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Die Frauen- und Familienpolitik der Bolschewiki

Eingereicht on 10. November 2017 – 15:49

Auszug aus: Sowjetunion 1921-1939 – von Lenin zu Stalin, Materialien des KB, Hrg. Vorbereitungsgruppe des Kommunistischen Bundes (KB), Hamburg o.J., S.11-19

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Direkt nach der Oktoberrevolution und in den zwanziger Jahren wurden erste Maßnahmen für die Gleichstellung der Frau ergriffen und diverse Experimen­te durchgeführt: auf der juristischen Ebene wurden über „Dekrete“ den Frauen gleiche Rechte zugestanden wie den Männern, über die Öffnung sämtlicher Bildungswege für Frauen hatten sie Zugang zu allen Berufen, es wurden au­ßerdem Anstrengungen unternommen, die Frauen in die Produktion einzubeziehen und sie über die „Frauenabteilung“ für den politischen und den sozia­len Kampf zu gewinnen.

Als eines der ersten Dekrete wurde bereits 1917 die Ehe dem Zugriff der Kirche entzogen, die Scheidung wurde erleichtert und 1926 die registrierte Ehe der nichtregistrierten gleichgestellt. Anfang 1918 wird in allen Schulen der Gemeinschaftsunterricht zur Pflicht, die Noten werden abgeschafft, der Zugang zu den Universitäten von keinerlei Schulabschlüssen abhängig gemacht. Be­sonders während der Zeit des Kriegskommunismus wird versucht, Frauen für die Arbeit in allen, auch den „männerorientierten“ Branchen zu gewinnen. Die Einrichtung von Kantinen und Kinderkrippen wird zur Entlastung und Freiset­zung der Frauen für die Arbeit gefordert. Diskussionen um das „Novyj byt“, um „neue Formen des Alltagslebens“, nahmen einen breiten Raum ein, auch wenn eine „Mangelwirtschaft“ die vorherrschende alltägliche Erfahrung der Bevölkerung war. Zwar wurde die Ehe dabei in Frage gestellt, es gelang jedoch nicht, z.B. an ihre Stelle etwas anderes zu setzen. Ansätze einer „neuen so­zialistischen Moral“, wie sie z.B. von Alexandra Kollontai entwickelt wurden, waren stark umstritten, teilweise auch demagogischen Angriffen ausgesetzt und verschwanden Ende der zwanziger Jahre ganz aus der gesellschaftlichen Diskussion.

In den ersten Jahren nach der Revolution wurden verschiedene Experimen­te durchgeführt, die die Frauen von der Hausarbeit befreien und von der Kin­dererziehung entlasten sollten. Ziel sollte sein, die Frau aus ihrer „stumpfsin­nigen Kleinarbeit“ zu befreien und ihr so Freiraum zu verschaffen, damit sie sich in das gesellschaftliche Leben und in die Produktion einbringen konnte. Die alten Verhältnisse sollten revolutioniert – tatsächlich verändert werden: So sollte an die Stelle von Haushalt, Kindererziehung etc. ein System von öffent­lichen sozialen Einrichtungen gestellt werden.[i]

Die wirtschaftliche Lage ließ allerdings nur einen geringen Spielraum für die Einrichtung all der Strukturen, die notwendig gewesen wären, um die Frauen wirklich von ihrer Doppelbelastung zu befreien. Man muß sich auch fragen, ob das vorherrschende Bewußtsein dafür ausreichend war und auch entwickelt wurde, um diesen Maßnahmen den notwendigen Nachdruck zu verleihen. So waren es während der NEP, einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit insgesamt sehr hoch war, als erste die Frauen, die in übermäßig hohem Maß davon be­troffen waren. Proteste bzw. Maßnahmen dagegen sind uns nicht bekannt.

In einer kleinen Untersuchung über die „Fragen des Alltagslebens“  kommt Trotzki 1923 zu dem Ergebnis: „Eine politische Idee einerseits und das Alltagsleben andererseits ist aber zweierlei. Die Politik ist elastisch, das Alltagsleben aber ist unbeweglich und widerspenstig.“ (S. 36) „Das Alltags­leben ist viel konservativer als die Wirtschaft, unter anderem auch deshalb, weil es noch weniger bewußt anerkannt wird als letztere.“ (S. 55) Sein Fazit: „Die politische Gleichheit zwischen Mann und Frau im Sowjetstaat herzustel­len – das war eine Aufgabe, die einfachste. Die Gleichheit des Arbeiters und der Arbeiterin innerhalb der Produktion in der Fabrik, im Werk, in den Gewerk­schaften herzustellen, so daß der Mann nicht die Frau verdränge – diese Aufgabe ist bereits eine viel schwierigere. Aber die wirkliche Gleichheit zwi­schen Mann und Frau innerhalb der Familie herzustellen – das ist eine uner­meßlich schwierigere Aufgabe, die die größten Anstrengungen in der Rich­tung der Revolutionierung unseres ganzen Lebens erfordert.“ (S. 56)

Im Folgenden wollen wir, soweit es die uns zugängliche, nicht sehr umfang­reiche Literatur zuläßt, die Frauen- und Familienpolitik der zwanziger Jahre darstellen.

Frauen in der Produktion

Bereits 1914 waren 30 Prozent der Beschäftigten in der russischen Industrie Frauen. Bedingt durch den Ersten Weltkrieg stieg ihr Anteil bis 1917 sogar auf 40 Prozent.

Im Oktober 1917 führte die Revolutionsregierung den Achtstundentag ein sowie eine Reihe von Frauenschutzbestimmungen: das Verbot der Nachtar­beit, der Arbeit unter Tage und das Verbot von Überstunden. Frauen wurde ein sechzehnwöchiger bezahlter Mutterschaftsurlaub gewährt und geregelte bezahlte Stillzeiten. Jessica Smith berichtet aus dieser Zeit, daß die Dekrete „einen größeren Eindruck auf die Arbeiterinnen gemacht zu haben (schei­nen) als jede andere Veränderung seit der Revolution.“[ii]

Arbeitspflicht für Frauen

Zugleich bestand Arbeitspflicht. Während des Kriegskommunismus wurde die bestehende Arbeitspflicht noch verschärft: z.B. zwangsweiser Einzug zum Ern­teeinsatz, Straßenbau etc. Diese Verpflichtung, entstanden vorrangig aus der wirtschaftlichen Notlage, brachte den Frauen aber auch eine stärkere Aner­kennung im Produktionsprozeß. Im Dezember 1920 faßte der Allrussische Rä­tekongreß einen Beschluß, der die effektivere Ausnutzung der weiblichen Ar­beitskräfte zum Thema hatte. Er liest sich aus heutiger Sicht fast wie ein För­derungsprogramm zur Gleichstellung der Frau. Nachdem festgestellt wird, „daß mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Räterepublik aus Frauen, Ar­beiterinnen und Bäuerinnen, besteht, und daß die Durchführung der vorge­sehenen… wirtschaftlichen Pläne nur bei entsprechender Nutzung weiblicher Arbeitskräfte möglich ist,“ [iii] werden als Maßnahmen die Einbeziehung von Frauen in verantwortungsreiche Bereiche – die Wirtschaftsplanung und -Orga­nisierung, die Werkkomitees und die Verwaltung der Gewerkschaften – vorge­schlagen. Als weiteres wird die Unterstützung von Projekten, die Arbeiterin­nen in Selbstinitiative eingerichtet hatten (Wohnkommunen, Flickstuben, Ge­nossenschaften für das Saubermachen, Kinderkrippen etc.) von den örtlichen Sowjets verlangt. Diese Projekte werden als „Reformen eines Lebensstils auf kommunistischer Grundlage“ bezeichnet und damit als allgemein erstrebens­wert anerkannt. Ferner wird das Allrussische Zentrale Vollzugskomitee, das für alle Republiken zuständig ist, damit beauftragt, selbst aktiv zu werden und Vorgaben zur Vergesellschaftung der Hausarbeit und der Kindererziehung auszuarbeiten.

