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Marokko rebelliert – Chronik der achtmonatigen Protestwelle

Eingereicht on 23. Juni 2017 – 7:59

Robert Samstag. Seit fast acht Monaten erschüttern massive Proteste Marokko. Ausgelöst durch den Tod eines Fischhändlers richten sie sich gegen das repressive Regime von König Mohammed VI. und die schlechten Lebensbedingungen.

In diesem Artikel werden wir die Ausmaße der aktuellen Proteste und ihre sozialen und historischen Ursachen behandeln.

Seit dem Arabischen Frühling 2011 gab es solche Proteste in Marokko nicht mehr. Über ein halbes Jahr protestiert die Bevölkerung der ländlichen Region Rif an der bergigen Mittelmeerküste nun schon kontinuierlich. Die Antwort des Regimes ist die harte Repression gegen Demonstrationen und die Festnahme der Anführer*innen der Proteste. Doch die Bewegung scheint noch kein Ende gefunden zu haben.

Auslöser: Gerechtigkeit für Fikri

Am 28. Oktober 2016 starb der Fischhändler Mohsin Fikri aus al-Hoceima, einer ärmeren Stadt in der Rif-Region. Er hatte sich geweigert, die Polizei zu bestechen, woraufhin diese seine Fische beschlagnahmten und in den Container eines Müllwagens schmissen. Als sich Fikri daraufhin selbst in den Müllwagen stellte, um seine Ware wiederzubekommen, befehligte die Polizei, die Müllpresse trotzdem zu starten. Fikri starb erpresst – in Marokko nennt man eine solch würdelose und tragische Form des Todes „Hogra“.

Noch am selben Abend zogen in al-Hoceima tausende Menschen auf den zentralen Platz der Märtyrer und forderten Gerechtigkeit für Fikri. Es wurde ein Protestcamp gestartet und am darauffolgenden Tag fand eine Demonstration mit 50.000 Menschen statt. Die Bewegung breitete sich aus und in vielen Städten der Region sowie anderen Städten des Landes fanden große Proteste statt.

Seitdem finden regelmäßig Aktionen der Bewegung statt, die sich den Namen „Hirak“ gegeben hat. Zentrum der Proteste ist die Stadt al-Hoceima, aber auch in vielen anderen Städten der Rif-Region wie Taounate, Tanger, Meknès oder Tétouan und weiter entfernten Städten wie Agadir, Kenitra, Casablanca, Marrakesch entstanden Bündnisse, die Demonstrationen, Straßenblockaden und andere Proteste organisieren.

Folgen: Ausweitung und Radikalisierung

Die Protestierenden sind jedoch nicht bei ihren ursprünglichen Forderungen stehen geblieben, sondern haben eine ganze Reihe von sozialen Forderungen als Motor der Bewegung entwickelt, die sich gegen das Regime von König Mohammed VI. richtet. Auf den Demonstrationen hört man Sprüche wie „Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit“, „Wir geben nicht auf“, „Das Volk will das Ende der Korruption“, „Wir haben zwei Meere und Phosphor, doch das Volk lebt in Armut“.

Da auch nach so langer Zeit die Proteste weiter anhielten, verschärfte das Regime in den letzten Monaten die Repression. Auch wenn Polizeigewalt nicht nur bei den aktuellen Demonstrationen zum brutalen Alltag in Marokko gehört, hatte die Regierung zu Beginn versucht, die Bewegung im Zaum zu halten. Sie entsandte Minister in die Region und versuchte, den Protesten von den Moscheen aus die Legitimität abzusprechen.

Doch all dies führte zu nichts – die Proteste gingen weiter. Deshalb gab die Regierung Mitte Mai eine Erklärung ab, in der sie die Demonstrant*innen beschuldigte, die Ordnung der Region zu zerstören, sich von Marokko abzuspalten und vom Ausland gesteuert zu sein. Zudem setzte sie zum ersten Mal seit 2005 das Militär zur Repression im Inland ein: 25.000 Soldat*innen wurden in die Region verlegt – das ist eine*r auf jede*n zwölfte*n Einwohner*in! Mitte Mai wurden mehr als 40 Aktivist*innen festgenommen, zu denen auch die Anführer*innen der Proteste gehören. Seitdem sitzen sie in Casablanca im Gefängnis. Anfang Juni wurden erneut auf Befehl des Königs, der sich zu den Forderungen der Bewegung ausschweigt, dutzende Demonstrant*innen festgenommen.

Schon 2011 hatte das Regime es geschafft, durch Folter, Verhaftung und Ermordung der führenden Köpfe der Bewegung, die Proteste niederzuschlagen. Doch allem Anschein nach steigern die repressiven Maßnahmen nur die Wut und entfachen neue Proteste. So gab es nach der Verhaftungswelle in Mai einen Generalstreik der informellen Arbeiter*innen der Region, sowie zahlreiche Demonstrationen in den verschiedenen Städten. Am 11. Juni gab es eine Solidaritätskundgebung in der Hauptstadt Rabat mit bis zu 50.000 Menschen, die sich hinter den Protest in Rif und gegen die Festnahmen stellten.

