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Elend und Spaltung. Der globale Klassenkonflikt heute

Eingereicht on 6. Juli 2017 – 8:59

Werner Seppmann. Hierzulande entwickeln die Lohnabhängigen einen spontanen, aber ortlosen Antikapitalismus. Und noch die extrem Benachteiligten profitieren von der brutalen Ausbeutung in der Peripherie. Über den globalen Klassenkampf.

Klassenkampf beruht unabhängig von seiner konkreten Erscheinungsweise letztlich auf einer sehr einfachen Grundlage, nämlich auf dem strukturellen Gegensatz zwischen den Ausgebeuteten und den Ausbeutern. Struktureller Gegensatz bedeutet, dass Klassenkampf auch dann stattfindet, wenn er in einseitiger Form zum Ausdruck kommt, wenn er, wie gegenwärtig in den meisten kapitalistischen Metropolen, fast ohne Gegenwehr als Intervention von oben organisiert wird. Konsequent nutzt das Kapital die Machtgewinne, die ihm in den letzten Jahrzehnten durch die sogenannte Globalisierung, also vorrangig durch die Internationalisierung der Arbeitsmärkte zugewachsen sind. Recht problemlos ist es möglich geworden, die Arbeitskraftverkäufer und -verkäuferinnen weltweit gegeneinander auszuspielen. Dieser Umstand erschwert, Klassenkämpfe dort zu führen, wo die Lohnabhängigen den größten Druck auf das Kapital ausüben können, nämlich in den großen Betrieben an der Spitze des arbeitsteiligen Industriesystems, in denen die Vorprodukte aus allen Teilen der Welt zusammenlaufen, also an den Orten, an denen noch immer maßgeblich, wenngleich nicht alleinig, die Mehrwertschöpfung erfolgt.

An diesen »Schnittstellen« der Ausbeutung ist die Konfliktsituation zwischen Kapital und Arbeit für die Lohnabhängigen auch in besonderer Intensität erfahrbar. So wird die Bundesrepublik trotz des nicht unbeträchtlichen Einflusses von Sozialstaatsillusionen und auch individuellen Aufstiegshoffnungen nicht zuletzt aufgrund der arbeitsalltäglichen Konflikterfahrungen von der Mehrheit der Lohnabhängigen immer noch als Klassengesellschaft wahrgenommen: Trotz des Fehlens eines profilierten Klassenbewusstseins hinterlassen vorrangig in der Arbeitswelt gemachte Widerspruchserfahrungen deutliche Spuren im Gesellschaftsbild.

Kapitalismusskepsis

Eine Untersuchung in ost- und westdeutschen Industriebetrieben kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Nicht zuletzt aufgrund zunehmender sozialer Verwerfungen und Ungerechtigkeiten bröckelt die Legitimationsgrundlage des kapitalistischen Wirtschaftssystems: Zwei Drittel der Befragten gehen von einer grundlegenden Spaltung der Gesellschaft in ein Oben und ein Unten aus.[i]

Dieses Widerspruchsbewusstsein ist durch die Krisenerfahrungen geschärft worden und hat sogar einen latenten Antikapitalismus hervorgebracht, der jedoch gleichzeitig »ortlos« ist, weil er keinen organisatorischen Anknüpfungspunkt kennt und keine perspektivischen Orientierungen vermittelt. Die Lohnabhängigen stellen weder an politische Gruppierungen und Parteien und noch weniger an die Gewerkschaften große Erwartungen: »Mitbestimmung und Gewerkschaften werden [zwar] grundsätzlich für nötig, sinnvoll und unverzichtbar gehalten. Adressaten für Gesellschafts- und Kapitalismuskritik sind die Lohnabhängigenorganisationen jedoch überwiegend nicht. Die verbreitete Kapitalismuskritik bleibt heimat- und orientierungslos«.[ii]

