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Zur politischen Ökonomie der kriegstreibenden Kräfte in Russland

Eingereicht on 10. Oktober 2014 – 11:01

Die dramatischen Entwicklungen in der Ukraine über die vergangenen zwei Jahre hinweg weisen auf tiefgehende strukturelle soziale und wirtschaftliche Verschiebungen, die sich geopolitisch recht schnell als militaristisch aufgeladene Konfliktsituationen äussern. Diese Problematik wurde in den Imperialismus-Theorien vor allem im Vorfeld des Ersten Weltkrieges bearbeitet. Hier ist nicht der Ort, eine Aktualisierung dieser Theorien zu entwickeln. Eine einigermassen angemessene Einschätzung der weltpolitischen Umbrüche der vergangenen drei Jahrzehnte wäre jedoch  nur anhand einer solchen Theorie möglich; und eine solche Einschätzung ist für ein linkes politisches Projekt notwendig, um in den zunehmend turbulenten Umbrüchen weltweit noch den Weg zum Pfade politischer und sozialer Befreiung der Menschheit zu finden.

Die sich seit vier Jahren häufenden Volksaufstände – etwa im arabischen Raume, aber auch in China, in Bangladesch, in Griechenland, auf dem Balkan, usw. und eben in der Ukraine – sind Indizien dafür, dass nachhaltige globale Strukturbrüche im Gange sind. Allerdings sorgen die herrschenden Eliten in den betreffenden Ländern – eben auch in der Ukraine – , in Kooperation mit den USA, Europa, China und eben Russland dafür, dass die Ansprüche der in Bewegung geratenen Massen nach mehr Demokratie, mehr sozialer Gerechtigkeit, nach menschlicher Würde nicht eingelöst werden müssen. Zu diesem Zwecke schrecken sie vor keinem Mittel zurück. Die Krise um die Ukraine ist ein treffendes Beispiel dafür: Kriegstreiberei auf beiden Seiten, das Gewähren-Lassen und Fördern faschistischer Banden auf beiden  Seiten, die Beschleunigung der Bereicherung mit kriminellen Methoden einer dünnen Schicht von ukrainischen und russischen Oligarchen, all dies kombiniert mit drakonischen Hunger-Programmen für die Bevölkerung in der West-Ukraine wie auch in der Ost-Ukraine, wie sie bereits die Bevölkerungen der baltischen Staaten, Griechenlands, Ungarns, der Slowakei, des Balkans, Ägyptens, Syriens usw. durchlitten haben.

Ein Schlüsselereignis war sicher der Zusammenbruch der Sowjetunion. Dabei konnten sich in allen losgelösten Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre dünne und räuberische Cliquen einflussreicher «neuer Kapitalisten» herausbilden, die das Volksvermögen und den politischen Einfluss an sich reissen konnten. Sie bekämpfen sich oft untereinander. Alles mit dem «Blute und dem Schweisse» der übergrossen Mehrheit der Bevölkerung. Die imperialistischen Mächte, dazu gehören nun auch Russland und China, versuchen über jeweilige Oligarchen im entsprechenden Moment Einfluss auf die inneren Entwicklungen zu nehmen. Wie nun in der Ukraine, früher in Georgien, Kasachstan und bereits in der Orangenen Revolution von 2004 in der Ukraine.

Der Autor des nachfolgenden Beitrag, Ilya Matweew, ist russischer Forscher und Lehrer. Er zeichnet die polit-ökonomischen Zusammenhänge der Clique nach, deren politische Führer Wladimir Putin ist. Dieser Aufsatz wurde ursprünglich in Russisch auf  Otkrytaya levaya (offene Linke) : http://openleft.ru/?p=3970 veröffentlicht und durch Jan Malewski (für inprecor) ins Französische übertragen. Von dort wurde [von der Redaktion maulwuerfe.ch] er ins Deutsche übersetzt. Er erscheint auch in inprekorr vom November-Dezember 2014

