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Die Krise der geopolitischen Nachkriegsordnung

Eingereicht on 3. Juni 2017 – 16:28

Alex Lantier. Eine knappe Woche nach der Auslandsreise von US-Präsident Trump durch den Nahen Osten und Europa zeichnen sich in der Weltpolitik bereits Verschiebungen mit weitreichenden Implikationen ab. Internationale Beziehungen und Institutionen, die Jahrzehnte lang den Rahmen für die Weltwirtschaft und das öffentliche Leben abgaben, lösen sich rapide auf.

Die wachsende Gefahr eines Handelskriegs und das Wiederaufleben militaristischer Ambitionen bei allen imperialistischen Mächten spiegeln den fortgeschrittenen Verfall der internationalen Institutionen wider, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA als vorherrschender Weltmacht eingerichtet worden waren.

Dieser Zusammenbruch ist das Ergebnis von Prozessen, die sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt haben. Bereits 1991, als die Auflösung der Sowjetunion durch die Stalinisten die Nato ihres gemeinsamen Feinds beraubte, flammten Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten auf. Die US-Strategen sprachen damals von einem „unipolaren Moment“, in dem durch das Ende der Sowjetunion alle unmittelbaren militärischen Rivalen verschwunden waren, und versuchten diesen militärischen Vorteil zu nutzen, um die abnehmende Wirtschaftsmacht der USA auszugleichen.

In einem Strategiepapier des Pentagon aus dem Jahr 1992 hiess es, Washington müsse nun „potenzielle Wettbewerber“ davon überzeugen, dass „sie nicht versuchen sollten, eine grössere Rolle zu spielen oder eine aggressivere Haltung einzunehmen“. Man müsse sie „davon abhalten, unsere Führungsrolle herauszufordern oder die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung umwälzen zu wollen“.

Ein Vierteljahrhundert später erweist sich diese Politik als gescheitert. Sie führte zu einer Serie imperialistischer Kriege und Interventionen der Nato-Mächte unter der Führung der USA, in deren Verlauf der Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Libyen, Syrien, die Ukraine und andere Länder zerstört wurden. Diese militaristischen Aggressionen kosteten Millionen Menschenleben, vernichteten ganze Gesellschaften und lösten die grösste Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Dennoch erwiesen sie sich für den US-Imperialismus als Debakel und konnten seinen Niedergang nicht aufhalten. Nun hat diese Krise ein neues Stadium erreicht: Die imperialistischen Rivalen der USA bereiten sich darauf vor, die globale Vormachtstellung Amerikas direkt und umfassend herauszufordern.

Trumps Bemühungen, auf dem G7- und dem Nato-Gipfel die Stellung der USA im Handel mit Europa zu verbessern, haben eine heftige Gegenreaktion ausgelöst. Trump hatte den Europäern vorgeworfen, für die Militärausgaben der Nato „nicht zu zahlen, was sie zahlen sollten“, und Deutschland als „böse“ bezeichnet. Die deutschen Autoexporte in die USA „werden wir stoppen“, fügte er hinzu. Doch Europa antwortete nicht mit Mitgefühl und Finanzhilfen, sondern mit einer Reihe von Schritten, die zeigen, dass die Mächte in Kontinentaleuropa auf einen politischen und militärischen Bruch mit Amerika zusteuern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel äusserte sich in einem Bierzelt in München am vergangenen Sonntag zu Trumps Auftreten bei den Gipfeltreffen und zu Grossbritanniens beschlossenem Austritt aus der EU. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“ Künftig, meinte sie, müssten die Europäer selber für ihre Zukunft kämpfen.

Die Ereignisse der vergangenen Woche haben bestätigt, dass Merkels Äusserungen eine tiefe Krise in der Nato widerspiegeln, die 1949 als Militärbündnis zwischen Amerika und Europa gegründet worden war. Der deutsche Aussenminister Sigmar Gabriel liess verlauten, dass sich Washington unter Trump ausserhalb der „europäischen Wertegemeinschaft“ gestellt habe. Dies, so Gabriel, sei „ein Signal für die Veränderung im Kräfteverhältnis der Welt“.