Als am 15. Juni dann die ersten Strafen, die bis zu 18 Monaten Haft gegen die Aktivist*innen vorsehen, verkündet wurden, brach der Unmut erneut aus. Neben Demonstrationen in al-Hoceima wurde über die sozialen Netzwerke ein Aufruf zu einem dreitägigen Generalstreik vom 16. bis zum 18. Juni verbreitet – und das mitten im Fastenmonat Ramadan!

Der Auslöser des Protestes, der Tod eines Straßenhändlers, erinnert an die Selbstverbrennung des tunesischen Händlers, welche die Massenbewegung des Arabischen Frühlings zur Folge hatte. Tatsächlich hat sich in Marokko, wo im Gegensatz zu Tunesien und Ägypten der diktatorische König Mohammed VI. nicht sein Amt verlor, seit den Protesten des Arabischen Frühlings nichts an den strukturellen Ursachen der damaligen Bewegung geändert.

Hintergrund: Soziale Anspannung und ungelöste Probleme

So fand auch 2014 eine Reihe von Kämpfen statt und im vergangenen Jahr gab es Demonstrationen von Studierenden, die gegen Kürzungen im Bildungsetat protestierten. Auch die Selbstverbrennungen, zu denen seit 2011 mehr als ein Dutzend meist als Straßenhändler*innen beschäftigte Arbeiter*innen griffen, sind ein schrecklicher Ausdruck der Verzweiflung und der Wut auf das Regime.

Zu den sozialen Problemen gehören die schlechten Löhne und der Verlust der Kaufkraft bedingt durch Preiserhöhungen von Lebensmitteln, Benzin und den Wassertarifen. Das Gesundheitssystem ist marode und die Schulen sind unterfinanziert und bieten Kindern aus den ärmeren Schichten keine Chance. Jede Form der Organisierung der Ausgebeuteten wird mit Repression bestraft, zudem ist Korruption und Willkür im gesamten Staatsapparat weit verbreitet. Zuletzt hatte die Bourgeoisie offen gefordert, demokratische Errungenschaften wie die kostenlose Bildung und das Streikrecht abzuschaffen.

Zudem macht Marokko die Nähe zu den europäischen Imperialismen zu schaffen. Noch heute haben die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Spanien durch ihre Konzerne einen großen Einfluss in der marokkanischen Wirtschaft. Zudem hat die EU zahlreiche Fischfang-Abkommen mit Marokko geschlossen, durch die europäische Fischunternehmen neue Märkte erschließen, während die Lebensgrundlage der marokkanischen Fischer*innen schwindet. Die Regierung von Marokko stellt sich in den Dienst der imperialistischen Konzerne, die mit Großprojekten wie dem Bau von Solaranlagen, der von Deutschland durchgeführt wird, Profite machen. Dafür werden die Ländereien und Häuser vieler Einheimischer problemlos enteignet. Dazu kommt, dass viele marokkanische Arbeiter*innen, die in Europa leben und ihren Familien in der Heimat Geld schicken, besonders hart von der Wirtschaftskrise getroffen wurden.

Rückblick: Eine Geschichte des Widerstands

All diese sozialen Probleme, die Armut und die Auswirkungen der Krise verstärken sich in Rif aufgrund des ländlichen Charakters der Region. Doch nicht nur das führt dazu, dass Rif, wie auch schon bei der letzten großen Protestwelle in Marokko 2011, Zentrum der aktuellen Bewegung ist.

1920 formierte sich in Rif unter Führung von Mohammed ben Abdelkrim el Khattabi der Widerstand gegen die spanischen Kolonisator*innen in dessen Folge die unabhängige Rif-Republik entstand, die bis 1926 erfolgreich gegen den spanischen Kolonialismus kämpfte. Mit Hilfe der französischen Armee wurde diese Episode des antikolonialen Widerstands blutig beendet. Die dafür verwendeten Senfgasbomben kamen übrigens aus der Weimarer Republik.

Auch nach der formellen Unabhängigkeit 1956 fanden in Rif zwischen 1958-59 Proteste gegen die Politik des neuen Regimes statt, die durch Luftschläge der jungen marokkanischen Armee und französischen Offizieren mit Napalm- und Splitterbomben besiegt wurden. Auch heute noch hat Rif eine der höchsten Krebskonzentrationen im ganzen Land.

Die Geschichte spiegelt sich in der Gegenwart wider: brutale Repression, imperialistische Unterdrückung und Unterwerfung durch die Regierung, aber auch massenhafte Bewegungen prägen die aktuelle Situation in Rif. Die neue Episode des Widerstands, die es zu unterstützen gilt, wird neue Erfahrungen und Lehren für die Ausgebeuteten und Unterdrückten in ihrem Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus bringen.

Quelle: klassegegenklasse.org… vom 23. Juni 2017

 

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