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Die meisten Diskussionen um die russische Aggression in der Ukraine sind auf die Persönlichkeit Putins gerichtet, seine Absichten, seine Entscheidungen. Aber auf diese Art ist es kaum möglich, die Situation einzuschätzen. Mittlerweile sind 15 Jahre vergangen und wir haben praktisch weiterhin keine Antwort auf die Frage: «Wer ist Putin?». Ist er liberal, konservativ oder ein Links-Populist? Ist er ein gnadenloser Agent der politischen Polizei oder steht er im Dienste des Liberalen Anatoli Sobtschak[1]  oder ein Bürokollege von Alexei Kudrin[2] im Bürgermeisteramt von St. Petersburg? Ein Pragmatiker, Realist, Ironiker und Zyniker unter der Maske des unparteiischen Anwalts, der das Spiel «wer verliert zuerst die Nerven?» liebt? Ein Mann mit Intuition, einer globalen Weltsicht, aber kein Stratege wie Fedor Lukjanow[3] sagt? All dies trifft zu oder teilweise zu, aber erlaubt nicht, etwas über die Zukunft Russlands auszusagen.

Was hingegen zutrifft ist, dass die langfristige Politik Putins die Resultante der ihn umgebenden Kräfte ist. Das Auftreten des «neuen Putin», nach seiner ersten Amtszeit und nach seiner zweiten Amtszeit[4], nach der Rochade mit Medwedew[5], nach der Krimkrise usw. spiegelt die tektonischen Verschiebungen innerhalb der russischen Elite wider. Wir können diese etwas näher betrachten, damit es einfacher wird, die zukünftigen Erdbeben vorherzusehen.

Spulen wir das Band zurück. Im Jahre 2003 hat Gleb Pawlowski eine Untersuchung veröffentlicht über die Bildung eines parallelen Machtzentrums um eine Gruppe aus Sergei Pugatschow[6], Igor Setschin[7] und Viktor Iwanow[8]. Diese Gruppe hatte von Anfang an Ambitionen in der Politik wie auch in der Wirtschaft, wobei sie eine imperiale und etatistische Ideologie mit dem zu kombinieren versuchten, was die Politologen eine Rentenökonomie nennen; das heisst, sie wollten mit dem Ziel einer persönlichen Bereicherung eine Kontrolle über die Staatsfinanzen erlangen.

In der Folge ist dieses «parallele Machtzentrum» grundlegend geworden. Das Schlüsselereignis war dabei sicher die Jukos-Affäre[9]. Seit langem ist klar, dass diese kein politischer Racheakt gegen Chodorkowski war, sondern eine gewaltsame Umverteilung von Eigentum. Unter der Kontrolle der Solowiki[10] ist Rosneft zu einem der Pfeiler ihres Einflusses und zu einer wesentlichen Quelle ihrer Renten geworden.

Die Silowiki haben den Charakter des russischen Kapitalismus verändert. Der Anteil des öffentlichen Sektors ist innerhalb einiger Jahre von 30% auf 40% angewachsen. Gemäss dem russischen Polit-Analysten Andrei Jakowlew «hat der Staat  im Sommer 2004 das Wirtschaftsleben vollständig dominiert». Die Slowiki ziehen es vor, ihre wirtschaftlichen Ambitionen mittels einer politischen Kontrolle über die öffentlichen Unternehmen zu verwirklichen und nicht mittels eines direkten Ausbaus ihrer Beteiligungen. So haben sie eigens dafür den staatlichen Trust geschaffen. In diesem verbinden sich alle Vorteile und Privilegien eines staatlichen Amtes mit dem Geschäftsgeheimnis und der sozialen Verantwortungslosigkeit, die zur Natur der Privatwirtschaft gehören.

