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Berichte aus einem krisengeschüttelten Venezuela

Eingereicht on 14. Juli 2017 – 18:11

Juan Andrés Gallardo. Es wird Tag in Caracas. Trotz der Brise, die vom Gipfel des Al Ávila herunterfällt, brennt die Sonne und kündigt die 29 Grad von einigen Stunden später an. Gegenüber der Plaza La Candelaria warten Hunderte von Personen in einer Schlange für gesalzenes Brot nach französsicher Art. Die gleiche Szene vor dem Häuserblock davor und danach. La Candelaria ist ein spanisches und portugiesisches Einwandererviertel mit einer Tradition des Brotessens; aufgrund des Mangels an Weizenmehl bieten die Geschäfte nur ein bis zwei Mal pro Woche Brot an. Drei oder vier Brote kosten einen Zehntel einer Tasche mit Süssbrot in einem Supermarkt; dies erklärt, dass sich das Ritual vor jeder Bäckerei wiederholt, obwohl die Wartezeit über eine Stunde betragen kann.

So beginnt für einen grossen Teil der Bevölkerung von Caracas der Tag. Zudem bleibt offen, ob es ein Transportmittel zum Arbeitsplatz geben wird, ob man auf der Bank Bargeld abheben kann, und ob die Zeit reicht, um sich die notwendigen Dinge für ein Abendessen  – erneut mit der obligaten Warteschlange – zu einem vernünftigen Preis zu besorgen.

«Am schlimmsten war der August vergangenen Jahres. Damals assen wir nur Mangos. Morgens, mittags und abends. Dies war das einzige, was es gab», sagte man mir, um klarzustellen, dass es jetzt viel besser sei. Sicherlich ist der schlimmste Moment der Nahrungsmittelknappheit nun vorüber, aber jedenfalls muss sich die Mehrheit im Alltag sehr anstrengen, um mit einem von der aus dem Ruder laufenden Inflation ständig weggefressenen Einkommen zu überleben.

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Da keine offiziellen Daten existieren, werden die Indizes anhand von Angaben privater Berater ermittelt. Gemäss diesen Informationen betrug die Inflation im vergangenen Jahr um die 700 %, für dieses Jahr wird ein Wert von über 1´000 % erwartet; die Entwicklung der Löhne vermag jedoch diese Entwertung bei weitem nicht auszugleichen. Ohne irgendwelche Verhandlungsstrukturen, auch nicht mit den Gewerkschaften, ist es die Regierung von Nicolás Maduro, die per Dekret die Lohnerhöhungen bekanntgibt. Die bislang letzte vom Mai dieses Jahres betrug 60 % und erhöhte den Minimallohn auf 65´000 Bolívar (ein Wert von 10 Dollar auf dem Parallelmarkt im Mai). Dies entspricht dem Wert von 7 Hamburgern in einer Schnellimbisskette oder 13 Flaschen Coca-Cola in einem Supermarkt. Zum Minimallohn kommt noch ein Gutschein für Nahrungsmittel im Wert von 135´000 Bolívar, was monatlich 200´000 Bolívar ausmacht – wenig mehr als 30 Dollar auf dem Parallelmarkt. Demgegenüber betrug in gleichen Monat der Wert der Canasta Básica Familiar – des für eine Familie festgelegten Grundbedarfes – 1´400´000 Bolívar.

Dies erklärt, weshalb ein grosser Teil der venzolanischen Bevölkerung einen beträchtlichen Teil ihrer freien Zeit darauf verwendet, sich Nahrungsmittel oder Medikamente (die ebenfalls knapp sind) zu beschaffen und dabei möglichst den Schwarzmarkt vermeiden, wo die schwierig zu findenden Güter zu einem horrenden Preis zu haben sind. Obgleich eine Reihe von Gütern des Grundbedarfs der Preiskontrolle unterstehen, kaufen die Unternehmer diese zusammen, um damit unter den komplizenhaften Augen der Regierung gute Geschäfte zu machen. So wird die Milch in «Milchgetränk» umbenannt, um sie dann zu einem Preis von 5’000 Bolívar je Liter verkaufen zu können, weit jenseits der Möglichkeiten all jener, die einen Minimallohn verdienen, ganz zu schweigen von den Arbeitslosen – wovon ein grosser Teil Jugendlicher -, oder den immer zahlreicheren Randständigen, die den Abfall nach etwas Essbaren oder Verkaufbaren durchsuchen müssen.