Auch deshalb repräsentiert diese Kapitalismuskritik noch kein Klassenbewusstsein: Es handelt sich vielmehr um eine Kapitalismusskepsis als Element einer proletarischen Klassenmentalität, die sich jedoch aus vielen Gründen gegenwärtig nicht weiterentwickeln kann. Einmal aus subjektiven Gründen, weil die Kräfte die diesen Entwicklungsprozess unterstützen und fundieren müssten, fehlen. Nicht zuletzt große Teile der Gewerkschaftsbürokratie haben sich in den letzten Jahrzehnten sogar als Bremser betätigt – um es »solidarisch« auszudrücken. Aber auch aus objektiven Gründen: Denn die neuen Spaltungslinien, die durch die Betriebe verlaufen, haben bewusstseinsverzerrende Wirkungen. Prekarisierung ist ja nur ein anderer, manchmal auch verschleiernd wirkender Begriff für die Tatsache, dass sich die Arbeitswelt in eine Vielzahl von Zonen mit unterschiedlicher Bezahlung und höchst differenzierter sozialer Absicherung aufgegliedert hat. Die Liste der prekären Beschäftigungsformen ist fast endlos: Die beiden größten Posten Leih- und Vertragsarbeit bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Obwohl sich alle abhängig Beschäftigten prinzipiell und kollektiv in einer Situation befinden, die durch den objektiven Gegensatz zum Kapital charakterisiert ist, wird es durch die gravierenden Spaltungslinien im Erwerbssystem vor allem für die Benachteiligten immer schwieriger, die gemeinsamen Interessen zu erkennen, weil es eklatante Unterschiede in den Arbeitsbedingungen, hinsichtlich der sozialen Absicherung und der Höhe der Entlohnung gibt – auch dann, wenn man Seite an Seite arbeitet: Es existieren große Unterschiede zwischen Männern und Frauen, zwischen den Festangestellten, also den sogenannten Kernbelegschaften, und den prekären »Randbeschäftigten«. Hinzu kommen noch die ethnisch codierten Differenzierungs- und Benachteiligungsformen.

Betriebliche Spaltungslinien

Wie deutlich die Spaltungslinien auch innerhalb der einzelnen Belegschaften ausgeprägt sind, wurde 2013 durch eine Erhebung der IG Metall deutlich. Die Bestandsaufnahme der Beschäftigungsverhältnisse in der Automobilindustrie, also im Kernbereich des bundesdeutschen Industriesystems, ergab, dass die tariflich bezahlten Stammbelegschaften mit 763.000 Personen immer noch den größten Lohnabhängigenblock repräsentierten. Im Produktionsbereich verdienten sie zum damaligen Zeitpunkt bei Mercedes beispielsweise 3.400 Euro brutto. Hinzu kommen in guten Jahren teilweise noch Leistungsprämien, so dass sich die durchschnittlichen Bruttoeinkünfte für diese Beschäftigtengruppe auf den Monat umgerechnet im Bereich von 4.000 Euro bewegten. Bei VW waren es fast 5.000 Euro. Die Zuschläge erhalten jedoch nur die festangestellten Lohnarbeiter. Nichts davon sehen die ca. 100.000 Leiharbeiter, die durchschnittlich 2.200 Euro brutto, also faktisch die Hälfte dessen verdienen, was ihre Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie Seite an Seite arbeiten, erhalten. Aber damit ist Boden der Überausbeutung[iii] noch lange nicht erreicht. Sage und schreibe 250.000 Kolleginnen und Kollegen waren 2013 in der deutschen Automobilindustrie auf der Grundlage von Werkverträgen beschäftigt! Sie erhielten bei Opel, VW, Mercedes oder BMW manchmal nur ein Monatsentgelt zwischen 1.200 und 1.300 Euro brutto.

