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Sozialrevolte in Marokko

Eingereicht on 21. Juni 2017 – 9:46

Bernard Schmid. Die massenhaft getragene Sozialrevolte im Norden Marokkos zieht zunehmend breite Kreise. Auch beim Staatsbesuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron – seinem Antrittsbesuch bei den Regimes in Nordafrika – am 14. Juni bildete sie ein Thema, das angesprochen wurde. Dies hinderte den jungforschen französischen Präsidenten nicht daran, die Monarchie in Marokko unter dem Strich im Namen Frankreichs und der EU zu unterstützen.

Ein von zahlreichen Menschenrechts-, Solidaritäts- und Antirassismusgruppen in Frankreich getragener Appell bzw. Offener Brief an Macron, im Vorfeld seines Besuches, änderte daran nichts.

Just am Tag des Staatsbesuchs aus Frankreich fielen die Urteile in einem Massenprozess gegen 25 Aktivisten der sozialen Protestbewegung, welcher in der Provinzhauptstadt Al-Hoceima stattfand. 28 von insgesamt 32 Angeklagten wurden dabei zu je anderthalb Jahren Haft verurteilt.

Kapuze über den Kopf und verschleppt

Die Anklagepunkte lauteten dabei auf illegale Versammlung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, in einigen Fällen wurden auch Gewalttätigkeiten gegen die Polizei behauptet. In Wirklichkeit ging die Gewalt natürlich, wie in einem autoritären Regime – das erst 2016 durch die Anti-Folter-Kommission der UN in Genf verurteilt wurde – üblich, vor allem von eben jener Polizei aus. Dabei handelt es sich nur um eine Spitze des Eisbergs der Repression.

Je nach Angaben wurden seit Ende Mai dieses Jahres über 100 (so die staatstragende marokkanische Presse) oder auch über 200 Personen aufgrund ihrer Teilnahme an den Protesten festgenommen und inhaftiert. Menschenrechtsvereinigungen zufolge muss in einigen Fällen von regelrechtem Kidnapping gesprochen werden, wenn Demonstrationsteilnehmer von Unbekannten – die sich nicht als Polizisten auswiesen – eine Kapuze über den Kopf gestülpt bekamen und/oder einfach mitgenommen und verschleppt wurden.

Einer der durch die Basis anerkannten Anführer der seit nunmehr acht Monaten andauernden, massiven Protestbewegung wurde seinerseits am 29. Mai festgenommen. Es handelt sich um den 39jährigen Erwerbslosen Nasser Zefzafi. Er hatte sich zunächst einem Zugriff durch die Staatsorgane ein paar Tage lang entziehen können.

Kritik am Imam: „Reaktionäre Inhalte“

Ihm wurde vorgeworfen, zuvor eine Predigt des Imams in der Hauptmoschee von Al-Hoceima unterbrochen zu haben, da er ihm sozialkonservative bis reaktionäre, gegen gesellschaftliche Veränderungen gerichtete Inhalte vorwarf. Zefzafi droht mehrjährige Haft.

Das Ergebnis der Festnahme Zefzafis, die zeitgleich mit der bisher massivsten Massenverhaftungswelle im Zusammenhang mit den Protesten, Ende Mai, erfolgte – seitdem kam es zu neuen Festnahmen – war jedoch vor allem eine breite Solidarisierung mit dem Repressionsopfer. Demonstrationsteilnehmer und -teilnehmerinnen bekundeten massenhaft: „Nehmt uns alle fest!“

Zefzafi wurde als aktives Sprachrohr der Protestbewegung durch eine junge Frau abgelöst, die 36jährige Nawal Benaissa; eine Mutter von vier Kindern, die sich mit Zustimmung ihrer Familie, trotz des Risikos einer jederzeitigen Festnahme, dem Protest anschloss.

In einer von konservativen Alltagspraktiken dominierten Region wie dem nordafrikanischen Rif-Gebirge ist es bemerkenswert, in welchem Ausmaß Frauen eine aktive Rolle in dieser Protestbewegung spielen und eigenständig agieren.

Die Ursachen der Protestbewegung

Zu den strukturellen Ursachen zählt natürlich die Benachteiligung und Unterwicklung dieser berbersprachigen Region – des Rif-Gebirges – im Norden Marokkos. Laut offiziellen Angaben haben 63 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner der Region keine offizielle wirtschaftliche Aktivität.

Den Behörden des Zentralstaats ist diese Region traditionell ein Dorn im Auge, da sie über starke anti-despotische, aber auch anti-koloniale Kampftraditionen verfügt. In den 1920er Jahren führte hier Spanien mit Unterstützung durch Frankreich – und Deutschland – einen besonders brutalen Kolonialkrieg, zudem auch Giftgaseinsätze gehörten.