Der neu gewählte französische Präsident Emmanuel Macron, ein enger Verbündeter Berlins, lud den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einem hochkarätig besetzten Gipfel in Versailles ein. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Putin kritisierte Macron sämtliche grösseren Auslandsinterventionen der USA und der EU in den letzten Jahren. Er forderte ein Ende des Konflikts in der Ukraine, der 2014 durch den von den USA und Deutschland unterstützten Putsch in Kiew ausgelöst wurde, sprach von einer engeren wirtschaftlichen und geheimdienstlichen Zusammenarbeit mit Russland und deutete sogar eine Wiedereröffnung der französischen Botschaft in der syrischen Hauptstadt Damaskus an.

Ausserdem nahm in dieser Woche ein neues Militärhauptquartier der EU in Brüssel die Arbeit auf. Seine Eröffnung war zuvor von Grossbritannien blockiert worden, das ebenso wie die USA die Entstehung eines Rivalen zur Nato fürchtete. Aufgrund des Brexit-Votums hat es jedoch sein Vetorecht verloren.

Unter den aussenpolitischen Strategen der USA werden alle diese Entwicklungen weithin als historische Rückschläge für Washington gewertet. „Alle amerikanischen Regierungen seit 1945 haben sich bemüht, eng mit Deutschland und der Nato zusammenzuarbeiten“, schreibt Jacob Heilbrunn in The National Interest, doch unter Trump werde Merkel von Amerika „zur Schaffung einer deutschen Supermacht getrieben“.

Weiter meint Heilbrunn: „Nun, da in Frankreich Emmanuel Macron zum Präsidenten gewählt wurde, schmiedet Merkel eine französisch-deutsche Achse, die einen gemeinsamen wirtschaftlichen und militärischen Kurs fahren wird. Damit werden das Ansehen und der Einfluss Amerikas im Ausland deutlich abnehmen. Man stelle sich beispielsweise vor, dass Merkel sich Trumps Forderung nach Sanktionen und der Isolierung des Iran widersetzt, indem sie Handelsbeziehungen zu Nordkorea aufnimmt und dem Land auch Waffen verkauft.“

Diese Spannungen sind nicht einfach auf die extrem nationalistische Politik des gegenwärtigen Herrn im Weissen Haus zurückzuführen. Je mehr die Demokratische Partei Russland verteufelt und der Unterwanderung der amerikanischen Demokratie bezichtigt, desto deutlicher wird, dass die Konflikte mit Europa auch im Fall eines Siegs von Hillary Clinton bei der Präsidentschaftswahl 2016 nicht gelöst worden wären. Die Ursache dieser Spannungen liegt in tiefen Interessengegensätzen der imperialistischen Grossmächte, die im letzten Jahrhundert zu zwei Weltkriegen führten.

Unterstrichen wird dies durch die zunehmende Rivalität zwischen den Imperialisten in Asien. Als China letzten Monat die sogenannte Seidenstrasseninitiative „One Belt, One Road“ aus der Taufe hob, mit der China, der Nahe Osten und Europa in einem Energie- und Verkehrsnetz zusammengeschlossen werden sollen, wurde Washington in die Rolle eines passiven Zuschauers gedrängt. Japan und Indien, Washingtons Verbündete gegen China, begegnen den imperialistischen Interessen der USA allerdings keineswegs mit grösserem Wohlwollen als die EU-Staaten.

Vergangene Woche veröffentlichten Tokio und Neu-Delhi ein „Visionsdokument“, in dem von einem „Wachstumskorridor von Asien nach Afrika“ die Rede war. Damit soll eine Alternative zur Seidenstrassenstrategie Chinas geschaffen und Indien als Gegengewicht zu China aufgebaut werden, sowohl als Standort in multinationalen Produktionsketten als auch als Militärstützpunkt. Der japanische Premierminister Shinzo Abe und seine ultranationalistische Organisation Nippon Kaigi wollen China nicht nur übertrumpfen, sondern auch Japan wiederbewaffnen und Amerika die Vorherrschaft in Asien streitig machen.