Das ist die konkrete Situation, in der die Lohnabhängigen gemeinsame Interessen unmittelbar kaum noch erfahren können – obwohl sie natürlich nach wie vor existieren. Erleben die Prekarisierten die Stammbeschäftigten als »Privilegierte«, so wird von diesen die Kollegin (die als Leiharbeiterin nach fester Beschäftigung strebt) als den eigenen Arbeitsplatz gefährdende Konkurrentin wahrgenommen. Es haben sich durch diese Spaltungsprozesse mentale Einstellungs- und psychische Reaktionsmuster entwickelt, die widerständige Haltungen nicht unbedingt fördern, denn soziale Ängste haben sich nicht nur bei den unmittelbaren Krisenopfern, den »Ausgesonderten« und an den Rand Gedrängten, festgesetzt, sondern sie wirken einschüchternd und disziplinierend bis in die Kernbereiche des Industriesystems hinein.

Das sind die objektiven Voraussetzungen, die es ermöglichen, dass der Klassenkampf vorrangig von Seiten des Kapitals geführt werden kann. Und das ist wörtlich zu nehmen, denn es geht dem Kapital bei den prekären Beschäftigungsformen nicht nur um »ökonomische Effizienz«, also die Intensivierung der Ausbeutung. Ein willkommener Nebeneffekt ist die Verunsicherung aller Beschäftigten. Jedem (gerade auch den noch »Integrierten«) wird durch das Heer der Prekarisierten unmissverständlich vor Augen geführt, dass sie nicht unersetzlich sind. Diese Einschüchterung führt zur lohnpolitischen »Bescheidenheit« und allgemein zu einem beflissenen Verhalten, denn es kann sich in diesem System systematischer Zurückstufung und angesichts der sozialen Abstiegsautomatik, die das Hartz-IV-Reglement darstellt, niemand mehr sicher fühlen.[iv]

»Dritte Welt«-Zustände

Diese sozialpolitische Kampfanordnung hat zu sozialen Brüchen und Verwerfungen in einem Umfang und einer Intensität geführt, die sich selbst antikapitalistische Linke vor zwei Jahrzehnten kaum haben vorstellen können. In vielen der imperialistischen Hauptländer sind Zonen der Verelendung und der Hoffnungslosigkeit entstanden, wie sie bisher nur aus den »Peripherie«-Ländern bekannt waren. Nicht ohne Berechtigung wird von einer »Brasilianisierung« der Metropolen gesprochen.

Aber dennoch leben in den Augen großer Teile der Weltbevölkerung selbst die Armen auf den »Wohlstandsinseln« immer noch in beneidenswerten Verhältnissen. Denn tatsächlich ist es so, und das ist in keiner Weise moralisierend gemeint, dass auch die extrem Benachteiligten hierzulande – wenn auch nur in bescheidender Weise – noch von den Mechanismen des internationalen Ausbeutungssystems profitieren, ihre (wenn auch rudimentäre) Konsumpartizipation nur vermittelt über die elenden »Lebensverhältnisse anderer zustande« kommt, sie ihre privilegierte Position »der weniger bevorzugten Stellung anderer in anderen Teilen der Welt [verdanken] – und ihre Privilegien lassen sich auch nur aufgrund dieses Ungleichheitsverhältnisses aufrechterhalten«[v]. Mit bitterer Ironie gesagt, treffen sich die Armen und Bedürftigen der Metropolengesellschaften regelmäßig an den Wühltischen der Textildiscounter, um Kleidung zu kaufen, die die Entwurzelten und Verelendeten der Peripherie unter erbärmlichsten Bedingungen zusammengenäht haben.