Vergangenes Jahr, zur Zeit der bislang schlechtesten Versorgungslage, kamen zu dieser Routine noch die Stunden des Wartens unter der brütenden Sonne in den von der Regierung errichteten Märkten mit subventionierten Nahrungsmitteln. Trotzdem gab es immer weniger Nahrungsmittel und die Ungeduld der Leute wuchs. Die Regierung nahm die Lage zur Kenntnis und setzte die CLAP (Lokale Komitees zur Versorgung und Verteilung) ein, die die zweifache Aufgabe haben, Nahrungsmittel abzugeben und die Kontrolle in den ärmsten Quartieren zu erhöhen.

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Caracas ist buchstäblich entzweigeteilt. Es gibt keine bessere Darstellung des politischen «Risses» als die unmittelbare Umgebung der Metrostation Chacaito im Zentrum der Stadt. Dort endet die Gemeinde Libertador, die sich ab dort nach Westen erstreckt, dort beginnt die Gemeinde Chacao, die sich nach Osten erstreckt, wo sie in den Bundesstaat Miranda hineinreicht, wo der Oppositionelle Henrique Capriles als Gouverneur amtiert. Die Teilung ist jedoch nicht lediglich administrativer, sondern vor allem politischer Natur. Im Westen befinden sich die wichtigsten öffentlichen Gebäude und die Quartiere der Mittel- und Unterschichten, die sich bis zu den Hügeln ausdehnen. Wenn man im Westen aussteigt, steht man vor einem Plakat mit der Aufschrift «Willkommen im chavistischen Territorium». Dort befindet sich der Sitz des Obersten Gerichtes (TSJ), des Hauptverbündeten von Maduro neben der nationalen Wahlbehörde (CNE); dort steht auch der Miraflores Palast, der Regierungssitz. Dies ist der Grund, dass der Auftrag der Polizei und der Nationalgarde lautet, keine Demonstration der Opposition nach Westen gelangen zu lassen. Sie greifen deshalb nicht nur zur brutalen Repression, die bereits zu Dutzenden Toten geführt hat, sondern blockieren periodisch alle Strassen, die die beiden Welten verbinden.

Demgegenüber herrscht im Osten die rechte Opposition, die in der Mesa de Unidad Democratica (MUD) organisiert ist. Dort befinden sich die Hauptsitze der wichtigsten Unternehmen, deren Führer dort ihren in Dollar garantierten Lohn beziehen ( 1 Dollar galt auf dem Parallelmarkt Ende Mai 5’800 und Ende Juni 8’000 Bolívar). Dort sind auch die Botschaftssitze und die wichtigsten Einkaufszentren, in deren Supermärkten kein Mangel an Produkten herrscht, deren Preise allerdings für Lohnabhängige unerschwinglich sind. Steigt man im Osten aus der Metro, so sieht man sich Plakaten gegenüber, die besagen « Nein + Diktatur», «Maduro Diktator» oder «Ich bin ein Befreier». Letzteres ist auch die Losung, die die Rechte für ihre permanenten Aufrufe an die Militärs benutzt, einen Staatsstreich zu vollführen und Maduro aus der Regierung zu entfernen. Obwohl die Opposition rezyklierte Figuren der alten neoliberalen Parteien umfasst oder Parteien wie «Volkswille» des eingekerkerten Leopoldo López, so stellt sie sich als erneuerte Rechte dar; hinter dem demagogischen demokratischen Diskurs verbirgt sich die ursprüngliche ADN der putschistischen venezolanischen Rechten. Die gleiche, die im April 2002 zusammen mit Militärs einen gescheiterten Putsch gegen Chávez anführte und am Ende desselben Jahres mit einer Blockierung der Erdölproduktion zum Angriff überging, um die damals gleichfalls schwächelnde Wirtschaft abzuwürgen.

Derselbe ADN dringt andauernd aus allen Poren der Führer der Opposition der Rechten, die sich zwischen einer Unterstützung des US-Imperialismus und den permanenten Aufrufen an die Militärs hin- und herbewegen. Im Mai riefen sie zu einem Marsch auf Fuerte Tiuna auf, dem militärischen Hauptquartier des Landes, um die Beendigung der Unterstützung der Armee für Maduro, das heisst einen Putsch zu fordern.

Entgegen dem hochgehaltenen demokratischen Diskurs ist es derselbe ADN, der immer weitere Kreise zu sich hinüberzieht, die nicht mit dem Chavismus einig gehen, die sich aber nicht für eine Opposition erwärmen können, die allzusehr derjenigen Rechten gleicht, die das Land über ein halbes Jahrhundert unter dem Pacto de Punto Fijo regiert haben.