Auf dem Hintergrund der lediglich gesetzlich garantierten Gleichstellung von Mann und Frau ist die Begeisterung, mit der A. Kollontai diesen Beschluß auf­genommen haben soll, verständlich. Er verpflichtete staatliche Organe, im Sinne der Gleichberechtigung aktiv zu werden, und wertete die Eigeninitiative der Arbeiterinnen auf.

Andererseits enthielt der Beschluß des Rätekongresses aber auch Formu­lierungen wie die, daß Frauen von ihrer „unproduktiven Arbeit im Haus und bei der Sorge für die Kinder „befreit werden müßten, weil sie für den wirtschaft­lichen Aufbau des Landes gebraucht würden.

Solange Hausarbeit und Kindererziehung allzu sehr als in der Verantwortung der Frau stehend gesehen und nur in bestimmten Situationen – Arbeitskräfte­mangel – zur Gemeinschaftsaufgabe wurden, konnte die alte Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau nicht überwunden werden. Jede Änderung der wirt­schaftlichen Prioritäten konnte zur Umkehrung der emanzipatorischen Tendenz führen.

Arbeitslosigkeit

Mit Beginn der NEP setzte sich das alte Rollenverhalten in der Gesellschaft wieder weitgehend durch.

Die Rote Armee wurde demobilisiert, durch die Wiederbelebung der Indu­strie strömte die Bevölkerung vom Dorf zurück in die Städte, durch die Einfüh­rung der wirtschaftlichen Arbeitsführung wurden Betriebe geschlossen. Die entstehende Arbeitslosigkeit traf besonders die Frauen, jedoch waren sie in die Aufwärtsentwicklung, die Mitte der zwanziger Jahre einsetzte, kaum ein­bezogen. Während bei den Männern sich die Beschäftigungszahlen gegen Ende 1928 im Vergleich zur Vorkriegszeit verdoppelten, pendelten sie sich bei den Frauen erst 1928 wieder bei den Vorkriegszahlen ein! Dabei gingen den Frauen in der Zeit der NEP auch die Plätze wieder verloren, die sie sich in den „männerorientierten“ Branchen erobert hatten, z.B. Leichtmetall 1921 17,8 % Frauen, 1928 10,3 %. In der traditionell Frauen zugeordneten Textilindustrie konnten sie ihren Anteil halten, jedoch nicht steigern. Da die Arbeitslosigkeit vor allem die unqualifizierten Arbeiter betraf, waren die Frauen davon stärker betroffen, die Zahl der arbeitslosen Frauen war z.B. 1923 genauso hoch wie die der arbeitslosen Männer, ihr Anteil an der Beschäftigung betrug jedoch nur 29 %.

Abbau von Arbeitsschutzrechten

Von Seiten der Regierung wurde in dieser Zeit unserer Kenntnis nach nichts zum Schutz der Frauen getan, im Gegenteil. Auf Anraten des 6. Gewerkschafts­tages wurde 1925 als eine Maßnahme gegen die Massenarbeitslosigkeit von Frauen die Aufhebung des Verbots von Nachtarbeit beschlossen. Aus anderen Quellen geht hervor, daß in der Praxis schon lange die Schutzbestimmungen für Frauen aufgehoben waren. So mußte z.B. per Resolution auf dem 8. Ge­werkschaftstag 1928 durchgesetzt werden, daß „schwangere und stillende Mütter nicht zur Nachtarbeit zugelassen werden. “ [iv] Ebenfalls 1928 machte eine Parteiresolution darauf aufmerksam, daß in den Bergwerken im Donbas­becken Frauen unter Tage arbeiteten. Es hat den Anschein, daß besonders in den Gewerkschaften Frauen als Konkurrentinnen für die Männer gesehen wurden und, da die Gewerkschaften in den Betrieben großen Einfluß hatten, Frauen benachteiligt wurden. 1923 erschien von A. Rjasanowa ein Buch ,,Frauenarbeit“, in dem den Frauen angeraten wurde, gerade in „Männerberu­fen“ nicht übereifrig zu sein und keine „Überlegenheit“ gegenüber den Männern zu demonstrieren, da dies nur „Verärgerung unter den Männern her­vorrufe.“ [v] Sie wandte sich auch gegen die Überprüfung der Liste der für Frauen nicht zugelassenen Arbeiten durch das Volkskommissariat. Leider ist dieses Buch nur in Auszügen über eine Rezension von 1933 bekannt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß viele Ansätze, Frauen in die Produk­tion einzubeziehen, in der Zeit der NEP zurückgenommen wurden bzw. sich gar nicht entwickeln konnten. Nimmt man noch hinzu, daß der durchschnittli­che Lohn von Frauen grundsätzlich 1/5 geringer als der der Männer war, so erhalten wir eine sehr negative Bilanz. Inwieweit die noch bis 1927 bestehen­den Frauenräte sich in die schlechten Bedingungen für Arbeiterinnen einge­mischt haben, konnten wir der uns zugänglichen Literatur nicht entnehmen.

Familie und Ehe

Die Befreiung der Familie von äußeren Zwängen durch das Dekret vom De­zember 1917 zur Erleichterung der Scheidung, die Trennung von Familie und Religion – hinzu kam 1926 die Anerkennung der Ehe als Wirtschaftsgemein­schaft – bildeten die Grundlagen der neuen Familie in der Sowjetunion.

Eheschließung wird zur Formalität

Das Dekret über die Scheidung stellte es den Ehepartnern frei, sich aus der Ehe zu lösen. Bei einer einseitigen Willenserklärung zur Scheidung wurde der Partner vom Gerichtstermin benachrichtigt. War er unbekannt verzogen, reichte es, wenn die Scheidungswillige den Termin 2 Monate vorher im Regie­rungsanzeiger (z.B. der Iswestija) anzeigte. Um eine Ehe zu schließen, mußte lediglich der Wille der beiden Eheleute gehört werden, auch das wurde kosten­los registriert. Der Name der Frau konnte zum Familiennamen erklärt werden, was jedoch selten geschah. Der Wunsch, sich kirchlich trauen zu lassen, wurde zur Privatsache der beiden Personen erklärt. Während dies auf dem Lande noch häufig geschah, verzichteten z.B. 1924 in Moskau 71 % der Paare auf die kirchliche Zeremonie. Damit wurde die Eheschließung und -Scheidung zur bloßen Formalität und hatte nicht mehr die Funktion, der Familie Stabilität zu verleihen.