Auch wenn das nur ein randständiger Aspekt »in einer Gesellschaft [ist], die sich […] auf Kosten und zu Lasten anderer stabilisiert und reproduziert und sich überhaupt nur auf diese Weise zu stabilisieren und zu reproduzieren vermag«[vi], ist er doch von symbolischer Bedeutung. Aber der Sozial­hilfeempfänger und der Arbeitslose in den Metropolengesellschaften sind natürlich die falschen Adressaten für irgendwelche Vorwürfe und Vorhaltungen, aber auch sie sollten wissen, welchen Preis die Hose für 6,50 Euro und der Rock für 7,80 Euro tatsächlich haben. Sie sollten wissen, dass sie so wohlfeil sind aufgrund des menschenverachtenden Ausbeutungssystems in Bangladesch, Indien und anderswo. Nicht selten auch um den Preis des Lebens der Arbeiterinnen und Arbeiter, die oft sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen unterworfen sind. Sie zahlen ihren »Preis« für die konsumgesellschaftliche Lebensweise auf den »Wohlstandsinseln«. Und jeder sollte auch wissen, dass Schweinefleisch für drei Euro und Hähnchenschenkel für zwei Euro das Kilo durch die Zerstörung von Naturressourcen und traditionellen Sozialstrukturen (die für die Menschen auch Absicherungssysteme waren) in den Viehfutter produzierenden Ländern des »Südens« erkauft werden.

Also nochmals: Das ist nicht »normativ« gemeint, jedoch muss immer wieder daran erinnert werden, dass der Wohlstand der einen (wie groß und wie klein er immer auch sein mag) mit dem Elend der anderen erkauft wird. Beispielsweise auch durch die Auslagerung von umweltgefährdenden und gesundheitsschädlichen Produktionsverfahren, aber auch durch Giftmüllexporte. Auf jeden BRD-Bürger entfallen jährlich alleine 22 Kilo Elektronikschrott mit Bestandteilen von Blei, Quecksilber und Kadmium, die zum allergrößten Teil, in den »Peripherie«-Ländern illegal entsorgt werden

Und es muss betont werden, dass die Armuts­entwicklung gerade in den letzten zwei Jahrzehnten eine besondere Dynamik bekommen hat. Die weltweite explosionsartige Ausbreitung der Slumviertel ist eng mit der Ausbreitung kapitalistischer Verwertungszonen, der Effektivierung peripherer Ausbeutungsverhältnisse bei gleichzeitiger Zerstörung traditioneller Existenzgrundlagen verbunden.

Globale Elendsentwicklung

Durch die Ausdehnung der Armuts- und Bedürftigkeitszonen auch in den Metropolenländern wird deutlich, dass nun ein Zustand erreicht ist, bei dem diese spezifische Zerstörungskraft des Kapitalismus nicht mehr auf separierte Zonen des imperialistischen Weltsystems beschränkt bleibt, weil die »Marktdynamik« in Kombination mit der Skrupellosigkeit der Kapitaleliten Widersprüche erzeugt hat, die jetzt auch in Form der »Migrantenwelle« auf die Metropolen zurückschlagen. Und es kann als sicher gelten, dass wir bisher nur den Anfang erlebt haben. Es ist nicht nur vorstellbar, sondern höchst wahrscheinlich, dass Massen hilfloser Menschen in noch ganz anderen Größenordnungen die »Wohlstandszonen« erreichen werden, denn die Elendsquartiere beispielsweise in Karatschi, Kalkutta, Mumbai, Delhi und Dhaka, in denen allein 20 Millionen Menschen leben, bieten denen, die dort ihr kümmerliches Dasein fristen müssen, noch nicht einmal mehr die Illusion eines »Sprungbretts« zu einem »besseren Leben«, wie das vor zwei Jahrzehnten noch der Fall gewesen sein mag.

»Die städtischen Elendsagglomerationen sind die Kehrseite des Kasinokapitalismus: ein Auffangbecken für jene Menschen, die aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung – der Technologisierung der Ökonomie und der zunehmenden Bedeutung von Spekulationsgeschäften – überflüssig geworden sind.«[vii] Sie sind Endstationen, weil die Aufnahmefähigkeit des globalisierten kapitalistischen Arbeits- und Verwertungssystems an ihr Ende gekommen ist. Es werden zwar immer wieder neue Arbeitskräfte benötigt, aber nur noch in einem stagnierenden Umfang. Die Slums, von denen es weltweit über 200.000 gibt, und in denen in den am wenigsten entwickelten Ländern bis zu 80 Prozent der Bevölkerung leben, sind faktisch zu lebensgeschichtlichen Endstationen geworden.[viii]