Vielleicht ist es die Jugend, die die Segnungen des Chavismus nicht erlebt hat, aber die Miseren des Madurismus durchmacht, die als der sozial dynamischste Teil hervortreten könnte. Es sind die Jugendlichen, in der Mehrheit aus der Mittelschicht, die sich an die Spitze der Mobilisierungen der MUD stellen, der Polizei gegenübertreten und die Mehrheit der Opfer der Repression ausmachen. Die Rechte beherrscht auch die Mehrheit der Zentren der Studierenden an den Universitäten, die an den Mobilisierungen der Opposition teilnehmen. Es sind aber auch die Jugendlichen aus den ärmeren Quartieren, die sich an den Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligen, und dies nicht unter dem Programm der Rechten tun, sonderen unter einem «Programm» der fehlenden Perspektiven, des Hungers und der Verzweiflung. Dort dominiert nicht der MUD, aber die Gegnerschaft zur Regierung Maduro nimmt zu.

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«Wenn du davon nicht das Doppelte anstelle von Arepas reinmachst, dann hast du nur blosse Tortillas», beklagt sich ein Bewohner von Caracas. Er bezieht sich auf das Maismehl, das die Venezolaner für die Herstellung von Arepas, eines ihrer Grundahrungsmittel, benutzen; die Klage meint die aus Mexiko stammenden Pakete in den CLAP-Taschen, deren Feinheitsgrad grösser ist. Die meisten der Produkte in den CLAP-Taschen – diese sind mit Bildern von Chávez und Maduro illustriert – stammen aus Mexiko.

Die CLAP-Taschen werden ein Mal monatlich übergeben und enthalten Reis, Milchpulver, Maismehl, Zucker, dünne Nudeln, Thon und einige andere Produkte. Sie hatten bei ihrer Einführung 2016 einen subventionierten Preis von 10´000 Bolívar, der seither auf weiterhin sehr tiefe 18´000 Bolívar angestiegen ist. Um solche Taschen zu erhalten, muss man lediglich erfasst sein; jeder Haushalt erhält eine CLAP-Tasche, ungeachtet der Anzahl Mitglieder. Die Armee macht die Verteilung, gemeinsam mit den lokalen Rätestrukturen, die an die Vereinigte sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) gebunden ist. Sie werden von Tür zu Tür verteilt: ein phänomenaler sozialer Kontrollmechanismus.

Man hört immer wieder Klagen über oppositionelle Quartiere, wo die CLAP-Taschen nicht oder zu spät eingetroffen sind. In Petare, einem Quartier der einfachen Bevölkerung von 40 Quadratkilometern im «äussersten Osten» von Caracas, bereits im Bundesstaat Miranda liegend, liegt die letzte Lieferung der CLAP drei Monate zurück. Trotzdem ist dort seit einiger Zeit die OLP präsent, ein Sicherheitsorgan, in dem die Polizei, die Nationalgarde und spezielle Geheimdienste für die Armenquartiere zusammenarbeiten und vermummt, mit Maschinengewehren und Panzern patrouilleren. So werden Sozialkontrolle und Terror unter der Ausrede von Sicherheitsmassnahmen für die Bewohnerinnen und Bewohner kombiniert.

Der Einsatz der OLP beschränkt sich jedoch nicht auf die Quartiere, wo die Opposition präsent ist, sondern sie sind vor allem auch dort präsent, wo der Chavismus oben auf schwingt. Dort arbeiten sie mit den sogenannten «colectivos» zsuammen, paramitlitärischen Banden, die mit dem Parteiapparat der PSUV liiert sind und verrichten die schmutzige illegale Arbeit, die die an die Legalität gebundenen Sicherheitskräfte nicht ausführen können. So kam es in La Vega, einem dicht besiedelten Quartier im Südwesten von Caracas mit langer chavistischer Tradition, zu einem Protest mit einer über zwölfstündigen Konfrontation zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern einerseits und der Nationalgarde, der Polizei und der OLP andererseits, nachdem seit Mai die CLAP-Lieferungen ausgeblieben waren.

Die Repression, die ausserhalb Venezuelas als ausschliesslich gegen die [rechte] Opposition gerichtet dargestellt wird, richtet sich im Alltag ebenfalls gegen die Jugend der einfachen Quartiere und fokussiert sich auf jeden Konflikt, in dem die Regierung in Frage gestellt wird. In den letzten Monaten unterliegen auch die streikenden Lohnabhängigen ausserhalb des Lehrkörpers der Universidad Central de Venezuela der Repression, wie auch die Ärztinnen und Ärzte, die gegen den Mangel von Medikamenten protestieren oder die Gymnasiastinnen und die Gymnasiasten, die auf die Strasse gehen.