Aufhebung des kirchlichen Sittenkodex

Einher mit der Gleichstellung von Mann und Frau in den Dekreten ging die Ent­machtung der Kirche. Auch die Revolution von 1905 hatte daran nichts geän­dert, daß nur kirchlich geschlossene Ehen anerkannt wurden. Bis 1917 konnten die Ehen nur mit Einwilligung der Eltern oder eines Vormunds ge­schlossen werden. Die Ehefrau besaß keinen eigenen Paß. Eheschließungen mit „Juden, Heiden und Ketzern“ waren verboten. Entsprechend dieser Be­stimmung waren die Frauen dem Ehemann total ausgeliefert. Das Recht des Ehemannes, seine Frau zu schlagen war im Domostroj, einem Sittenkodex aus dem 16. Jahrhundert, schriftlich festgehalten und wurde juristisch nicht ver­folgt. Im zaristischen Rußland waren uneheliche Kinder weder mit dem Vater noch mit der Mutter verwandt und hatten entsprechend keine Rechte. Selbst die Registrierung der Ehen, der Geburten und der Todesfälle lag ausschließ­lich in den Händen der Kirche. Der Staat hatte damit nichts zu tun und also auch keinen Überblick.

Die Ehe wird zur Privatsache

Nach dieser einschneidenden Einflußnahme auf die Ehe erklärten die Bolsche­wiken sie weitgehend zur Privatsache und griffen über die Liberalisierung der Gesetzgebung hinaus nicht mit einer neuen Moral ein. 1923 sammelte Trotzki Erfahrungsberichte zum Alltagsleben und stellte fest, daß sich das Privatleben relativ resistent gegenüber Veränderungen zeige und das trägeste Element der Revolution sei. (Siehe auch in der Diskussion um das neue Ehegesetz bei F. Halle im Dokumentenanhang [vi])

Anerkennung der Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft

Das Ehegesetz von 1917 sah zunächst eine Gütertrennung mit Unterhalts­pflicht gegenüber dem schwächeren Partner und den Kindern vor. Bei unehe­lichen Kindern konnte die Vaterschaft eingeklagt werden. Es zeigte sich beim Ansteigen der Arbeitslosigkeit, daß die ledigen Mütter besonders schutzbe­dürftig waren und ihre schwierige Situation nach der Scheidung nicht berück­sichtigt worden war. Dies wurde 1926 in einem Gesetzentwurf für ein neues Ehegesetz aufgegriffen, der vom Volkskommissar für Justizwesen Kursky vor­gelegt wurde. Er enthielt hauptsächlich die Gleichsetzung der registrierten und der De-facto-Ehe und die Einführung der Gütergemeinschaft in die Ehe. Damit sollte der Anteil der Hausarbeit während der Ehe am gemeinsam erwirtschaf­teten Vermögen anerkannt werden.

Da auch innerhalb der Partei Widersprüche zu der Neuregelung des Ehe­gesetzes bestanden, wurden die Entwürfe ein Jahr lang auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Einrichtungen diskutiert. Es zeigte sich, daß Widersprüche unterschiedlicher Art vorhanden waren. Auf dem Lande befürchteten die Bauern eine Aufteilung des Besitzes durch die Anerkennung der Hausarbeit bei der Erwirtschaftung des gemeinsamen Eigentums. Außerdem argwöhnten sie, daß bei einer Schwächung der Familie durch die Erleichterung der Schei­dung und die Anerkennung der De-facto- Ehe die Zahl der Erbberechtigten zunehmen würde. Es setzte sich die fortschrittliche Tendenz gegenüber den konservativen Positionen der Bauernschaft durch. „Wir wollen nicht am Schwanzende hinterherbummeln“, entschied der Richter Vinokurows [vii]. Die am Besitztum festgemachte Bindung an die Familie konnte die sowjetische Gesetzgebung überwinden. Vor den ökonomischen Vorteilen, die die Arbeits­teilung zwischen Mann und Frau oder auch die Doppelbelastung der Frau bringt, machte auch sie, nicht zuletzt gezwungen durch die wirtschaftlichen Bedingungen, halt, indem sie die Familie als Wirtschaftseinheit anerkannte.

Die Kinder waren der Grund, die Familie zu erhalten

  1. Kollontais Vorstellungen der wirtschaftlichen Absicherung über einen Ver­sicherungsfonds, die eine weitere Auflösung der Familie bewirkt hätten, fanden in der Diskussion 1926 keine Mehrheit. Eingehend auf die teilweise ungeregel­ten Familienverhältnisse, regte sie einen allgemeinen Versicherungsfonds aus Beiträgen der arbeitsfähigen Bevölkerung an, der die individuellen Alimenteersetzen und die Frauen zunächst bis zum ersten, später bis zum vierten Le­bensjahr des Kindes unterstützen sollte. Sie wollte die Kindererziehung nicht der sich auflösenden Familie überlassen.

Stattdessen wurden, wie im Familienkodex von 1917 festgelegt, die eheli­chen und die unehelichen Kinder durch Anspruch auf Alimente und Erbschaft ihren Vätern gegenüber gleichgestellt. Die Registrierung der Ehen und die Va­terschaftsfeststellungen dienten im wesentlichen dieser Absicherung der Kinder. Sie waren der Grund, die Familien zu erhalten. Die Alimenteverpflich­tung machte ein Drittel des Lohnes aus, bei Nichtzahlung drohten Gefängnis und Geldbußen. „Solange aber der Staat die Sorge um die Kinder noch nicht übernehmen kann, hält die Ehe an der Form eines Wirtschaftsvertrages fest, die das Gesetz bekräftigt“, stellte damals Staatsanwalt Krylenko fest. [viii]

Entsprechend reagierten die Frauen in Leserbriefen und Delegiertenver­sammlungen um die Reform des Ehegesetzes. Sie bestanden auf den Alimen­ten und forderten sie lieber direkt von den Männern, als sich von einer abstrak­ten Konstruktion, wie die Verstaatlichung der Alimente über einen Versiche­rungsfonds, abhängig zu machen. Die Ablehnung zeigte das noch bestehen­de Mißtrauen der Frauen: Statt sich auf neue Perspektiven und Strukturen ein­zulassen, griffen sie lieber auf bekannte Mechanismen zurück. Die Alimente waren wohl auch ein notwendiger Schutzschild gegenüber den Männern, um nicht ganz allein mit den Kindern dazustehen. Sie lehnten Kollontais Vorschlag ab, weil sie eine größere Verantwortungslosigkeit der Männer fürchteten: „Was haben alle Männer mit der Zeugung eines Kindes zu tun? … Wozu soll eine verlassene Mutter der Allgemeinheit zur Last fallen?“ (Siehe Auszug aus F. Halle im Dokumentenanhang [ix])

Die Frauen bleiben in der Familie

Auf jeden Fall verlagerte das am 1.1.1927 in Kraft getretene Gesetz über Ehe, Familie und Vormundschaft die wirtschaftliche Absicherung der Frau und der Kinder in die Familie – ein zu der Zeit wahrscheinlich wichtiger Schutz der Frauen.

