeisterung für die Constituyente jedoch ebenfalls in Grenzen. Während sie in den staatlichen Medien die zentrale Rolle spielt, sind für die Menschen andere Themen dringender. Sie verlangen von der Regierung, konkrete Maßnahmen gegen die Warenverknappung und gegen die Unsicherheit zu ergreifen. Zudem wird das tägliche Leben vor allem in der Hauptstadt immer schwieriger. Auch wenn sich die Proteste der Opposition ebenso wie die meisten Straßenblockaden auf wenige Teile der Metropole beschränken, werden durch die Folgen die Bewohner von ganz Caracas in Mitleidenschaft gezogen. So stellen die Metro und Buslinien aus Sicherheitsgründen den Betrieb ein, wenn wieder Auseinandersetzungen drohen. Zudem sind die Barrikaden nicht nur eine Gefahr für die Sicherheitskräfte. Auch viele Anwohner vermeiden es, den vermummten Straßenkämpfern zu nahe zu kommen, denn wiederholt wurden auch Menschen verletzt oder gar ermordet, die an den Befestigungen vorbeigehen wollten.

Quelle: jungewelt… vom 18. Mai 2017

 

 

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