Wir stellen sofort fest, dass die Jukos-Affäre nicht der einzige Fall im Kampf um die Kontrolle über die Wirtschaft gewesen war. So haben die Silowiki eine teilweise Kontrolle der Sicherheitskräfte über die Rüstungsindustrie errichtet, bevor sie noch zum Angriff auf Chodorkowski übergingen. Insbesondere hat Putin im Jahr 2002 via Dekret den Trust «Almaz-Antei» geschaffen, der mehrere Dutzend Unternehmen des Rüstungssektors umfasst. Es war Viktor Iwanow, der zu seinem Verwaltungsratspräsidenten ernannt wurde. Dieser Trust leitet die Produktion des Luftabwehr-Raketensystems «Buk»; eine Rakete dieses Systems hatte das Flugzeug der malaysischen Fluggesellschaft abgeschossen. 2003 wurde ein Mann Iwanows, der Unterdirektor des Trusts Igor Klomow, ermordet. War dies eine Reaktion auf die wirtschaftliche Stärkung der Armee, wie dies einige Polit-Analysten vermuten?

Was wurde in der Analyse von Pawlowski aus den Persönlichkeiten? Viktor Iwanow leitet die staatliche Kontrollbehörde für Medikamente und den staatlichen Ausschuss zur Drogenbekämpfung. Igor Setschin ist Präsident von «Rosneft» und nach Meinung Einiger der zweitmächtigste Mann Russlands. Sergei Pugatschow hingegen wird in Russland gesucht und lebt in London; seine Bank, die «Meschprombank», wurde liquidiert.  Die Stelle von Pugatschow wurde offenbar durch Konstantin Malofeew[11] eingenommen, einem orthodoxen und patriotischen Geschäftsmann mit einem entsprechend langen Bart. Malofeew spielt eine Schlüsselrolle in den Ereignissen um die Krim und die  Ost-Ukraine.

Spulen wir den Film noch weiter zurück.

Das Jahr 2007. Der Klüngel der Silowiki ist der mächtigste in Russland. Der amerikanische Analyst Ian Bremmer erklärt seine Sichtweise: «Die Streitkräfte werden nicht so sehr durch die Biografien als durch die Interessen und Perspektiven zusammengehalten; ihr Klüngel ist nicht eine Gemeinschaft von Gleichen, er ist hierarchisiert». Bremmer sieht dann Folgendes voraus: «Wenn 2008 ein Repräsentant dieser Gruppe an die Macht kommt, könnte er wohl eine eher anti-westliche Politik verfolgen. (…)  Kurzfristig sieht er China als geeigneteren Partner an als den Westen. (…) Übrigens sind die Streitkräfte für eine Fortführung der Zusammenarbeit mit Iran. In der nach-sowjetischen Ära sucht er energisch nach einer Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Integration, insbesondere hinsichtlich der Ukraine und Georgiens. Unter einem Präsidenten aus den Silowiki wird es keinen Abbau der strategischen Waffen geben, sondern deren Modernisierung».

Die Voraussage hat sich als fürchterlich zutreffend herausgestellt. Seither hat der Krieg gegen Georgien, die aktuelle anti-westliche Wende, die Stärkung der Bindung an China, die Aggression gegen die Ukraine, die Modernisierung der Waffen stattgefunden. Wir werden auf diesen letzten Punkt zurückkommen.

Das Jahr 2011. Der Finanzminister Alexei Kudrin ist aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über das Rüstungsprogramm bis 2020 zurückgetreten. Kosten dieses Programmes: 20‘000 Milliarden Rubel. Wenn man die Massnahmen zur Neubewaffnung der Armee und zur Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes dazurechnet, so kommt man auf über 30‘000 Milliarden Rubel. Dies entspricht etwa 1‘000 Milliarden Dollar oder 50% des russischen BIP. Diese fantastischen Zahlen bedeuten einen Sieg für die Silowiki. Sie stellen eine doppelte Spirale dar, die den Raub erleichtern: Zuerst zieht das Geld im Öl- und Gassektor vorbei um dann in die rechte Tasche zu fallen; dann tritt es in den militärisch-industriellen Komplex ein, wo es mehrere zusätzliche Taschen füllt. Diese beiden Sektoren der Wirtschaft werden durch den Staat kontrolliert, in Person der gleichen Gruppe der Silowiki. Muss ich noch hinzufügen, dass dieses Abenteuer der 30‘000 Milliarden auf eine wirtschaftlich unmögliche Wette hinausläuft und in eine Katastrophe führt? Deshalb hat es Kudrin vorgezogen, zu gehen.