Die französische kommunistische Linke glorifizierte damals den Anführer der Rif-Berber, Abdelkrim, als Helden. Aber auch die damaligen Surrealisten beteiligten sich seinerzeit an der Solidaritätskampagne für den antikolonialen Kampf im Rif-Gebirge. Bis heute markierte diese Kampftradition die, arme und von den Zentren des Landes eher abgelegene Region. Die marokkanische Monarchie stört sich daran umso mehr.

Die Basisbewegung, die seit Mitte Mai dieses Jahres stark anschwoll, hat zu einer Hegemoniekrise des monarchischen Systems in Marokko geführt. Der Protest oder jedenfalls die Solidarität griffen inzwischen auch auf andere Landesteile neben dem berbersprachigen Norden über. Am Sonntag, den 11. Juni kam es so zu einer massiven Unterstützungsdemonstration in der Hauptstadt Rabat.

„Hirak“

Im marokkanischen Dialekt-Arabisch wird die Protestbewegung allgemein als Hirak bezeichnet, eine Abwandlung vom Hocharabischen harakat (für „Bewegung“). Das, was die Bewegung bekämpft, wird dagegen vor allem mit dem Begriff der hogra belegt – vom Hocharabischen ihtaqara (für „verachten, missachten“). Es handelt sich dabei um einen Begriff zur Bezeichnung der Praktiken eines von Autoritarismus, Korruption und Selbstbedienung geprägten Regimes, der ursprünglich rund um die Jugendrevolte gegen das damalige Ein-Parteien-System im Nachbarland Algerien 1988 aufkam und dort nach wie vor sehr gebräuchlich ist.

Im Zuge der Demonstrationen im Frühjahr 2011 in Marokko, die im Zusammenhang mit den Ereignissen des so bezeichneten „Arabischen Frühlings“ in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern einsetzten, fand der Begriff auch in marokkanischen Gefilden Verbreitung.

Die Anfänge des aktuellen Protests

Begonnen hatte die Protestwelle der letzten Monate am Wochenende des 29./30. Oktober 2016. Damals kam ihr Ausbruch dem Regime gewissermaßen ganz besonders „ungelegen“. Drohten sie ihm doch die große internationale Show kaputt zu machen, die das monarchische, feudal-kapitalistische Regime sich damals so schön ausgemalt hatte.

Seit einem Jahr hatte es die internationale Klimakonferenz COP22, zu der Vertreterinnen und Vertreter von 196 Staaten erwartet wurden, vorbereitet. Diese fand vom 07. bis 18. November in Marrakesch statt. In ihrem Vorfeld hatte Marokko sich als internationalen Musterschüler in Sachen Klimaschutz zu profilieren versucht und angekündigt, seine CO2-Emissionen bis im Jahr 2030 um 32 Prozent zu reduzieren. Riesige Solarenergie-Anlagen, die durch das Klima vor allem im wüstenhaften Süden Marokkos oder im Atlasgebirge begünstigt werden, sollen es möglich machen.

Dass Opposition, etwa gegen die Klimapolitik der Großmächte, im Vor- und Umfeld der Konferenz weitgehend unterdrückt wurde, und etwa die sehr aktive Vereinigung ATTAC-Marokko mit Versammlungsverboten überzogen wurde -, sollte dabei in den Hintergrund rücken. (Eine oppositionelle Kundgebung fand jedoch am 11. November statt, an der auch Vertreterinnen der französischen Linken teilnahmen. Auch zuvor war es zu eigenständigen Aktivitäten aus der marokkanischen Zivilgesellschaft gekommen).

Auszeichnung „Légion d’honneur“ für einen Folterer?

Ebenso sollte der neue Prestigegewinn Marokkos vergessen machen, dass die bisweilen beobachtete Unterdrückung elementarer Menschenrechte Marokko noch vor kurzem internationale Negativschlagzeilen bescherte. Aufgrund einer Folterklage, die durch einen französisch-marokkanischen Doppelstaatsbürger erhoben worden war, wurde etwa der Chef des marokkanischen Nachrichtendiensts DGST – Abdellatif Hammouchi – im Februar 2014 vorübergehend in Frankreich festgesetzt. Die Justiz hatte ein Ausreiseverbot über ihn verhängt.

Die französische Staatsmacht bemühte sich aufgrund massiven Drucks des marokkanischen Regimes daraufhin allerdings nicht nur alsbald darum, den Affront vom Tisch zu wischen und ihm die Ausreise doch noch zu ermöglichen.

