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Was ist Chauvinismus?

Eingereicht on 25. Juni 2017 – 8:23

Robert Samstag. Ständig werden wir mit Chauvinismus konfrontiert: Sei es durch die Springer-Presse, die Abschiebungen und Grenzkontrollen mit der „Verteidigung der deutschen Werte“ rechtfertigt; sei es durch die Bundesregierung, die mit der Bundeswehr die „Freiheit und Menschenrechte“ nach Afghanistan und den Mali bringt; sei es durch die Konzerne, die ihre Exportüberschüsse mit der Stärke des „deutschen Produktionsstandorts“ rechtfertigen.

Historischer Ursprung

Doch was ist Chauvinismus eigentlich? Der Ursprung des Wortes gibt Aufschluss über diese Frage. Der Begriff stammt aus dem französischen Theaterstück „La Cocarde tricolore“ (1830), in dessen Mittelpunkt der Rekrut Nicolas Chauvin steht. Dieser soll angeblich in den napoleonischen Kriegen gedient und sich dort für seine Aufopferungsbereitschaft im Dienste der Nation ausgezeichnet haben. Das Stück, das von der beginnenden Kolonisierung Algeriens handelt, stellt den übertriebenen Nationalismus Chauvins ironisch dar und prägt damit die Begriffsbedeutung.

Mit der Etablierung des Kapitalismus auf europäischer Ebene, gefestigt und beschleunigt durch die Französische Revolution von 1789, entstehen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen. Damit waren Interessenkonflikte zwischen verschiedenen nationalen Kapitalist*innenklassen verbunden, die in militärischen oder wirtschaftlichen Kriegen ausgetragen wurden. Um diese kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen die Herrschenden die arbeitende Bevölkerung in den Krieg schickten, vor der Bevölkerung zu rechtfertigen, entstanden verschiedene Ideologien wie der Nationalismus und der Chauvinismus.

Karl Marx gibt dazu in seiner Schrift zum Deutsch-Französischen Krieg 1870-71 eine passende Definition:

Der Chauvinismus der Bourgeoisie ist eine bloße Eitelkeit, die alle ihre eigenen Ansprüche national bemänteln soll. Er ist ein Mittel, durch stehende Heere die internationalen Kämpfe zu verewigen, in jedem Land die Produzenten zu unterjochen, indem man sie gegen ihre Brüder in jedem anderen Land hetzt, ein Mittel, die internationale Zusammenarbeit der Arbeiterklassen, die erste Bedingung ihrer Emanzipation, zu verhindern. (Karl Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, 1871)

Kampf dem Chauvinismus

Dabei sticht ein weiteres Element heraus: Der Chauvinismus wird (wie der Nationalismus und der Rassismus) von der herrschenden Klasse dazu benutzt, die Ausgebeuteten auf Grundlage ihres Passes oder ihrer Herkunft zu spalten und so ihre Kampfkraft gegen die gemeinsamen Ausbeuter*innen zu schwächen. Deshalb kämpfen Marxist*innen von je her gegen solche Ideologien an und schon 1848 schrieben Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei„Die Arbeiter haben kein Vaterland.“

Ein weiteres Element in diesem Kampf richtet sich gegen die nationale Unterdrückung und für das demokratische Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Ganz in diesem Sinne steht auch die von Lenin überlieferte Aussage von Marx: „Nie kann ein Volk, das and’re Völker unterdrückt, frei sein.“ In einem Brief an Sigfrid Meyer und August Vogt von 1870 führte er die verhängnisvolle Rolle des Chauvinismus in der Arbeiter*innenklasse am Beispiel der englischen und irischen Lohnabhängigen aus. Der britische Kapitalismus nutze die Trennung zwischen diesen beiden Gruppen aus und verstärke sie noch, um sowohl seine Herrschaft in der Kolonie (Irland) als auch in England selbst durch die Senkung der Löhne und Schwächung der Kampfkraft der Arbeiter*innen zu sichern. „Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztre ist sich dessen völlig bewußt.“

Sozialchauvinismus

Mit der Ausweitung des Kapitalismus zum allumfassenden Weltsystem konnten sich die imperialistischen Großmächte wie die USA, Deutschland oder Frankreich durch die Ausbeutung und Plünderung der halbkolonialen Länder noch größere Zusatzgewinne einstreichen. Auf der Grundlage dieser Entwicklung konnte sich in den zentralen Ländern eine privilegierte Schicht der Arbeiter*innenklasse herausbilden, deren relativer Wohlstand sich auf die imperialistische Unterdrückung stützte und eine Bürokratie, die selbst nicht mehr von Lohnarbeit abhängig ist, sondern von der Vermittlung zwischen Arbeit und Kapital und entsprechend nicht im Kampf ihr materielles Interesse sah. Die reformistischen Parteien und die Gewerkschaftsbürokratie haben ihre Basis in diesen Schichten des Proletariats und schrieben sich den Chauvinismus auf die Fahne, indem sie jede Perspektive der Überwindung des Kapitalismus aufgaben und stattdessen auf Kompromisse mit der imperialistischen Bourgeoisie zur Verteilung der imperialistischen Zusatzgewinne setzen.

Im Namen der Verteidigung der Rechte der einheimischen Arbeiter*innenklasse sprechen Gewerkschaftsführungen und reformistische Parteien diese Rechte den Arbeiter*innen anderer Länder ab und spalten somit die Ausgebeuteten anhand der Landesgrenzen. Lenin prägte dafür den Begriff Sozialchauvinismus: „das heißt Sozialisten in Worten, Chauvinisten in Wirklichkeit, die ‚ihrer‘ Bourgeoisie, helfen fremde Länder zu berauben, andere Nationen zu unterjochen.“ (Lenin, Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale, 1916). Er meinte damit die SPD, nachdem sie sich 1914 vom proletarischen Internationalismus verabschiedete, um für die „Vaterlandsverteidigung“ dem Ersten Weltkrieg zuzustimmen.

Der Sozialchauvinismus ist auch in der heutigen Sozialdemokratie, mit ihren linken Spielarten wie der Linkspartei, die dominierende Kraft. So ließen die Gewerkschaftsbürokratien während der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 zu, dass zwar in Deutschland keine massiven Entlassungen vorgenommen wurden, dafür aber in vielen anderen europäischen Ländern. Mit dieser „Standortlogik“ schwächte sie die europäische Arbeiter*innenklasse angesichts der Angriffe des deutschen Imperialismus und ermöglichte gleichzeitig, dass auch in Deutschland Löhne weiter gedrückt wurden. Auch der Linksparteiflügel um Sahra Wagenknecht bedient sich immer wieder sozialchauvinistischer Argumente, wenn er für Abschiebungen und gegen gleiche Rechte für Geflüchtete eintritt, um die Lebensbedingungen der einheimischen Arbeiter*innen nicht zu verschlechtern. Doch gerade auf Grundlage dieser Spaltung finden Angriffe auf deutsche und nicht-deutsche Lohnabhängige statt. Um dem heutigen Anstieg des Militarismus und Nationalismus entgegenzutreten, müssen wir uns auf die internationalistische Tradition der Arbeiter*innenbewegung besinnen und gegen jeden Chauvinismus kämpfen.

Quelle: klassegegenklasse.. vom 25. Juni 2017

 

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