Der Entscheid zur Vergabe der 1‘000 Milliarden Dollar an die Silowiki wurde dann gefällt. Dieser musste lediglich noch politisch unwiderruflich gemacht werden.

Dann kam es in Moskau und den anderen grossen Städten zu Kundgebungen für korrekte Wahlen. Wir rechneten, als Antwort auf die Massenproteste, mit einer konservativen politischen Wende, wie sie 2012 immer mehr sichtbar wurde. Aber es ist nicht ganz so gekommen. Noch im Jahre 2011 war die Reaktion der staatlichen Autoritäten auf die Kundgebungen nicht vorherbestimmt. Aber die Silowiki haben die Gelegenheit ergriffen, um eine repressive, konfrontative Politik einzuleiten und haben dazu die Massenkundgebungen als Vorwand genutzt.

Dann kam die Ukraine, die Angst in Russland angesichts von  Maidan[12] und noch ein strategischer Sieg der Silowiki: Die Annexion der Krim, dann der «hybride» (nun nicht mehr so hybride) Krieg im Donbass.

Man glaubte, dass die regierende Klasse in Russland die Zuspitzung der Spannungen mit dem Westen nicht wagen würde, da sie um ihre Vermögen im Ausland fürchtete und auf ein glückliches Alter irgendwo an der Côte d’Azur hoffte. Es zeigte sich, dass dies nicht der Fall ist. Aber dies bedeutet nicht, dass die auswärtige Aggression der Silowiki keine ökonomischen Motive hätte.

Zuallererst können die 30‘000 Milliarden des Rüstungsprogrammes im Dienste des militärisch-industriellen Komplexes nicht mehr widerrufen werden. Wie Rogosin[13] festgestellt hat: «Die Amerikaner können das Programm der Wiederaufrüstung der russischen Armee und Marine nicht aufhalten». Solange Putin an der Macht sein wird, wird er der Feind des Westens sein und man wird sich folglich gegen den Westen schützen müssen. Nun gut, dieses hehre Ziel wird es den gut Positionierten immer gestatten, einige Dutzend, sogar einige Hundert Milliarden Dollar zu gewinnen. Der Kapitalist wird, wie man weiss, für einen Gewinn von 300% alles tun, und die russischen Silowiki – «diese politischen Kapitalisten» – werden sich stolz ihren Teil aus diesem monströsen Kuchen abschneiden.

Die Armee und den militärisch-industriellen Komplex bestehlen, das können und lieben sie. Dies verneint nicht mal Rogosin, der Leiter des militärisch-industriellen Komplexes, der verspricht, mit «der eisernen Faust» gegen die Korruption vorzugehen um dann zuzugeben, dass diese trotz allem zunehme. Im Jahre 2011 hat der Staatsanwalt öffentlich erklärt, dass im Verteidigungsbudget einer von fünf Rubeln gestohlen werde. Der Verteidigungsminister belegt den ersten Platz der Minister in der Auflistung über die Korruption, wie sie durch «Novaïa Gazeta» veröffentlicht wurde. Die Fachleute schätzen, dass man sich im Bereich der militärischen Forschung und Entwicklung «ohne jede Angst vor Konsequenzen 90% und mehr der öffentlichen Beiträge in die eigene Tasche stecken kann».

Zudem schaffen die geopolitischen Abenteuer Putins direkte Möglichkeiten der Bereicherung. Die Brücke von Kertsch wird durch Rotenberg und Timtschenko gebaut werden[14]. Kosten dieses Bauwerkes: 247 Milliarden Rubel. Zweifelsohne wird diese Schätzung wie immer in unerwarteter Weise mehrere Male nach oben korrigiert werden. Dies ist jedoch nur ein Teil des staatlichen Unterstützungsprogrammes für die Krim.