Die Migranten und Flüchtlinge machen sich aus sehr unterschiedlichen Motiven auf den Weg in die vermeintlichen Paradiese. Doch der Anteil derer, die durch die Zerstörung der Lebensgrundlagen wegen aggressiver Kapitalverwertungsstrategien vertrieben wurden, ist erdrückend groß geworden. Alleine die EU-Staaten nehmen bis zu 35 Millionen Hektar Land außerhalb Europas in Anspruch.

Die staatlichen Apparate in den imperialistischen Hauptländern reagieren auf die »Migrantenwellen« mit autoritärer Formierung: Abschottungen nach außen und repressive Strategien nach innen – von denen die Überwachung und Erfassung aller nur eine Facette ist – bedingen sich wechselseitig. Der Aufwand für die Außenkontrolle (deren Kehrseite die innerstaatlichen Überwachungsexzesse sind) wird immer größer, und dennoch werden sich die »Zonen der Prosperität« durch rigide Grenzregime nicht abschotten lassen.

Bei diesen Prozessen kommt rechten Gruppierungen, von denen die AfD nur ein Element ist, eine historisch neue Rolle zu; es hat ein regelrechter Funktionswechsel stattgefunden: Angesichts des politischen Bedeutungsverlustes linker Kräfte, sind faschistische Formierungen als Schutzwall gegen den Sozialismus, so wie in den 30er Jahren, nicht mehr nötig. Sie haben ihre objektive Funktion nun als Brandbeschleuniger und als Katalysator, um die gesellschaftlichen Abwehrhaltungen und die politischen Maßnahmen gegen die »Eindringlinge« zu intensivieren und gleichzeitig autoritäre Formierungen zu legitimieren.

Menschenwürdige Lebensverhältnisse

Auf diese Situation in ihrer ganzen Komplexität müssen sich die linken Bewegungen einstellen: Sie müssen Vorstellungen von internationaler Solidarität in ganz neuer Intensität entwickeln. Konkret bedeutet das, dass jede Zukunftsvorstellung, jedes Konzept einer alternativen Gesellschaft unter dem Vorbehalt steht, dass das gleichberechtigte Lebens- und Entfaltungsrecht aller Menschen ohne Wenn und Aber anerkannt werden muss: Mit Solidaritätsbekundungen allein ist es angesichts der globalen Verelendungsentwicklung und der mit ihr verbundenen Ressourcenzerstörung nicht getan. Auf die unübersehbar gewordene Katastrophendynamik muss theoretisch, konzeptionell und praktisch reagiert werden. Und zwar auch und gerade deshalb, weil gegenwärtig noch nicht einmal ansatzweise Lösungsvorstellungen für die sich auftürmenden Probleme existieren: Die Menschenwürde und das Lebensrecht aller Menschen sind unteilbar – aber die dringliche Frage lautet, wie sie zur Geltung gebracht werden können.