Die Sicherheitskräfte werden auch eingesetzt, um jeden Versuch der Plünderung aus Hunger niederzuschlagen, insbesondere im Landesinneren. In dieser Hinsicht ist sich die Opposition mit der Regierung Maduro einig und begünstigt die Repression in den durch sie regierten Gemeinden. Während einer neuerlichen «Nacht des Zornes» in Maracay, die als Protest der Rechten begann und sich in die ärmlichen Quartiere in Form von Plünderungen ausweitete, forderte der MUD das Eingreifen der Nationalgarde, und Henrique Capriles definierte die Lage über seinen Twitter-Account als «Chaos und Anarchie».

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«Hier gibt es keinerlei Polarisierung, hier sind alle gegen Maduro», sagte mir ein Universitätsprofessor. Die Behauptung ist sicher zur Hälfte wahr. Es stimmt, dass Maduro immer mehr an Rückhalt verliert und dies nicht nur wegen der wirtschaftlichen Katastrophe, sondern auch wegen des Aufrufes zu einer verfassungsgebenden Versammlung, die mittlerweile von über 65 % der Bevölkerung abgelehnt wird. Nichtsdestotrotz prägt allem voran die Polarisierung zwischen Regierung und dem MUD weiterhin das politische Leben des Landes.

Die Regierung und die Opposition messen nun ihre Kräfte täglich auf der Strasse seit der Oberste Gerichtshof im vergangenen März entschied, der Nationalversammlung, wo die Opposition die Mehrheit hat, die Befugnisse zu entziehen. Diese Massnahme lag jenseits der Kräfteverhältnisse und Maduro musste innerhalb weniger Tage zurückkrebsen, aber der Schaden war angerichtet, und die Opposition sah die Chance zu neuen Mobilisierungen und forderte vorgezogene Neuwahlen. Maduro setzte keinen Terminplan für die Wahlen an, sondern berief eine verfassungsgebende Versammlung ein, die schlussendlich zu seinem Hauptproblem wurde. Die auf Ende Juli angesetzten Wahlen in die verfassungsgebende Versammlung werden durch die Opposition boykottiert und man erwartet nur Kandidatinnen und Kandidaten des PSUV; überdies glaubt die Mehrheit der Venezolaner und Venezolanerinnen nicht, dass diese die Probleme des Landes lösen wird. Zudem wurde die verfassungsgebende Versammlung durch Maduro ohne vorhergehende Volksbefragung einberufen, die er möglicherweise verloren hätte. Dies erzeugte in weiten Teilen des Chavismus ein Unbehagen, wo befürchtet wird, dass die Verfasssung von 1999 grob verletzt wird: diese setzt nämlich fest, dass eine verfassungsgebende Versammlung ausschliesslich über eine Volksbefragung einberufen werden kann.

Eine zentrale Figur des «kritischen Chavismus» ist die Generalstaatsanwältin Luisa Díaz Ortega. Sie baut sich innerhalb des obersten Gerichtes als eine Art Heldin für die Opposition auf, indem sie aus dem Chavismus selbst heraus die Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung und die Repression durch die Nationalgarde und die Polizei infrage stellt. Es versteht sich von selbst, dass sie aus der Regierung heraus als Verräterin angegriffen und ihr vorgeworfen wurde, «für den US-amerikanischen Imperialismus zu arbeiten»; es wird deshalb versucht, sie abzusetzen. Diese Auseinandersetzung zwischen den Institutionen, die Maduro unterstützen und der Generalstaatsanwältin, die von der Rechten unterstützt wird, hat sich im Verlaufe des Junis zum Zentrum der politischen Friktionen ausgewachsen und droht noch weiter zu eskalieren, je näher die Wahlen in die verfassungsgebende Versammlung rücken. So finden jeden Tag chavistische Demonstrationen zur Unterstützung der Konstiuante und gegen die Generalstaatsanwältin statt; viele davon beginnen im Parque Carabobo, wo sich der zentrale Sitz der Staatsanwaltschaft befindet, wo Ortega Díaz amtiert.