Eine Ebene darunter finden wir die russische Geschäftswelt, die auf eine Verstärkung des staatlichen Protektionismus und auf neue Möglichkeiten setzt, sich auf dem Rücken der Bevölkerung zu bereichern, der keine andere Möglichkeit gelassen wird. Ein augenfälliges Beispiel dafür ist der agro-industrielle Komplex[15]. Noch 2003 schrieb Pawlowski, dass es ein Leichtes sein werde, einen Teil der mittleren Unternehmen den Silowiki zu unterwerfen. Es liegt heute auf der Hand, dass ein grosser Teil von ihnen darauf hofft,  im «kalten Krieg» zu gewinnen und nicht erneut zu verlieren.

Im Jahre 2007 schrieb der amerikanische Politologe Daniel Treisman, dass die Silowarchi, das heisst die Oligarchen der russischen Sicherheitskräfte, wirtschaftlich nicht durchwegs gescheitert sind. Nichtsdestotrotz erwartet man 2014 in Russland ein Wirtschaftswachstum von null, oder gar eine Rezession. Und dies trotz der hohen Preise für das Erdöl und den Beginn einer Erholung der Weltökonomie. Die russische Wirtschaft liegt am Boden. Das heisst, dass der politische Kapitalismus, wie er von den Silowiki geschaffen wurde, an die Grenzen seines Wachstums gelangt ist. Es steht eine Verschärfung der Wirtschaftskrise an mit Kürzungen im Bildungsbereich, in der Forschung, im Gesundheitswesen und in der Kultur, wie auch antisoziale Massnahmen wie etwa die kürzliche Enteignung der Altersparprogramme (wenn die Mittel ausgehen, kürzt man die Renten oder erhöht das Rentenalter).

Die russische Bevölkerung befindet sich in einer doppelten Falle. Die Zeit ist reif für abscheuliche militaristische Abenteuer, die die letzten Blutstropfen aus der Wirtschaft herauspumpen. Die vergangenen imperialistischen Kriege wurden geführt, um neue Märkte zu erobern und Zugriff auf Rohstoffe zu erhalten. Die aktuellen nicht-erklärten Kriege sollen einen strukturellen «Reibab» und militärische «Renten» ermöglichen.

Das Regime kann jedoch nicht unendlich lange in einem Zustand der wirtschaftlichen Stagnation oder Rezession existieren. Trotzdem kann Russland nicht einmal von einem Ende dieses Regimes – und dies ist die zweite Falle – etwas Gutes erwarten. Es ist offensichtlich, dass der Westen sein Möglichstes versuchen wird, darüber zu wachen, mit einem neuen Schub neoliberaler Rezepte endlich die russische Industrie zu zerschlagen. Russland wird unter einen noch nie dagewesenen Druck geraten, die härtesten Programme der internationalen Finanzinstitutionen umzusetzen; und dies in einer Situation wie in den 1990er Jahren, aber diesmal ohne das sowjetische Erbe, das das Parasitentum ermöglichte. Wer könnte dies verhindern? Etwa die Nationalisten, die mit den Liberalen an die Macht kommen werden, sofern die Leute weiterhin schweigen?

Die Beziehungen zwischen den Autoritäten und der Bevölkerung gleichen einem plumpen behavioristischen Experiment. Die olympischen Spiele und die Annexion der Krim waren wirksame Anreize, die auf den Erfolg der Regierung eine Reaktion hervorgerufen haben: Einen starken Anstieg ihrer Popularität. Diese Reaktionsfähigkeit auf Stimuli macht die Leute sehr verletzlich auf ganz andere Stimuli: Mögliche Erschütterungen, die sie vollständig desorientieren würden –  eine Erschütterung durch eine schwere wirtschaftliche Krise, einen Zusammenbruch des Regimes Putin. Die einzige Chance: Dass die russische Bevölkerung erneut die Initiative ergreift, um den Autoritäten einen Schock zu versetzen. Diese haben sich ernsthaft entschlossen, sich am Schweisse der Leute und an dem Blute Unschuldiger zu bereichern.