Die ökonomische Absicherung der Frau sah so aus, daß für die Dauer der Ehe gegenseitige Unterhaltspflicht bestand. Hinzu kam, daß auch nach der Scheidung für den ökonomisch schwächeren Teil, meistens die Frau, bei Ar­beitsunfähigkeit ein Jahr und bei Arbeitslosigkeit ein halbes Jahr die Unter­haltspflicht fortbestand. Die Höhe legte ein Gericht fest. Dieses Recht wurde per Antrag auch De-facto-Ehen zugestanden.

Berichtet wird [x] von einer relativen Autonomie der Volksgerichte gegen­über den festgelegten Rechten. Ihre Entscheidungen folgten dem damaligen Rechtsempfinden, so wurden die Kinder in der Regel den Frauen zugespro­chen.

Moralvorstellungen

Alexandra Kollontai entwarf in ihren Romanen eine utopische Moral. Sie ließ die Shenja in ihrer Erzählung „Die Liebe der drei Generationen“ mit folgender Position zu Wort kommen: „Nun da merkt man eben, daß irgendjemand einem besonders gut gefällt. Aber zu verlieben, verstehen Sie, dazu hat man keine Zeit! Denn kaum, daß man sich dessen bewußt geworden ist, schon wird er an die Front abberufen oder in eine andere Stadt versetzt. Oder man ist selber so beschäftigt, daß man den Mann vergißt…‘[xi]

Eine neue Moral für Berufstätige

Durch den Krieg, den Bürgerkrieg und wahre Völkerwanderungen in den Hun­gerjahren waren die Familien auseinandergerissen worden. Schon vor dem Krieg hatte der hohe Anteil der Frauen an der Arbeiterschaft tendenziell zur Auflösung der Familie geführt. Im Krieg war dieser Anteil noch weiter angestie­gen. Durch die Stadtflucht nach dem Krieg blieb ein Arbeitskräftemangel in den Städten, der die Beschäftigungschancen der Frauen erhöhte.

Diese Erscheinung griff Kollontai auf und beeinflußte die gesellschaftliche und politische Diskussion 1918 durch ihre Theorie zur „freien Liebe“ in „Die neue Moral und die Arbeiterklasse“. [xii] Die Frauen sollten jederzeit zwischen einer intensiven Beziehung und anderen wichtigen Dingen alternativ wählen können. Das Hauptanliegen dieser Zukunftsvision war das Aufbrechen der Ge­schlechterrollen. Alexandra Kollontai entwarf das Bild der ledigen Frau, die sich nicht in Liebesgeschichten verliert, sondern Selbstbestätigung auch in anderen Bereichen, speziell der Berufstätigkeit, sucht und manchmal wählen muß. Sie greift diesen Konflikt in ihrer Erzählung „Die Frau im Umbruch“ auf. Hierin macht der Mann der Frau folgenden Antrag: „ „Also morgen nach dem Essen fahren wir deine Bücher holen. Die Regale stellen wir hier auf. Und du wirst meine kleine Hausfrau sein. Hörst Du? Ja“, kommt es verzagt. Die Bücher holen. Das bedeutet ganz hierher zu ziehen. … Und die Bibliothek? Das ist das Ende der wissenschaftlichen Arbeit. Bis zum Januar wird sie es nicht schaffen.“ [xiii]

Durchaus widersprüchlich und ohne den Frauen Vorschriften zu machen, eröffnet Alexandra Kollontai ihnen eine Spannbreite von Lebensmöglichkei­ten: von der Askese bis zur sexuellen Freizügigkeit. „Damals dieser Monat. Das war Glück. Was hatte das Glück ausgemacht? Seine Liebe oder ihr Schreiben. Damals dachte, fragte man nicht. Es war einfach nur schön erhe­bend froh. Und man fühlte das Sein mit allen Fasern,…“ [xiv]

Mit der Schwierigkeit, realem Leben vorzugreifen, entwirft sie eine neue Moral, die zwar kaum konkrete Umsetzungschancen hatte, aber bis zum heu­tigen Tag Gesprächsstoff bietet.

Die alte Moral hat Bestand

Anfang der zwanziger Jahre wurde die Diskussion hauptsächlich auf der Roman- und Leserbriefebene geführt. Es läßt sich kaum etwas über mutige In­terpretinnen sagen. In gewisser Weise müssen wir die Ungerechtigkeit der Ge­schichte an den Frauen wiederholen, indem aus Unkenntnis das Vergessen und Übersehen bestätigt wird. Die Lebensfähigkeit von A. Kollontais Vorstel­lungen kann auch deshalb nicht überprüft werden, da sie zwar Anfang der zwanziger ein Massenpublikum hatte, ihre Bücher aber in den dreißiger Jahren nicht mehr aufgelegt wurden. Bis heute sind ihre Schriften nicht vollständig er­hältlich.

Alexandra Kollontai wurde 1922 in der Leitung der Frauenabteilung der KPdSU von Frau Ssmidowitsch abgelöst. Diese sah die Notwendigkeit, in die Diskussion einzugreifen und einige Auswirkungen der Freizügigkeit zu kritisie­ren: „Jede kleine Komsomolka, weibliches Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes, auf die die Wahl dieses oder jenes Burschen oder Männchens fällt, muß ihm zu Willen sein, sonst ist sie Kleinbürgerin. [xv] Ein anderes Mitglied der Frauenabteilung: „Winogradskaja zählt eine lange Reihe von Problemen sowjetischer Frauen auf: die konkreten Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen, die langsame Lösung von der Religion, die Beteiligung des Mannes an der Hausarbeit, die beunruhigende Zahl der Abtreibungen sowie der Scheidungen, die bittere Armut von Frauen mit Kindern, die von ihren Männern verlassen wurden, die Prostitution. Aber all diese Licht- und Schattenseiten unseres proletarischen Alltags (byt) interessieren Genossin Kollontai nicht…. Des Rätsels Lösung liegt darin, daß wir eine Kommunistin mit einer tüchtigen Prise feministischen Plunders vor uns haben“. [xvi]

Diese Warnungen scheinen eher vorbeugend gewesen zu sein, denn kon­krete Daten aus einer Untersuchung Batkis 1922 an der Universität Moskau zeigen ein bekanntes Bild, daß 90 % der Frauen der Geschlechtsverkehr gleichgültig war, 1/3 davon ihn sogar eklig fand. 70 % der Frauen wollten Be­ziehungen aus Liebe und 55 % lebten aus Mangel daran enthaltsam. [xvii] Mag ein Teil dieser Antworten durch die Art der Fragestellung hervorgerufen worden sein, so kann man doch feststellen, daß die Erwartungen und Reak­tionen der Frauen eher traditionell blieben. Vordergründig das Verhalten der Männer, aber auch eine spezielle Ideologie, die z.B. die Sexualität der Frau stark mit der Mutterschaft verband, verhinderten die sexuelle Entfaltungsmög­lichkeit der Frauen. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine neue Her­angehensweise und Moral waren noch nicht gefunden (Siehe auch Lenins Brief an Ines Amand im Dokumentenanhang).