Abes Regierung betreibt mit Nachdruck die Abschaffung des Verfassungsartikels, der seit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg Auslandseinsätze seiner Streitkräfte verbietet. Abe selbst hat wiederholt erklärt, dass ein Bündnis zwischen Indien und Japan das „grösste Potenzial“ aller Bündnisse „in der ganzen Welt“ habe.

Die Umstände der Europareise Trumps spiegeln die Krise nicht nur des amerikanischen Kapitalismus, sondern des kapitalistischen Weltsystems insgesamt wider. Keiner der Rivalen Washingtons – weder die EU, die bei der eigenen Bevölkerung wegen ihrer Kürzungspolitik verhasst ist, noch das wirtschaftlich todgeweihte, reaktionäre Regime in Japan, noch die post-maoistische kapitalistische Oligarchie in China – vertritt eine fortschrittliche Alternative.

Wer glaubt, dass der Weltkapitalismus durch ein Bündnis dieser Mächte stabilisiert werden könnte, sodass grössere Handelskriege und militärische Konflikte ausbleiben, hat die Lehren der Geschichte nicht verstanden. Wenn Trump zum Handelskrieg gegen Deutschland ruft, Berlin und Tokio ihre Aussenpolitik remilitarisieren und der neue französische Präsident die Wehrpflicht wieder einführen will, dann zeigt das, dass die herrschenden Eliten mit geschlossenen Augen auf einen neuen globalen Konflikt zutreiben, der genauso gross oder grösser sein wird, als die Weltkriege des letzten Jahrhunderts.

Die internationale Arbeiterklasse wird als die Kraft hervortreten, die eine Alternative zum Zusammenbruch der bürgerlichen Politik bietet. Sie wird durch unerträgliche Lebensbedingungen, Massenarbeitslosigkeit und das durch Jahrzehnte von Austerität und Krieg geschaffene Elend zum Handeln getrieben. Und da die globalisierte Weltwirtschaft von Unternehmen geprägt wird, deren Belegschaft wie bei Amazon oder Apple auf Dutzende Länder verteilt ist, wird sich die Arbeiterklasse zunehmend darüber bewusst, dass sie eine internationale Klasse ist, deren Interessen sich grundlegend von denen der herrschenden Finanzaristokratie in allen Ländern unterscheiden und im Gegensatz dazu stehen.

Parallel zum Zusammenbruch der internationalen Beziehungen im Kapitalismus büssen die sozialdemokratischen oder reformorientierten Parteien und Gewerkschaftsbürokratien, die in der Nachkriegszeit den Klassenkampf dämpften, ihre Glaubwürdigkeit ein. Die überraschende Zustimmung zum Brexit, die Wahl Trumps und die Auflösung des Zweiparteiensystems in Frankreich im Zuge der jüngsten Präsidentschaftswahl sind Anzeichen für den Zusammenbruch der alten Herrschaftsformen. Auf diese Weise bahnt sich ein globaler Ausbruch des Klassenkampfs an.

Die heutige Krise bestätigt die Einschätzung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI), dass die Auflösung der Sowjetunion durch die Stalinisten nicht bedeutete, dass der Kampf der internationalen Arbeiterklasse für den Sozialismus zu Ende war. Der Kapitalismus hatte die grundlegenden Gegensätze nicht überwunden, die von den grossen Marxisten des 20. Jahrhunderts aufgedeckt worden waren und sowohl den Krieg als auch die soziale Revolution hervorgebracht hatten: den Widerspruch zwischen Weltwirtschaft und Nationalstaatensystem und den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung.

Der Weg vorwärts für die Arbeiterklasse besteht darin, einen revolutionären Kampf aufzunehmen, der programmatisch an die internationalistischen und sozialistischen Traditionen der Oktoberrevolution anknüpft. Keine imperialistische Macht verdient die Unterstützung der Arbeiter für ihre militaristische Politik. Die notwendige Antwort auf die Krise des globalen Kapitalismus besteht darin, die Arbeiterklasse durch den Aufbau einer internationalen sozialistischen Antikriegsbewegung gegen den Imperialismus zusammenzuschliessen.

Quelle: wsws.org… vom 3. Juni 2017

 

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