[1] Anatoli Sobtschak (1937-2000) war ein Liberaler und Mitverfasser der 1993 angenommenen Verfassung der russischen Föderation, erster demokratischer gewählter Bürgermeister von St. Petersburg (Juni 1991). Er brauchte seit seinem ersten Wahlkampf die Unterstützung der politischen Polizei und hat Putin eingestellt, damals Oberstleutnant im KGB und hat ihn 1994 zu seinem Stellvertreter ernannt. Im Jahr 1999 hat er erneut gegen die Partei von Jeltsin (und gegen Putin) kandidiert und wurde nicht wiedergewählt.

[2] AlexeI Kudrin (geboren 1960) ist Ingenieur und Wirtschaftswissenschafter; er begann seine Laufbahn bei Sobtschak und folgte im Jahre 1996 Putin nach Moskau ins Präsidialkabinett von Jeltsin. Nach der Wahl von Putin (2000) wurde er Finanzminister und dann, als Repräsentant des Clans der «Petersburger Liberalen», einer der Cliquen, die den Aufstieg Putins unterstützt hat, Vize-Premierminister. Im September 2011 wurde seine Clique durch Putin geschwächt und er tritt aus der Regierung zurück. Er demonstrierte gegen die Wahlfälschungen vom Dezember 2011.

[3] Fedor Lukjanow ist Deutschübersetzer, Journalist und Politologe und leitet die Zweimonatszeitschrift Rossiya v Globalnoï Politikie (Russland in der Weltpolitik), einem Pendant zur US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs. Sie wurde gemeinsam durch den Rat für Aussen- und Verteidigungspolitik, dem russischen  Arbeitgeberverband und der Tageszeitung Isvestja gegründet. Sie erscheint dreimonatlich auf Englisch unter dem Titel Russia in Global Affairs.

[4] Die « erste Periode » von Putin, damals noch im Dienste von Jeltsin, war die eines Strohmanns und dann eines neoliberalen Premierministers. Seine «zweite Periode» ist die als Präsident, der die bürokratisch-oligarchischen Cliquen vereint.

[5] Dmitri Medwedew (geboren 1965), Advokat, hat seine politische Karriere direkt unter der Leitung von Putin in der Mannschaft von Yeltsin begonnen und war mit der Erstellung von Investitionsverträgen beauftragt. Als Vize-Präsident unter Putin wurde er von diesem im Jahre 2008 als Kandidat für das  Präsidentenamt ernannt, da Putin nicht für eine dritte Amtszeit in Folge kandidieren konnte. Gewählt, ernannte Medwedjew Putin zu seinem Vize-Präsidenten. Im Jahre 2012 überlässt er den Platz des Präsidenten Putin und wird zu dessen Premierminister.

[6] Sergei Pugatschow (geboren 1965), seit 1990 aufgrund seiner Geschäfte mit Putin und Jeltsin «neuer Kapitalist» in St. Petersburg, wurde Oligarch und Milliardär. Seine Bank, die in Geldwäscherei verstrickt war – wofür sie durch die letzte oppositionelle Zeitung, Novaïa Gazeta im Jahre 2002 angeklagt wurde – ist 2010 wegen Zahlungsunfähigkeit zusammengebrochen.

[7] Igor Setschin (geboren 1960), ehemaliger Angestellter des Geheimdienstes, ehemaliger Vize-Premierminister von Putin, gilt als Nr. 2 in der russischen Machtpyramide und ist oberster Leiter von Rosneft, des riesigen, staatlich kontrollierten russischen Erdölkonzerns mit der grössten Börsenkapitalisierung weltweit.

