Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, International

Flucht, Elend & Profit

Eingereicht on 20. Dezember 2017 – 16:26

Winfried Wolf. Das war schon ein richtiger Aufreger, als Ende 2017 in seriösen Blättern wie dem britischen Guardian über Sklavenmärkte und eine neue Sklavenhalterei in Libyen berichtet wurde. Nein, da stand nicht, es existierten „sklaven-ähnliche Zustände“. Die Rede war und ist von einem neuen Sklavenhandel. Zunächst war es die Internationale Organisation für Migration (IOM), die – bereits im April – von der Existenz eines Sklavenhandels in dem nordafrikanischen Staat sprach. Da es „nur“ eine NGO war, die dies behauptete, wurde der Bericht nicht ernst genommen. Dann war es im November der US-Sender CNN, der davon berichtete, dass ein Sklave in Libyen für 400 Dollar gekauft werden könne, beispielsweise für Feldarbeit. Dazu gab es einen Film. In diesem legt auf einem solchen Sklavenmarkt der Händler der Ware Sklave eine Hand auf die Schulter und preist seine Waren an mit: „Große starke Jungs für Feldarbeit“. Für einige Tage war Betroffenheit angesagt. „Bilder von libyschen Sklavenmärkten schockieren Europa“, so war ein Bericht im Tagesspiegel (28.11.) überschrieben. „Der tägliche Horror in Libyen“, schlagzeilte der Kölner Stadtanzeiger(29.11.). Über das „Grauen der Gegenwart“ orakelte Die Welt (30.11.).

Doch die Aufregung war eher kurzlebig. Und nirgendwo war die Rede von einer Ökonomie der Migration, kein Wort darüber, dass die EU selbst durch den stillen Zwang von Freihandelsverträgen und durch das 2017 neu brutalisierte Regime der Mittelmeerpolitik direkt Mitverantwortung trägt für diesen Rückfall in das vorletzte (oder vorvorletzte) Jahrhundert, als der von Europa aus betriebene Sklavenhandel den afrikanischen Kontinent verheert hatte. Mit Folgen bis zum heutigen Tag.

Beginnen wir mit dem eher Einfachen, mit der aktuellen Brutalisierung des EU-Grenzregimes.

Die EU-Migrationspolitik im Mittelmeer

Die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer in die EU kommen, hatte sich bereits 2014 gegenüber dem Vorjahr von 59.421 auf 216.054 mehr als verdreifacht. Damals war – wie heute – der Weg von Nordafrika nach Italien der vorherrschende. Als Ende Januar 2015 in Griechenland eine Linksregierung gewählt wurde und diese sich für eine einigermaßen menschenwürdige Flüchtlingspolitik entschied, änderte sich die maßgebliche Fluchtroute. Die Menschen gelangten über die Türkei und die nahe vor der türkischen Küste liegenden griechischen Inseln nach Europa. In diesem Jahr stieg die Zahl der „Ankünfte in der EU“ auf gut eine Million. Im November 2015 errichtete Mazedonien – mit politischer und logistischer Unterstützung seitens der EU – an der Grenze zu Griechenland einen Grenzzaun. Im März 2016 ging die EU den entwürdigenden Deal mit Erdogan ein: Die Türkei sollte die Flüchtlinge bereits im eigenen Land auf ihrem Weg nach Europa stoppen; die EU zahlt dafür Milliarden Euro. In der Folge erwies sich Griechenland als Falle für viele Zehntausend Geflüchtete.

Nun verlagerte sich der eigentliche Flüchtlingsstrom erneut auf die alte – deutlich gefährlichere – Route: von Nordafrika aus nach Italien, wobei jenseits des Mittelmeers bevorzugt Libyen den Ausgangspunkt für den Sprung nach Europa darstellt.

Zwischenzeitlich kam es zu zwei wichtigen Veränderungen, die den Flüchtlingen den Weg erschweren. In Libyen werden inzwischen kriminelle Milizen durch die EU finanziert. Was der Türsteher Erdogan gegen Geld macht, sollen libysche Türsteher vergleichbar effizient erledigen. Gleichzeitig werden Hilfsorganisationen, die im Mittelmeer Flüchtlinge retten, kriminalisiert.