Sexualmoral und Wohnungsnot

Überschattet wurden alle Überlegungen und Versuche, das Familienleben neu zu organisieren, von der schlechten Wohnsituation in der Sowjetunion. Die Wohnungen waren so überbelegt, daß jedes Zimmer von einer Familie bewohnt wurde, also oft 3, 4 oder mehr Personen in einem Zimmer lebten.

Jede Familie wirtschaftete für sich, hatte ihren Primuskocher in der Küche und viele Reibungspunkte mit den Nachbarn. In den Kommunen wurde versucht, diese Ordnung zu durchbrechen, indem die Wohnungen anders aufgeteilt und zusammen gewirtschaftet wurde. Aber auch hier war die enge Belegung prägend für viele Auseinandersetzungen. Wo sollten sich beispielsweise Paare lieben, wenn es nur Gemeinschaftsräume gab, was wenn die Ehepaare Kinder bekamen? Es standen jedem vor dem Gesetz nur 3 qm Wohnraum zu. (Bei uns sind es 10 qm, der Durchschnitt liegt aber in der heutigen BRD bei 25 bis 30 qm).

Auch in den Planungen der Wohnkombinate ging man von nicht mehr als 5 bis 9 qm pro Kopf aus, da das private Wohnen reduziert, die Hausarbeit ver­gesellschaftet und die Kinder entweder in Kinderetagen oder Kindersektoren in den Wohnhäusern untergebracht werden sollten. Nadeshda Krupskaja, Mit­glied im Volkskommissariat für Bildung, entwickelte dieses Modell, da die el­terlichen Gefühle nicht unterdrückt werden sollten, sondern die Eltern zusam­men mit den Pädagogen zur Erziehung befähigt werden sollten.

Eine totale Neuordnung der Städte wurde 1930 vom ZK der KPdSU aus wirt­schaftlichen Gründen abgelehnt. Es sprach sich gegen eine vollständige und unverzügliche Vergesellschaftung aller Seiten des Alltagslebens aus, wie Er­nährung, Wohnraum, Erziehung der Kinder, Alltagsbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern sowie gegen ein Verbot der individuellen Speisezuberei­tung. Es griff „linke Phrasen“ in der Presse an, die künstliche Lebenskommu­nen planten, und sah sich vielmehr vor der Aufgabe, zunächst die 500.000 Ob­dachlosen in Moskau mit Wohnraum zu versorgen [xviii].

Tatsächlich gab es wegen der Raumknappheit keine abgeschlossenen Wohnungen mehr. Aber eine Überbelegung mit 3,34 Quadratmeter Raum pro Person läßt auch in organisierten Kommunen keine lebbaren Wohnverhältnis­se entstehen. Erklärbar, daß bis heute das Ergattern einer Wohnung in aktu­ellen Interviews mit Sowjetbürgern eine wichtige Rolle spielt.

Mutterschaft und Erziehung

Schon vor der Revolution konzentrierten sich die Forderungen der russischen Arbeiterinnen auf den Bereich des klassischen Mutterschutzes. A. Kollontai schrieb 1916 ihr Buch „Gesellschaft und Mutter“. Es blieb die einzige theore­tische Arbeit zu diesem Thema.[xix] Nach der Revolution wurden umgehend entsprechende Dekrete erlassen. In einer Regierungserklärung wurde die So­zialversicherung für Schwangere angekündigt. Im Dekret zum Acht-Stunden­tag im Oktober 1917 war das Verbot der Nachtarbeit, der Untertagearbeit und von Überstunden für Frauen enthalten. Drei Wochen später wurde im Dekret über Krankenversicherungen 4 Monate Schwangerschaftsurlaub und Stillpau­sen beschlossen.

Das Dekret vom 28.12.1919 schrieb fest: Das Gebären von Kindern ist eine soziale Funktion der Frau. Im Januar 1918 gründete A. Kollontai in ihrer Funktion als Volkskommissarin für Wohlfahrtspflege die Abteilung für den Säug­lings- und Mutterschutz, die Verordnungen mit umfangreichen Ergänzungen im Sinne des klassischen Mutterschutzes erließ. Auf der 1. Allrussischen Ar­beiterinnenkonferenz 1918 war neben der Gründung der Frauenabteilung der Mutterschutz das Hauptthema. Die Mütter wurden ermutigt, die angebotenen Hilfen nicht als Gnade aufzufassen. Kinder seien keine Strafe Gottes, sondern gewollt, und die Mütter seien Bürgerinnen, denen die Sorge um die Kinder ab­genommen werden müße. Die sehr weitgehenden Verordnungen wurden nicht immer eingehalten. Kampagnen warben für sie.

Mutterschaft

Die Gleichstellung der Frau in der Erziehung stärkte die Mutterrolle. Auch das Ehegesetz enthielt einige Schutzfunktionen direkt für die Mütter. Z.B. konnte eine uneheliche Mutter den Vater innerhalb einer Frist registrieren lassen. Er hatte einen Monat Zeit, Einspruch einzulegen, und mußte innerhalb eines Jahres klagen, wenn er die Vaterschaft nicht anerkannte, Nichtreagieren wurde als Zustimmung ausgelegt. Scheidungsverfahren liefen meist am Wohnort der Mutter. Hinzu kamen die schon erwähnten Alimentenregelungen.

Die Aufhebung des Adoptionsverbotes schon 1920/21, das zunächst erlas­sen worden war, um Mißbrauch mit Kindern als Arbeitskräften und in Erb­schaftsangelegenheiten zu verhindern sowie den Ansatz der gesellschaftli­chen Erziehung gegenüber der Kleinfamilie zu stärken, wirkte ebenfalls wie „ein Sieg der Mutterliebe“. Nur durch sie konnten die vielen verwahrlosten Kinder nach dem Krieg und Bürgerkrieg wieder versorgt werden.

Tatsächlich hatten die spärlichen Maßnahmen zur Kollektiverziehung die Familie in dieser Hinsicht kaum ersetzen können. Aufgrund der wirtschaftli­chen Schwierigkeiten gab es 1927 erst 150.000 Kindergartenplätze (die Angaben variieren in den verschiedenen Veröffentlichungen) bei 10 Millionen Kindern. Auch zögerten die Frauen, die oft zu den Kindern die einzigen „be­friedigenden Beziehungen“ (vergl. A. Holt, S. 96 – im Dokumentenanhang) hatten, sie wegzugeben, und bremsten die Entwicklung zur Vergesellschaf­tung der Erziehungsaufgaben. Lediglich die Sommercamps, die die Familien­erziehung nicht in Frage stellten, hatten einen Boom.