[8] Viktor Iwanow (geboren 1950), ehemaliger Offizier des KGB und dann der russischen Gegenspionage, seit 1990 «neuer Kapitalist», seit Januar 2000 oberster Stellvertreter des Präsidialbüros. Im Jahre 2001 wurde er zum Vertreter des Staates in den militärischen Entwicklungs- und Produktionsgesellschaften Antei und Almaz ernannt. Unter seiner Leitung wurden diese zur  Almaz-Antei fusioniert, und er wurde zu deren Präsidenten. Seit 2004 ist er ebenfalls Präsident des Verwaltungsrates von Aeroflot. Seit Mai 2008 leitet er das staatliche Amt zur Kontrolle von Rauschmitteln wie auch den Ausschuss zur Bekämpfung des Handels mit Rauschmitteln.

[9] Jukos war bis zum Juli 2004 die grösste private Erdölgesellschaft weltweit. Sie produzierte 20% des russischen Erdöls und 2% der weltweiten Produktion. Sie wurde 1995 durch den Oligarchen Michail Chodorkowski erworben, den damals durch Präsident Jeltsin einzigen autorisierten Käufer. Im Oktober 2003 wurde Chodorkowski, der Putin nicht unterstützt hatte, verhaftet und unter der Anklage von Steuerdelikten zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Im Juli 2004 wurden die Vermögen von Jukos vom Staat eingezogen und am 9. Dezember an eine Gruppe von Finanziers aus dem Umfeld von Rosneft verkauft. In einem Interview mit der Sunday Times hat Codorkowski 2008 Igor Setschin beschuldigt, seine Gruppe Jukos absichtlich zerschlagen zu haben.

[10] Silowiki – wörtlich «Gewalt-Männer» – ist der russische Begriff für die Bezeichnung der Politiker und Oligarchen, die aus der politischen Polizei (KGB/FSB), der Armee, der Spionage und der Gegenspionage, der Polizei, der Kontrolle der Rauschmittel hervorgegangen sind – kurzum, diesem Herzen des russischen Staates, der aus offiziellen bewaffneten Banden besteht. Diese Bezeichnung wurde in der Übersetzung beibehalten.

[11] Konstantin Malofeew (geboren 1974), Jurist, Abgeordneter, ist Gründer und Präsident des internationalen Investitionsfonds Marshall Capital Partners und der Wohltätigkeitsstiftung St. Basil. Im Juli 2014 wurde er in der Ukraine beschuldigt, die illegalen prorussischen militärischen Gruppen finanziert zu haben.

[12] Bezeichnung für die Volkserhebung in der Ukraine von 2013 und 2014.

[13] Dmitri Rogosin (geboren 1963), Journalist, ehemaliger Chef der nationalistischen Partei Rodina (Vaterland) und dann der nationalistischen Partei «Grosses Russland», ist seit 2008 russischer Botschafter bei der NATO und seit 2011 Vize-Premierminister. Er wird den Silowiki zugerechnet.

[14] Die Gebrüder Arkadi und Boris Rotenberg und Gennadi Timtschenko werden als Strohmänner von Putin betrachtet. Sie leiten Holdings, die dem russischen Präsidenten gehören. Eine erste Brücke über die Meerenge von Kertsch wurde 1944 errichtet und wurde im Februar 1945 durch das Eis zerstört. Das aktuelle Projekt sieht eine Brücke via die Insel Tusla vor.

[15] Dmitri Medwedew, russischer Premierminister, erliess mehrere Weisungen um die russische landwirtschaftliche Produktion zu zentralisieren, während er gleichzeitig deren staatliche Finanzierung ankündigte. Im Rahmen dieser Weisungen geht es, neben der Schaffung eines staatlichen Zentrums zur Viehzucht und zur Produktion von Saatgut, um die Anhebung der Grenzen der Erdgasnutzung für Treibhäuser im Gartenbau (in Verbindung mit Gasprom) und um die Errichtung von Zollschranken für den Reisimport. Siehe http://www.vedomosti.ru/companies/news/32737331/medvedev-poruchil-provesti-inventarizaciyu-gosprogrammy-apk

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