Seit 2016 finanzieren und unterstützen die EU, die EU-Grenzorganisation Frontex und das EU-Mitgliedsland Italien in Libyen die sogenannte Küstenwache. Rund 150 Mitglieder der Küstenwache wurden im Rahmen eines speziellen EU-Programms, an der auch die deutsche Marine beteiligt ist, ausgebildet. Analog zum Drecksjob, den Erdogan für die EU erledigt, erledigt nun die libysche Küstenwache die „Arbeit“ der EU-Organe zur Eindämmung der Flüchtlinge. Die Küstenwache rief eine 74 Seemeilenzone aus, die sie als „Such- und Rettungszone“ für eigene Einsätze beansprucht. Das sind gut 140 Kilometer. Dieses Areal ragt weit über die zwölf Seemeilen umfassenden Territorialgewässer Libyens hinaus – und hinein in internationale Gewässer. Allein im Jahr 2017 wurden mehr als 19.000 Flüchtlinge im Mittelmeer von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und zurück nach Libyen verfrachtet. Wobei die „Küstenwache“ von libyschen Milizen kontrolliert wird, die im Bürgerkriegs im Land brennend, sengend und folternd aktiv sind. Libyen ist seit der militärischen Intervention des Westens im Jahr 2011 kein funktionierender Staat mehr. Der Guardian-Journalist Daniel Howden berichtet über eine routinemäßige Zusammenarbeit zwischen den Kräften der Küstenwache und Schmugglern und Schleusern. Vor allem aber, so ein Bericht von Amnesty International von Mitte Dezember, liefert die Küstenwache die im Mittelmeer aufgegriffenen Flüchtlinge in Libyen in genau diejenigen Lager, die das Reservoir für den beschriebenen neuen Sklavenhandel darstellen.

Der Ausweitung der Aktivitäten libyscher Banden, die beschönigend als Küstenwache bezeichnet werden, wird ergänzt durch eine massive Einschränkung der NGO-Rettungsaktivitäten im Mittelmeer. In den letzten Jahren hatten mehrere zivile Hilfsorganisationen mit eigenen Schiffen Flüchtlinge im Mittelmeer aus Seenot gerettet und diese dann in italienische Häfen gebracht bzw. nach einer Übergabe an andere Schiffe dorthin bringen lassen. 2016 retteten sie nach offizieller Statistik 46.796 Menschen. Diese Aktivitäten und die wachsende Effizienz dieser Hilfsorganisationen sind der EU und der italienischen Regierung nicht genehm. Sie wirken deren Ziel, den Zuzug von Flüchtlingen zu stoppen, entgegen. Im Februar 2017 bezeichnete der Frontex-Chef Fabrice Leggeri diese NGOs als „Pull-Faktor“, der Flüchtlinge überhaupt erst dazu verleite, in See zu stehen. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière behauptete Mitte 2017, die NGOs würden mit ihren Schiffen in libysche Gewässer vordringen und mit Schleusern „per Lichtzeichen kommunizieren“. Ähnlich argumentierte der damalige österreichische Außenminister und designierte Kanzler Österreichs, Sebastian Kurz, der grundsätzlich für Flüchtlingslager in Nordafrika eintritt.