Matriarchalische Entwicklung?

Die Mütter erhielten in der Realität auch noch die bisherigen Vaterfunktionen dazu, die Väter sollten durch den Staat ersetzt werden. Fast bekamen die Vor­stellungen von Kollontai durch die verzögerte Entwicklung der Kollektiverzie­hung eine matriarchalische Tendenz. Ihre Idee der Mutterschaftsversicherung, mit der der Konflikt Beruf und Mutterschaft im Übergang zur Neuen Zeit gelöst werden sollte, war eine Art Verstaatlichung der Alimente. Gleichzeitig sah sie darin eine Vorreiterolle für die neue Gesellschaft, die einen neuen Menschen­typus hervorbringen würde.

Der Mutterschutz sollte den Übergang von der Individual- zur Kollektiverzie­hung erleichtern. Die freie Mutterschaft sollte der Frau keine Last sein, die sie dann auf unwürdige Art mit den Männern zu teilen suchte. Pflichtgefühl, Scham und Abhängigkeit bevölkerten immer noch die Ehen, die von dieser Art Be­rechnung befreit werden sollten. Dabei hatte sie nicht die Selbstbestimmung der Frau im Blick. Auch für sie war das Kindergebären keine autonome Ange­legenheit der Frau, sondern zählte zu den mütterlichen Pflichten an der Ge­sellschaft. Eine neue Generation sollte den Sozialismus weiterführen, deshalb wurde auch der Entwicklung der Geburtenrate große Aufmerksamkeit ge­schenkt.

Kaum Entlastung durch die Kollektiverziehung

Das jahrelang währende Problem der Besprosonyi (verwahrloste Kinder), die in Banden organisiert zu überleben versuchten, zeigte, daß der grundsätzliche Konflikt Beruf – Familie nicht gelöst werden konnte bzw. die Kollektiverziehung nicht entsprechend entwickelt wurde. Zwar wurde auf das häusliche Milieu zu­rückgegriffen und Familienpatronagen für Heimkinder gefördert, doch waren die Familien durch die Berufstätigkeit der Eltern so weit aufgelöst, daß sie diese Kinder nicht mehr beaufsichtigen konnten. Da aber auch die herkömmliche Mutterrolle nicht in Frage gestellt wurde, war der Weg für Lösungsmöglichkei­ten verstellt.

Freigabe der Abtreibung aus wirtschaftlicher Berechnung

Die Freigabe erfolgte 1920 durch die Verordnung „Über den Schutz der Ge­sundheit der Frau“ [xx] aus ganz pragmatischen Gründen. Es war den Frauen nicht zuzumuten, Kinder zu gebären, die später nicht ernährt werden konnten. Die Abtreibung wurde vom Gesundheitskommissar unter maßgeblichem Druck von Kollontai erlassen. Sie war nicht in dem Sinne wie der Mutterschutz eine Forderung der russischen Arbeiterinnen gewesen. Abtreibung freigeben oder das Abtreibungsverbot aufheben hieß nicht, sie fordern. In der Verordnung „Über den Schutz der Gesundheit der Frauen“ hieß es:

Aber, solange die überkommenen moralischen Gewohnheiten der Ver­gangenheit und die schweren wirtschaftlichen Bedingungen der Gegenwart einen Teil der Frauen zwingen, sich zu einer Operation zu entschließen, be­stimmt das Volkskommissariat für Gesundheitsschutz und das Volkskommis­sariat für Justiz, indem sie die Gesundheit der Frauen und die Interessen der Massen vor unwissenden und gewinnsüchtigen Räubern schützen und indem sie die Methode der Bekämpfung auf diesem Gebiete als absolut zwecklos ansehen:

  1. Die unentgeltliche Vornahme der Operation zwecks Unterbrechung der Schwangerschaft wird in den Sowjetkrankenhäusern, wo ihre größte Un­schädlichkeit gesichert ist, zugelassen.

2.Die Vollziehung dieser Operation wird bedingungslos allen, außer Ärzten, verboten.

  1. Die Hebamme oder weise Frau, die sich der Vornahme dieser Operation schuldig macht, verliert das Recht, ihren Beruf auszuüben, und wird den Volksgerichten übergeben.
  2. Ein Arzt, der die Operation der Fruchtabtreibung in seiner Privatpraxis in gewinnsüchtiger Absicht vorgenommen hat, wird gleichfalls den Gerichten übergeben. (!)“[xxi]

Im Gegenteil, die Verordnung ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß Abtreibung als vorübergehend notwendiges Übel, das bei mehr Wohlstand überflüssig würde, anzusehen war. Auch enthielt der knappe Text kein Wort zur Empfängnisverhütung. Der Mangel an Diskussion einerseits und die stän­digen Hinweise auf schädliche Folgen der Abtreibung andererseits zeigten die widerstrebende Haltung und Gefühle.

Die Aufklärung blieb in den Ansätzen stecken

Neben der praktischen Nutzung gab es auch Ansätze für eine andere Sicht­weise, die Abtreibung nicht als moralischen Verfall, sondern als Bestätigung der weiblichen Persönlichkeit verstand. Kollontai wies auf die befreiende Wirkung der Empfängnisverhütung hin. In dem Staatlichen Institut für Mutter-und Säuglingsschutz wurde 1921 eine wissenschaftliche Zentralkommission zum Studium der Empfängnisverhütung eingesetzt, (vergl. Holt, S. 106ff im Do­kumentenanhang). Dieses Institut erstellte auch Aufklärungsmaterial. Alle Ein­richtungen des Mutterschutzes waren diesem Institut unterstellt. Die Mittel wurden allerdings zusehends knapper. Obwohl die Frauen der Aufklärung wenig Scheu entgegenbrachten, blieb der Kenntnissstand niedrig. Auch die Ärzte waren oft nicht informiert. Die Freigabe der Abtreibung hatte wenig Einfluß auf die Geburtenrate. Bei vielen Männern stieß sie allerdings auf Ableh­nung, vor allem die Verhütungsmittel reichten nicht aus. Es gab zwar finanziel­le und technologische Schwierigkeiten, aber auch das Machbare wurde nicht ausgeschöpft. So gab es erst ab 1927 eine kleine Präservativfabrik, die ihren Umsatz von 250 auf 70.000 Rubel im Jahr 1930 steigern konnte. [xxii]

Nach 3 Jahren wird die Abtreibung wieder eingeschränkt

1923 wurde das Recht auf Abtreibung wieder eingeschränkt. Eine Beratungs­kommission, die Abortus-Troika, entschied über den Abbruch, er mußte in den ersten drei Monaten liegen, wurde beim ersten Kind gar nicht, und nicht mehr als zweimal im Jahr durchgeführt. Ab 1924 wurde die Abtreibung registriert und kostete eine Gebühr. 1929 gab es erneut eine Diskussion um die Abtreibung. In Moskau wurden 1930 170.000 Abtreibungen durchgeführt, dies entsprach ca. einem Viertel der Geburten.