Das bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, eine unreflektierte Politik des Verzichts für die lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheiten in den Metropolenländern zu fordern. Das Verzichtspostulat gehört ins Propagandaarsenal der Herrschenden. Sein einziger Zweck ist, von den Massen zu fordern, den Gürtel enger zu schnallen und im Übrigen alles so zu lassen, wie es ist. Im Kern geht es bei der Berücksichtigung der elementaren Lebensrechte aller Menschen um Prozesse kollektiver Selbstbesinnung, wie einer Lebensweise der Natur- und Gesellschaftszerstörung ebenso wie der strukturellen Ungleichheitsentwicklung ein Riegel vorgeschoben werden kann. Es geht bei der Diskussion über eine andere Gesellschaft um einen Perspektivwechsel, der Konzepte konsumtiver Selbstbeschränkung einschließen muss[ix] und der sich konkret auch um solche Fragen dreht wie die, ob es für ein selbstbestimmtes, kreatives und erfüllendes Leben nötig ist, sich mittlerweile im Halbjahresrhythmus ein neues Handy zu kaufen, ob das Lebensglück von der 237. Joghurtsorte abhängt, die gerade neu im Kühlregal aufgetaucht ist, und ob der Billigflug nach London für einen sechsstündigen Shoppingaufenthalt etwas Erstrebenswertes ist. Mit einem Satz gesagt, geht es um die Wiederentdeckung der Frage, die in der Arbeiterbewegung schon eine lange Tradition hat und heute vergessen scheint: »Wie wollen wir leben?« Diese Frage drängt sich auf, weil sie – wenn meist auch in einem ganz und gar unpolitischen Sinne – viele Menschen schon heute umtreibt. Dieses Themenfeld alltagskultureller Alternativen zum Konsumismus und zur »Beschleunigungsgesellschaft« (Hartmut Rosa) ist geeignet, die Sensibilität für die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit eines Bruchs mit der herrschenden Logik des Wirtschaftens und des Lebens (oder besser des Nicht-Lebens) zu fördern.

Als Gegenstand der Diskussion solch alternativer Orientierungen drängt sich auch die Grundeinkommensdebatte auf, die in ihrem Haupttrend die zentralen Fragen verfehlt. Die heute hegemonialen Konzepte laufen darauf hinaus, die Ausgegrenzten nur gesellschaftlich zu alimentieren. Faktisch wird ihr sozialer Ausschluss und ihre Randständigkeit stillschweigend in Kauf genommen. Die herrschende Diskussion findet sich also letztlich mit der bestehenden soziokulturellen Spaltung ab. Diese kann von den gängigen Konzepten bestenfalls abgemildert, aber nicht beseitigt werden.

Alternativ dazu muss die Grundeinkommens­problematik so thematisiert werden, dass deutlich wird, es geht nicht um das reformistische Prinzip der Teilhabe, sondern um Selbstbestimmung – und zwar der Selbstbestimmung in der Arbeit und damit zwangsläufig hinsichtlich aller sozioökonomischen Prozesse.

Es sollte nicht als Nostalgie missverstanden werden, wenn ich in diesem Zusammenhang an die entscheidende Zeile eines alten Arbeiterliedes erinnere, wonach es darauf ankomme, »die Arbeit zu befreien«. Nur durch die Entwicklung einer solchen progressiven und das Gegenwärtige überschreitenden Perspektive ist es möglich, den Menschen eine Zuversicht zu vermitteln, die auch in den aktuellen Kämpfen unverzichtbar ist, um den rechten Demagogen wenigstens langfristig das Wasser abgraben zu können.

Quelle: jungewelt.de… vom 6. Juli 2017

[i] Vgl.: Klaus Dörre, Anja Happ, Ingo Matuscheck (Hg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg 2013

[ii] Ebd., S. 47

[iii] »Die gewaltsame Herabsetzung des Arbeitslohns unter diesen Wert [der Arbeitskraft] […] verwandelt faktisch, innerhalb gewisser Grenzen, den notwendigen Konsumtionsfonds des Arbeiters in einen Akkumulationsfonds von Kapital«. (Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW, Bd. 23, S. 626, Berlin (DDR) 1979

[iv] Vgl.: Werner Seppmann: Ausgrenzung und Herrschaft. Prekarisierung als Klassenfrage. Hamburg 2013

[v] Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München 2016, S. 65

[vi] Ebd., S. 25

[vii] César Rendueles: Soziophobie. Politischer Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie, Berlin 2015, S. 17

[viii] Vgl.: Mike Davis: Planet der Slums. Berlin und Hamburg 2007

[ix] Vgl.: Werner Seppmann: Marxismus, Ökologie und Utopie. Wolfgang Harich und das marxistische Verständnis der Naturzerstörung. In: Andreas Heyer (Hg.): Wolfgang Harich in den Kämpfen seiner Zeit. Hamburg 2016

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