Ein Jahr später, im Februar 2015, ordnete die Pariser Regierung ferner auch an, Hammouchi das französische Verdienstkreuz Légion d’honneur zu verleihen. In jüngster Zeit machte Nachrichtendienst-Boss Hammouchi übrigens davon reden, indem er nun die marokkanischen Polizisten darauf drillen will, „sensibel für das Thema Menschenrechte“ zu werden …

Der Auslöser: Tod eines Fischhändlers im Müllwagen

Es hätte also alles so schön sein können. Hätte. Doch dann drohten ihm die innenpolitischen Proteste glatt einen Strich durch die Rechnung zu machen. Am 28. Oktober vorigen Jahres hatte der dreißigjährige, sozial prekäre Straßenhändler Mouhcine Fikri einen schrecklichen Tod gefunden. Die Polizei hatte seine Ware beschlagnahmt; offiziell, weil deren Verkauf gegen ein saisonales Fangverbot (es handelte sich um Schwertfisch) verstieß.

Eine solche Schutzbestimmung gilt allerdings deswegen, weil es gilt, die lokalen Fischbestände gegen das Leerfischen durch meist internationale Fangflotten zu schützen. Die bescheidene Ware des Straßenhändlers kam jedoch in Wirklichkeit, wie die Untersuchung einer marokkanischen Zeitung ergab, gar nicht von solchen Fabrikschiffen, wie sie oft aus Ländern der EU in marokkanische Gewässer einlaufen.

Sie stammte von kleinen Fischerbooten örtlicher Anwohner, die dann, wenn sie nur einzelne Exemplare herausziehen, nicht gegen die geltenden Schutzregeln verstoßen.

In Wirklichkeit ging es allerdings wohl auch gar nicht um diesen Vorwurf der Beteiligung an einer illegalen Praxis. Sondern wohl schlicht darum, dass die Polizei alltäglichen Schikanen gegen die prekären Straßenhändler ausübt, vor allem dann, wenn diese kein Schmiergeld abdrücken.

Um sich der, durch die Polizisten angeordneten Zerstörung seiner Ware zu widersetzen, kletterte der junge Mann ihr auf das Müllfahrzeug hinterher. Dabei wurde er durch den Luftzug hinabgesaugt, während zwei seiner Gefährten sich durch einen Sprung vom Fahrzeug retten konnten. Er wurde am Ende im Inneren des Müllwagens zermalmt. Umstritten bleibt, wie es genau dazu kommen konnte, und warum Mitarbeiter der Müllabfuhr auf den Auslöser drückten.

Schnell ging die Nachricht um, einer der beteiligten Polizisten habe in marokkanischem Dialektarabisch „Zermalme seine Mutter!“ ausgerufen, dies wurde jedoch später durch anwesende Augenzeugen dementiert. Unfall oder vorsätzliche Tötung?, diese Frage ist nicht gänzlich geklärt – die Todesumstände des 30jährigen Fikri sind auf jeden Fall tragisch genug.

Großdemonstration in Al-Hoceima

Bilder von dem Vorfall (also von der entstellten Leiche des jungen Mannes) tauchten alsbald in den „sozialen Medien“ auf und machten quer durch Marokko die Runde. Daraufhin setzten Demonstrationen ein, die vierzig marokkanische Städte erfassten. Aber auch in französischen Städten wie Montpellier, Paris und Lille sowie in Belgien und den Niederlanden wurde, meist vor konsularischen Einrichtungen Marokkos, protestiert.

Am 04. November 2016 kamen zu einer erneuten Großdemonstration in der Hafenstadt Al-Hoceima (diese zählt zwischen 200.000 und 30.000 Einwohner/innen) stattliche 60.000 Menschen zusammen.

Islamistische Verdammungsversuche

Ungünstig gestimmt über die Proteste äußerten sich unterdessen die Salafisten, denen ihr Bonus als vermeintlich „radikalste Opposition“ flöten zu gehen droht.

Die Bartträger wetterten über undisziplinierte Elemente in den Demonstrationen im nordmarokkanischen Berbergebiet (wobei sie allerdings umgekehrt lobend den Ordnerdienst hervorhoben, welcher für Disziplin gesorgt habe) und über die „Urheber einer Fitna“. Als Fitna bezeichnet man in der muslimischen Überlieferung eine Periode der Zwietracht „unter Muslimen“, eines schädlichen und grundsätzlich negativen Bruderkriegs unter Gläubigen.

Es hat ihnen nicht geholfen: Allen islamistischen Verdammungsversuchen und aller Repression des Regimes zum Trotz hat sich die soziale Protestbewegung nun über relevante Teile des Landes ausgebreitet. Der Geist ist aus der Flasche…

Quelle: heise.de… vom 21. Juni 2017

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