Vergesellschaftung der Hausarbeit – Arbeitsteilung

Im Parteiprogramm von 1919 wurde die Befreiung der Frauen von der veral­teten häuslichen Wirtschaft als Ziel formuliert. Die Vergesellschaftung der Hausarbeit war das meistdiskutierte Thema in der Frauenzeitschrift „Die Ar­beiterin“ (mehr noch als die Frage der kollektiven Kindererziehung). Diese For­derung hatte eine breite Basis in der bolschewistischen Partei. Zur Bestim­mung der Frauenarbeit formulierte Lenin in einer Rede „Über die Aufgaben der proletarischen Frauenbewegung in der Sowjetrepublik“ auf dem vierten allrussischen Kongreß der parteilosen Arbeiterinnen 1919 folgende Grundsät­ze: „Solange die Frau von der Hauswirtschaft völlig in Anspruch genommen ist, bleibt ihre Lage immer noch beengt. Zur vollständigen Befreiung der Frau und ihrer wirtschaftlichen Gleichstellung mit dem Mann bedarf es gesell­schaftlicher Einrichtungen, bedarf es der Teilnahme der Frauen an der allge­meinen produktiven Arbeit. Dann wird die Frau die gleiche Stellung einneh­men wie der Mann…“ [xxiii]

Vermutlich auch aufgrund der Erfahrungen der Frauen auf dem Lande wurde die Rolle der Hausarbeit in der sowjetischen Bevölkerung viel diskutiert und nicht schweigend als Selbstverständlichkeit hingenommen. A. Kollontai for­derte sogar ihre Bezahlung in der Diskussion um das neue Ehegesetz, bei der dann aus wirtschaftlichen Gründen nur die Gütergemeinschaft eingeführt wurde. Selbst in den Überlegungen zur Rationalisierung lag ja eine Anerken­nung der Hausarbeit als Arbeit. Daß eine Aufhebung der isolierten Arbeitsplät­ze und Zusammenfassung möglichst vieler dieser Arbeiten sinnvoll war, wird auf der abstrakten Ebene den meisten eingeleuchtet haben. Arbeitsspeziali­sten würden rationell statt zersplittert die Hausarbeit, Ernährung, Erziehung und das Waschen übernehmen.

Keine konkreten Alternativen zur Hausarbeit

Man ging von einer raschen Realisierung der Vergesellschaftung der Hausar­beit aus. Übergangslösungen wie die Aufhebung der Arbeitsteilung in der Familie wurden gar nicht erst aufgegriffen. Auch in den ersten praktischen An­sätzen im Kriegskommunismus griffen die Bolschewiki auf die traditionellen Fähigkeiten der Frauen zurück und setzten sie in den Bereichen der früheren Hauswirtschaft ein. Alix Holt [xxiv] sieht hierin heute eine Schwächung der For­derung nach Vergesellschaftung der Hausarbeit, weil den Männern die Not­wendigkeit der Übernahme der Hausarbeit – ob im gesellschaftlichen oder im privaten Bereich – nicht deutlich gemacht wurde. Für Lenin war dies der Aus­gangspunkt für Veränderungen: „Und die Schaffung all dieser Einrichtungen ist eine Arbeit, die hauptsächlich von Frauen zu leisten ist… Wir sagen, die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein, und genauso muß die Befreiung der Arbeiterinnen das Werk der Arbeiterinnen selbst sein. Die Arbeiterinnen selbst müssen sich um die Schaffung solcher Einrichtungen kümmern, und diese Tätigkeit wird dazu führen, daß die Frau eine völlig andere Stellung einnimmt als in der kapitalistischen Gesellschaft.“[xxv]

Leider gab es über diese allgemeinen Forderungen hinaus kaum konkrete Vorstellungen und Ideen. Die Menschen waren in dem traditionellen Denken noch so befangen, daß ihnen z.B. in den Kommunen zur Lösung der Hausar­beit oft auch wieder nur Putzfrauen einfielen. Darüber hinaus fehlte der wirt­schaftliche Spielraum. Die Arbeitspflicht und der heroische Kampf ums Über­leben im Kriegskommunismus hatten zunächst zu einer Kollektivversorgung und zur vorläufigen Übernahme von Teilen der Hauswirtschaft geführt.

Aus der Notwirtschaft werden keine Gemeinschaftseinrichtungen

Mit viel Enthusiasmus und befördert durch die Not wurden Volksküchen und andere gesellschaftliche Einrichtungen aufgebaut. 1919/20 wurden insgesamt 12 Millionen Menschen, 90% der Petersburger und 60% der Moskauer, in Volksküchen ernährt. 75.000 Frauen waren in diesen Jahren in der Kollektiv­versorgung tätig. Mit der Einführung der NEP wurden die meisten Fonds für solche Projekte aufgelöst. Es wurden nur noch Genossenschaften gefördert. Trotzki z.B. sprach sich gegen überstürzte administrative Versuche der Kol­lektivierung der Lebensweise aus und hielt das Netz der öffentlichen Versor­gungseinrichtungen schon 1923 für gescheitert und empfahl den Frauen die Gründung von Haushaltskooperativen. Waren einerseits die Finanzen in diesem Bereich sehr knapp, so fehlte es andererseits auch an organisatori­schen Möglichkeiten. Allein mit einem Durchschütteln der Bürokratie und der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, wie Polina Winogradskaja, Mitglied der Frauenabteilung, meinte, war die Vergesellschaftung der Hausarbeit nicht durchzusetzen. Ein Großteil der Bevölkerung hatte die Gemeinschaftseinrich­tungen nur als Notmaßnahme akzeptiert und griff nach Beendigung des Kriegskommunismus lieber wieder zur traditionellen häuslichen Versorgung. Die Zahl der ausgegebenen Mahlzeiten sank beständig. 1925 waren es noch 500.000 und 1926 nur noch 300.000 Mahlzeiten täglich. [xxvi]