Doch für all diese Behauptungen einer Komplizenschaft der NGOs mit „Schleusern“ gibt es keine Belege; sie sind frei erfunden. Das Ziel ist die Kriminalisierung der Hilfsorganisationen. Derart unter Druck gesetzt sahen sich die Hilfsorganisationen im Frühjahr 2017 auch noch damit konfrontiert, dass die italienische Regierung ihnen einen sechsseitigen „Verhaltenskodex“ vorlegte. Danach soll es auf den Schiffen der NGOs bewaffnete Polizisten als Begleitpersonal geben. Was natürlich für Flüchtlinge, die sich oft ohnehin nahe der Panik befinden, abschreckend wirken, die Paniksituationen verstärken muss. Der Kodex verlangt des Weiteren, dass diese Schiffe die Geretteten selbst zum nächsten Hafen fahren müssen – was Zeit und Geld kostet und die Effizienz der Seenotrettung mindert. Bislang wurden gerettete Flüchtlinge meist anderen Schiffen zum Transport in die Häfen übergeben. NGOs, die den Kodex nicht unterzeichnen, dürfen seither keinen italienischen Hafen mehr anlaufen. Mehrere Organisationen weigerten sich zunächst, den Kodex zu unterzeichnen. Eine Reihe NGO-Schiffe blieb wochenlang vertäut in Häfen. Auf hoher See kam es zu dramatische Szenen, die ihrerseits die NGO-Teams abschrecken. Das Handelsblattbrachte am 11. November 2017 einen dreiseitigen Artikel mit der Überschrift „Im Herz der Finsternis“, in dem ausführlich das brutale Grenzregime der EU im Mittelmeer beschrieben und über einen solchen Zwischenfall berichtet wird: „Max Avis [der stellvertretende Einsatzleiter an Bord des Schiffes Aquarius, eines Rettungsschiffs von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen] war bei einer Massenrettung dabei, die Mitglieder der LCG [der libyschen Küstenwache] aufmischten. Auf der Suche nach Notfällen waren die Ribs [kleine Rettungsboote] zwischen Flüchtlingsbooten hindurch geglitten, es seien 20 gewesen, darin um die 2500 Menschen. […] Andere NGO-Schiffe halfen. Gemeinsam, so schildert Avis, konnten sie fast alle Menschen mit Rettungswesten ausrüsten. Da tauchte plötzlich die LCG auf einem bewaffneten Schnellboot auf. […] Ihre Mitglieder schossen herum, in die Luft, ins Wasser. Sie rasten zwischen den Schlauchbooten hindurch, versuchten, sie Richtung libysche Küste zu treiben…“

Es gibt inzwischen ein gutes Dutzend Berichte, die von vergleichbaren Vorfällen berichten. Wobei den EU-Behörden und insbesondere der deutschen Bundesregierung voll bewusst ist, was es heißt, wenn Flüchtlinge, die im Mittelmeer aufgegriffen werden, zurück nach Libyen verfrachtet werden. Die NGO „Ärzte ohne Grenzen“ schreibt: Die Bundesregierung „ist seit Monaten bestens über Folter, Vergewaltigungen, Gewalt, systematische Erpressung und Zwangsarbeit in den libyschen Internierungslagern informiert.“ (Die Welt vom 30.11.)

Das ist für die EU, für Frontex und für die Regierungen in Berlin und Rom jedoch solange unwichtig, wie daraus kein allzu großer Skandal wird. Wichtig sind die harten Fakten: Die Zahl der in der EU ankommenden Flüchtlinge hat sich 2017 gegenüber dem Vorjahr auf rund 170.000 halbiert. Sie beträgt ein Sechstel der 2015er Zahl. Unsere Tabelle dokumentiert diesen Erfolg – und den dafür erbrachten Blutzoll. Die Festung-Europa-Politik kostete allein im Zeitraum 2013 bis 2017 nach der offiziellen Statistik 16.317 Menschen das Leben. Diese ertranken im Mittelmeer. Einige Zehntausend wurden in die libyschen Lager gebracht, von denen es bereits Anfang (!) 2017 in einem Drahtbericht der deutschen Botschaft in Nigeria hieß, dort herrschten „KZ-ähnliche Zustände“.

Tabelle. «Nur ein ertrunkener Flüchtling ist ein guter Flüchtling»

  2013 2014 2015 2016 2017
Tote (in der Regel im Mittelmeer ertrunkene) Flüchtlinge 600 3500 3771 5096 3350*
Ankünfte in der EU 59’421 216’054 1’015.078 361’709 170’000

*Hochrechnung auf Basis der Zahlen für den Zeitraum 1.1.2017 bis Anfang Dezember 2017. Quelle: UNHCR