«Das ist Nicolás’ Tanz, er bewegt den Kopf von hier nach dort. Ich schwöre dir, mit Nicolás Maduro ist das Volk sicher, mit ihm geht es vorwärts und nicht zurück», dröhnt die Musik vom Lastwagen der Postangestellten. Nach zwei Monaten der Mobilisierungen ist die Ermüdung sowohl in den Demonstrrationen des Chavismus wie der Opposition sichtbar, und abgesehen von Ausnahmen schliessen sich die Massen nicht mehr an, wie dies bis Mitte April noch der Fall war.

An denjenigen des Chavismus nehmen vor allem Aktivistinnen und Aktivisten des PSUV teil, Angestellte der Ministerien, der Erdölindustrie und Mitglieder der verschiedenen misiones (Lehrerinnen und Lehrer, Nahrungsmittelversorgung, Jugend und Sport, Köche und Köchinnen, Vaterland).

Die rechte Opposition ihrerseits führt ihre Aktionen eher dezentralisiert an verschiedenen Orten durch; den Hauptharst der Märsche der Opposition stellen weniger die unteren Mittelschichten, die wegen der Repression kaum je über zwei Häuserblocks hinauskommen. Es sind vielmehr Gruppen von Jugendlichen, die sich an deren Spitze stellen und sich immer wieder mit der Polizei und der Nationalgarde konfrontieren. Deshalb haben sie die grösste Sichtbarkeit und die Möglichkeit, täglich die Repression anzuprangern, nicht nur im Innern Venezuelas, sondern auch in Richtung der äusseren Akteuere, die ebenfalls Druck ausüben.

Die ständige Abfolge von Mobilisierung und Repression durchdringt das Leben von Millionen, obschon sie dies nicht wollen. Während den Protestmärschen ist es normal, dass die Metrostationen geschlossen werden, und die Autobusse ihre Kurse nicht vollständig ausfahren, sodass viele Leute Stunden auf ihrem Arbeitsweg verlieren, den sie zu Fuss zurücklegen müssen. Zu dieser «Chaotisierung» des Alltags fügt sich noch eine Art von Rückzugsgrenze an den Bankautomaten, die momentan auf 10´000 Bolívar pro Tag liegt. Aus diesem Grunde wird die Mittagszeit als tote Zeit beim Warten vor dem Bankschalter zugebracht, in der Hoffnung, noch etwas mehr Geld abheben zu können. Der Überdruss von Millionen, die an keiner Demonstration mitmachen, ist wahrnehmbar; das wachsende Unbehagen gegenüber der Regierung Maduro jedoch schlägt nicht um in eine Sympathie für die Rechte, die, obgleich sie den oppositionellen Diskurs hegemonisiert, von breiten Schichten als die alte putschistische und neoliberale Rechte angesehen wird.  Gemäss einem neuen Bericht der Beraterfirma Datanalisi betrachten sich 61,9 % der Venezolanerinnen und Venezolaner als parteiunabhängig, während sich 19,8 % mit Parteien der Rechten identifizieren und 15,1 % mit dem PSUV.

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Maduro ist nicht Chávez; dies ist in Venezuela allen klar. Seine Regierung ist nicht nur durch eine davoneilende wirtschaftliche Krise gekennzeichnet, deren Anfang von Chávez gerade noch erlebt wurde; sie macht obendrein eine schwere politische Krise durch.

Obwohl sie die am weitesten «links» stehende postneoliberale Regierung der Region war, änderte der Chavismus nie die an die Erdölrenten gekoppelte Struktur der venezolanischen Wirtschaft; dies ist die eigentliche Grundlage der aktuell durchlebten Katastrophe des Landes. Der Grad der Abhängigkeit ist so hoch, dass für 100 Dollar, die ins Land strömen, 96 mit dem Erdöl verbunden sind; derweil fallen die Preise des Rohöls weiter seit ihrem Höchststand 2008, vor der Finanzkrise, wo pro Barrel 130 Dollar bezahlt wurden; Ende 2016 waren dies nurmehr 22 Dollar. Heute leidet Maduro unter den Folgen des Falles der Rohölpreise, und während die Versorgungskrise und die Inflation das Land erschüttern, widmet die Regierung Milliarden dem Schuldendienst und schaut hilflos der massiven Kapitalflucht zu. Keine Spur von Sozialismus, noch von Revolution, in den Strassen Banden, die sich um die Erdölrente schlagen. Einerseits korrupte Beamte, die (boli)burguesía, die unter den Fittichen das Staates herangewachsen ist und eine Kaste von Militärs, die zu Millionären werden und eine noch nie dagewesene politische und wirtschaftliche Macht anhäufen. Andererseits die alte abgewirtschaftete Rechte, die verzweifelt versucht, sich des Erdöls und der staatlichen Macht zu bemächtigen, deren Plan darin besteht, die Streitkräfte als Ordnungsgaranten aufrechtzuerhalten und sich dabei auf einige der Angriffe abzustützen, die bereits von Maduro eingeleitet wurden, um mit einem Projekt anzutreten, das offen reaktionär, gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist, und das die Souveränität für die Interessen des Imperialismus opfert. Dies impliziert eine grosse Abwertung und eine Verschuldung, eine Freigabe der Preise, eine Reduktion der öffentlichen Ausgaben, eine Verelendung breiter Segmente der Arbeiterklasse, eine Verschrottung und Privatisierung der staatlichen Erdölfirma PDVSA und eine Verscherbelung der Bodenschätze und Naturreichtümer.