Die Konsumbedürfnisse werden zurückgestellt

Aufgrund des Mangels war die Qualität des Essens oft nicht hinreichend gewesen. Auch wurde die Arbeitsweise beklagt, Mißwirtschaft und Schlampe­rei, der rücksichtslose Gebrauch des Arbeitsmaterials, das nicht gebraucht, sondern verbraucht wurde, war zu beobachten. Einen Eindruck von solchen Problemen gibt folgende Schilderung aus dem Jahr 1923 von Larissa Reiss-ner: „Aber alles, was das Alltagsleben der Arbeiter betrifft, ist entsetzlich ver­nachlässigt. Strengste Disziplin und Verantwortungsgefühl gehen Hand in Hand mit einer geradezu phantastischen Schlamperei, mit einer alle Grenzen übersteigenden Sorglosigkeit gegenüber den Bedürfnissen und elementar­sten Forderungen der Arbeiter. Es soll kein Vorwurf sein, der sich nur gegen Kytlym richtet – Kytlym ist in dieser Hinsicht nicht schlimmer als die Industrie­metropole des Urals, als das herrliche Nadeschdinsker Werk. Aber die Partei riskiert durch diese Politik jeden politischen Kredit einzubüßen … Die Kon­sumgenossenschaft. Jeder Arbeiter weiß sehr gut, daß in Gorlowka in diesem Jahr, Schlangen‘ vor den Bäckereien stehen; daß die Bergleute, von der Arbeit zurückgekehrt, herumlaufen müssen, um den Mann zu suchen, der verpflichtet ist, ihnen ihr Pfund Brot zu geben. Sie wissen auch, daß man in der ganzen Siedlung viele Brotverkaufsstellen errichtet hat, die aber ge­schlossen bleiben mußten, weil es angeblich an den notwendigen Waagen fehlte. Jeder Arbeiter würde doch mit Vergnügen seine eigene Waage herge­geben haben, überdies gibt es Waagen im Magazin der Zechenverwaltung. Zum Teufel, wenn der Arbeiter seine Pflichten ebenso leicht nehmen würde, dann würde man ihn sofort hinauswerfen! Es geht doch wirklich nicht an, daß man das Hungerjahr 1918 dort wieder in Szene setzt, daß man Frauen und Kinder die Nächte vor der Schwelle des Brotladens verbringen läßt. In den Stollen und Strecken, in allen Versammlungen steht ein Wutgeheul über alle diese empörenden Kleinigkeiten‘. [xxvii]

Berechnungen über die Unwirtschaftlichkeit der Privathaushalte (siehe auch Fanina Halle im Dokumentenanhang) konnten die Frauen angesichts dieser Probleme kaum noch erreichen. Ihnen dürften praktische Zusammenschlüsse in Genossenschaften zur Beschaffung von Lebensmitteln und Konsumgü­tern, wie F. Halle sie auch beschreibt, nähergelegen haben. Gesellschaftlich überwog die Begeisterung für den industriellen Aufbau, zumal über diesen Weg durch die Einrichtung von Werkskantinen und großen Nahrungsmittel­kombinaten die werktätige Bevölkerung ernährt werden sollte. Kritik an der ge­ringen Mittelzuweisung für Gemeinschaftseinrichtungen z.B. beim ersten Fünf­jahresplan fanden kaum noch Gehör.

Kommunebewegung

Ein anderer Ansatz, in dem nach Lösungen für die Haushaltsführung gesucht wurde, war die Kommunebewegung. In ihr wurde eine Teilung der Hausarbeit versucht, sei es durch abwechselnden Tagesdienst für Männer und Frauen oder in der AMO-Kommune (Betriebskommune des Autowerkes), die 24 Mit­glieder hatte, durch die Beschäftigung von 2 Köchinnen. Teilweise waren die Kommunen von einer Überorganisierung des Alltagslebens durch genaue Stundenpläne gekennzeichnet. Wegen asketisch puritanischer Haltungen -bedingt durch die Wohnungsnot lebten 8 bis 10 Personen in drei Zimmern -begegnete die Jugend den Kommunen teilweise skeptisch, glichen sie doch einem Mönchsorden. Charakteristika dieser Kommunen waren Gemeingut, Tagebuch führen, Tagesdiensthabende, Kommissionen für verschiedene Pro­bleme, auch legten die Kommunen sich Kampfaufgaben zurecht. Sie entstan­den als Zusammenschlüsse in einem Haus, um die Ernährungsschwierigkei­ten zu lösen, aufgrund von Wohnungslosigkeit oder infolge von Aufenthalten in Erziehungs- oder Erholungsheimen. Ansonsten war festzustellen, daß die Geselligkeit infolge von Mangel an Zeit und Raum reduziert wurde. Bei einem Leben unter permanentem Einfluß des Arbeitsprozesses zerrissen persönliche Bindungen und führten zu einem Abbau des Privatlebens.

Quelle: trend… vom 10. November 2017


[i] Trotzki, Fragen des Alltagslebens, Berlin 1973

[ii] Jessica Smith, Woman in Soviet Russia, New York 1928, S.14 zit. nach Kai Th. Dieckmann, Die Frau in der Sowjetunion, Frankfurt/Main 1977, S. 57

[iii] vgl. Dokumentenanhang, Nr. 3

[iv] Edward Halle« Carr, Foundations of a Planned Economy 1926 – 1929, London S. 503

[v] M. Wolters, A. Wolters, Elemente des russischen Rätesystems, Bd. IX, Teil 1, Hamburg 1981, S. 71

[vi] vgl. Dokumentenanhang, Nr. 6

[vii] in Kai T. Diekmann, Die Frau in der Sowjetunion, Frankfurt/M., S. .51

[viii] in Fannina Halle, Die Frau in Sowjetrußland, Berlin 1932, S. 175

[ix] vgl. Dokumentenanhang, Nr. 6

[x] Berichte von G. Batkis, Die Sexualrevolution in Rußland, Berlin 1925, in Dieckmann S. 49

[xi] A. Kollontai, Die Liebe der drei Generationen, Berlin 1982, S. 41

[xii] A. Kollontai, Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Münster 1977

[xiii] A. Kollontai, Der weite Weg, Frankfurt/ Main 1979, S. 220 ff.

[xiv] Kollontai, Der weite Weg, S. 148

[xv] Kollontai, Neue Moral, S. 142

[xvi] Helene Imendörffer, Die Belletristik und ihre Rezeption, in: A. Kollontai, Der weite Weg, S. 265

[xvii] Monika Israel, Über die Probleme der Frauenemanzipation im nachrevolutionären Rußland in: Kollontai, Die neue Moral der Arbeiterklasse, S. 141, Münster 1977

[xviii] Dokumente: Die Sowjetunion, Bd. 2 Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. H.AItrichter, H. Haumann, München 1987, S. 309

[xix] . Monika Israel, Über die Probleme a.a.O. S. 119

[xx] vgl. Dokumentenanhang, Nr. 9

[xxi] zitiert nach H. Harmsen: Die Befreiung der Frau, Berlin o.J., S.20; nach Monika Israel: Über die Problenme der Frauenemanzipation im nachrevolutionären Rußland (1917-1928), S.111; in A. Kollontai: Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Verlag Frauenpolititk, Münster, 1977

[xxii] Fannia Halle, a.a.O. S. 201

[xxiii] Lenin, Über die Aufgaben der proletarischen Frauenbewegung in der Sowjetrepublik, Bd. 30, S. 27

[xxiv] vgl. Dokumentenanhang, Nr. 1, S. 102 ff.

[xxv] Lenin, Über die Aufgaben der proletarischen a.a.O. S .28

[xxvi]Kai Th. Dieckmann, a.a.O. S. 87

[xxvii] Larissa Reissner, Oktober, Königstein/Ts. 1979, S. 242, S. 325

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