Noch deutlich mehr Flüchtlinge – durch Freihandel

Doch bei derlei Kleinkram hält man sich in den politischen Zentralen in Brüssel, Rom, Wien und Berlin ungern auf. Es geht um deutlich höhere Ziele. Afrika ist schließlich ein Kontinent mit 1,2 Milliarden Menschen, der im Jahr 2050 eine doppelt so große Bevölkerung zählen soll. Und der vor allem reich an Rohstoffen ist – nicht zuletzt an solchen, die für die europäische Autoindustrie von strategischem Interesse sind (Stichwort: Elektro-Pkw). Gebannt starren da die EU-Bürokraten und die Chefs in den Konzern- und Bankzentralen auf zwei sich ergänzende Prozesse. Einerseits schließt sich Afrika derzeit zu einem gewaltigen Binnenmarkt zusammen. Am 16. Juni 2017 beschlossen die in der Afrikanischen Union (AU) zusammengeschlossenen Staaten in Niamey, Niger, 90 Prozent der Zölle, die im Handel zwischen den afrikanischen Staaten erhoben werden, abzuschaffen. Die Afrikanische Freihandelszone CFTA (Continental Free Trade Area) steht vor der Vollendung. Die EU ihrerseits strebt den Abschluss von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit möglichst vielen afrikanischen Staaten an. Mit ihnen sollen die bislang gewährten Handelspräferenzen auslaufen; die afrikanischen Staaten sollen 80 Prozent ihrer Importzölle für Einfuhren aus der EU streichen, wenn sie ihre Produkte weiterhin zollfrei auf den EU-Märkten absetzen wollen. In einem Informationsblatt der bundeseigenen Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) vom September 2017 heißt es, die Freihandelsvereinbarungen hätten „positive Auswirkungen auf die Armutsreduzierung. Durch das damit entstehende Wirtschaftswachstum werden neue Arbeitsplätze und neue Einkommensmöglichkeiten geschaffen.“

Alles spricht dafür, dass das Gegenteil eintreten wird. Innerhalb Afrikas wird der vereinbarte Freihandel nur die großen Unternehmen, die sich im Übrigen oft bereits unter der Kontrolle von europäischen und chinesischen Unternehmen befinden, stärken. Kleine Betriebe und Kleinbauern werden um ihre Existenz gebracht werden. Gerade weil Afrika im Vergleich mit der EU unterentwickelt, nicht konkurrenzfähig ist, wird ein noch freierer Handel zwischen Afrika und der EU die bescheidenen wirtschaftlichen Fortschritte auf dem afrikanischen Kontinent und jede Art Eigenständigkeit zunichtemachen. Vor allem wird die Abhängigkeit Afrikas von Europa weiter verstärkt werden. Im Zeitraum 2001 bis 2003 musste Afrika 26,6 Millionen Tonnen Weizen importieren. Im Zeitraum 2014 bis 2016 waren es bereits 48,6 Millionen Tonnen. Wertmäßig ist der Anstieg nochmals größer (er stieg in den genannten Zeiträumen von 3,7 Milliarden Euro auf 9,2 Milliarden Euro).

Die Freihandelspolitik wird die Armut auf dem afrikanischen Kontinent vergrößern. Und – zusammen mit der Klimaveränderung und dem Bevölkerungswachstum – dazu beitragen, dass die Zahl der Flüchtlinge weiter anwächst. Wahrscheinlich sogar drastisch steigt – als direkte Folge einer neoliberalen – und oftmals neokolonialen – Politik der EU.

Wobei es beim Thema Flucht gilt, die Proportionen zu wahren. Die tatsächlich sehr hohe Zahl von 67 Millionen Flüchtlingen, die derzeit weltweit registriert ist und deren Entwicklung wir in der Quartalslüge auf den Seiten 4 und 5 dokumentierten, verteilt sich wie folgt: 15,4 Millionen Flüchtlinge leben in Subsahara-Afrika selbst. Weitere 14,9 Millionen Flüchtlinge werden in Nordafrika und im Nahen Osten gezählt. In Asien und Ozeanien gibt es laut UNHCR 8,7 Millionen und in Amerika 7,7 Millionen Geflüchtete. Europa rangiert an letzter Stelle – mit 6,3 Millionen Flüchtlingen. Im bettelarmen Tschad machen die Flüchtlinge 4,1 Prozent der Bevölkerung aus. Im Libanon leben 1,5 Millionen – meist syrische – Flüchtlinge. Dies entspricht einem Viertel der gesamten Bevölkerung.

Und in der reichen Bundesrepublik Deutschland haben gerade einmal 0,3 Prozent der Bevölkerung einen Flüchtlingsstatus.

Quelle: lunapark21… vom 20. Dezember 2017

 

Tags: , , , , ,