Die Wirtschaft ist jedoch nicht das einzige Problem. Maduro ist schwächste Kettenglied in einer Bewegung, die unter der bonapartistischen Führung von Chávez aufgebaut wurde und die sich immer wieder kraftvoll gegenüber der Rechten durchsetzte. Dieses Szenario wurde im Dezember 2015 geändert, als die Rechte bei den Wahlen in die Nationalversammlung die Mehrheit errang, ein Ereignis, das Maduro dazu brachte, jede Möglichkeit von Neuwahlen auszuschliessen. Es handelt sich bekannterweise um einen plebiszitären Bonapartismus, der, da er das Plebiszit verhindert, nichts ist. Das ist der Grund, dass der Madurismus heute nur mehr auf Grundlage einer massiven staatlichen (und parastaatlichen) Repression überlebt, einem Parteiapparat mit starken Zügen eines Klientelismus (wo der, der geht, verliert) und dem Gebrauch und Missbrauch einer starken chavistischen Ikonografie. Chávez ist hier, blickt vom Himmel herab, und dies ist keine Metapher; an jedem öffentlichen Gebäude oder Bau des Plan Vivienda sind auf seinem höchsten Teil die Augen des Expräsidenten gemalt, wie ein «Gründervater» der «Sicherheit» verleiht und dich auch kontrolliert.

«Hier spricht man nicht schlecht über Chávez», kann man riesigen Plakaten lesen, die an einigen öffentlichen Geäuden hängen; dies ist auch das Programm, das sich der Vizepräsident des PSUV, Diosdado Cabello zu eigen gemacht hat. Diese Losung (vielleicht ohne es zu wollen) enthält implizit ihr Gegenteil: «Hier kann man schlecht über Maduro sprechen», was in aller Deutlichkeit die Schwäche der gegenwärtigen Regierung offenlegt.

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Nach der argentinischen Krise von 2001 besuchte ein respektloser Hugo Chávez das Land und trat an der Universität an der Plazo de Mayo in Buenos Aires auf. Es fehlte ihm noch die lange Amtserfahrung als Präsident, er sprach jedoch vor einem begeisterten Publikum bereits von Sozialismus und der «neuen und originellen» Form der Durchführung einer Revolution. Plötzlich wurde er ernst, blickte zu den Zuhörern und sagte in etwa folgendes: ich hoffe nur, dass wenn einst die letzte Stunde schlägt ich nicht wiederholen muss was Simón Bolívar sagte, als er den Kampf seines Lebens gescheitert sah. Ich hoffe, nicht sagen zu müssen «ich habe das Meer gepflügt», wie es der Befreier am Ende seines Lebens tat.

Ironie der Geschichte. Fünfzehn Jahre später zeigt die Regierung Maduro auf brutalste Form das vollkommene Scheitern der nationalistischen und populistischen bürgerlichen Projekte in der Region.

Heute stehen die Militärs im Zentrum jeder politischen Lösung in Venezuela. Parallel entwickelt sich ein starker interner und äusserer Druck für irgendeine Übergangslösung. Nach 18 Jahren Chavismus bleibt der venezolanischen Arbeiterklasse und Bevölkerung keine progressive Option mehr, weder in der Vertiefung eines repressiven Madurismus noch eines Eingreifens der Militärs in der Hand der Rechten oder eines Übergangs zu einer stabileren Regierung, deren Ziel nur darin liegen kann, die bereits erduldeten Leiden zu festigen und zu vertiefen.

Quelle: laizquierdadiario… vom 12. Juli 2017; Übersetzung aus dem Spanischen durch Redaktion maulwuerfe.ch

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