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Der Kaiser Amazon ist nackt

Eingereicht on 22. Dezember 2017 – 14:44

Giulio Regeni. In unserer Sozialberatung begegnen uns immer häufiger Fälle von Arbeiter_innen der so genannten Gig-Economy. Von Jahr zu Jahr geht, im Zuge der Kapitalakkumulation unter anderem in diesem Sektor, die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Die Zahl der reichsten Menschen, deren Vermögen dem Gesamtvermögen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung entspricht, ist von 85 auf 62 und 2017 schließlich auf 8 gesunken. Amazon* ist das bedeutendste und größte Unternehmen einer dieser wenigen Personen*.

Im Folgenden findet ihr ein in Oktober 2017 in Berlin durchgeführtes Interview mit dem Genossen und Amazon-Arbeiter Armando Battaglia. Armando ist einer der sehr vielen migrantischen Arbeiter*innen, die oft direkt durch die Agentur für Arbeit oder das Job Center in den Logistik-Sektor geschickt werden. Hier bekommen sie meistens zuerst Vollzeit-Arbeitsverträge, die dann in Teilzeit und schliesslich in Akkordverträge verwandelt werden.

Das geschieht, weil das System sich aus dem aus dem Leben der Arbeiter*innen geschöpften Mehrwert ernährt. Dieser Mehrwert aber wird durch die Anwendung von Algorithmen immer kleiner gemacht. Die Arbeiter*innen können dann schuldig von allem gemacht werden, sogar von vermeintlichen Schaden an den Liefertransportmittel, die dann von den Arbeiter*innen selber durch Verschuldungsmechanismen bezahlt werden sollen.

Ich denke an den brutalen Arbeitsstunden und an den Stunden im Wartemodus, an dem Warten an freien Slots, die mit mehr Lieferungen und mehr Gewinnen gefüllt werden sollen, dann denke ich an den Fahrstunden, den Wartungsstunden, denn ja auch Softwares können crashen.

Deshalb wünsche ich mir, dass diese kleine Forschungsarbeit reproduzierbar sein kann, wie Schäden auf Produktionsketten reproduzierbar sind. Für die Toten, die Tausenden an Arbeiter*innen die auf ihrem Arbeitsplatz verstorben sind, die unzähligen Toten. Und paradoxerweise ist das Mittelmeer eine Widerspiegelung davon. Die Menschheit in Bewegung gebracht, und umgebracht. Die Menschheit, für die die Lohnarbeit wie zu Droge geworden ist, in einem geplünderten Territorium und in einem privatisierten sozialem System. In diesem Kontext bleibt die Forschung, wenn operaia und solidarisch, ein Instrument für die Lebenden, damit wir nicht diejenigen vergessen, die umgebracht worden sind. Auch um die kleinsten Rechte zu verteidigen, die uns immer noch schützen.

Um wie viel Uhr stehst du morgens auf, um zur Arbeit zu gehen?

Wenn ich Frühschicht habe, stehe ich um 6.20 Uhr auf, denn muss ich mit der U-Bahn etwa eine Stunde fahren, um um 8.30 Uhr bei der Arbeit zu sein.

Wie lange arbeitest du in einer Schicht?

Eine Arbeitsschicht dauert 9 Stunden, Frühschichten laufen zum Beispiel von 8.30 bis 1 17.30 Uhr. Früher war der Schichtbeginn etwas flexibler, man durfte sich auch um 8.15 Uhr eintragen und dann um 17.15 Uhr Schichtwechsel haben. Jetzt ist die Eintragung nur nach festgelegtem Zeitplan möglich. Eintragen muss man sich immer auf einem Tablet. Das scheint „smart“ und einfach zu sein. Doch man hat jeden Tag mit dem Sicherheitsdienst des Lagers zu tun: Egal, ob man spät dran ist, oft lassen sie einen nicht schnell rein. Bei der Arbeit sollte es außerdem eine 30minütige Pause geben. Wegen der hohen Arbeitsbelastung reicht sie aber nie aus, um sich zu erholen.

Sind Arbeitsschichten immer fest?

Nein, sie werden uns jede Woche per E-Mail kommuniziert.

Haben Auto- und Fahrradkuriere im Lager Kontakte mit den Lagerarbeitern?

Kontakte werden deutlich verhindert, da Lieferanten und Lagerarbeiter in verschiedenen Gebäuden arbeiten. Während die Lieferung Subunternehmern übertragen wird, läuft die Warenverpackung über Zeitarbeitsfirmen. Das ermöglicht Amazon, auf Subunternehmer und Zeitarbeitsfirmen Druck auszuüben. Aufträge können nämlich von Amazon nach Leistungskriterien erteilt werden.

Die permanente Kontrolle am Arbeitsplatz bei Amazon hat für Schlagzeilen gesorgt. Durch GPS-System und Kameras werden Beschäftigte ständig überwacht. Sieht das bei Kurieren ähnlich aus?

Vor allem werden Dienstfahrzeuge durch GPS geortet. Aber Lokalisierungen können auch durch das Firmenhandy stattfinden. Mir wurde nie vorgeworfen, außerhalb des Transportweges gefahren zu sein. Fahrplanänderungen kommen bei dieser Arbeit oft vor. Einigen Kollegen wurde aber zum Beispiel vorgeworfen, während der Lieferung zu lang angehalten zu haben. Es handelte sich nicht um eine Pause, sondern einfach um einen Halt.

Bekommst du von der Firma irgendwelche Fahrpreisermäßigungen?

Keine, obwohl ich jeden Morgen und jeden Abend mehrere Stunden meines Lebens verschwende, um zur Arbeit zu fahren. Hinzu kommt, dass Dienstfahrzeuge von der Firma nicht privat zur Verfügung gestellt werden. Auch hat man bei der Lieferung immer unterschiedliche Fahrzeuge zur Verfügung. Das hat zur Folge, dass die Fahrzeuge vor der Lieferung immer kontrolliert werden müssen. Nicht nur Benzin oder Wasser könnten alle, sondern das Fahrzeug könnte beschädigt sein. Im Falle eines beschädigten Fahrzeuges hat nämlich der Kurier selbst den Schadenersatz zu tragen. Das Geld wird dann direkt von der Lohnabrechnung abgezogen. Schadenersatzansprüche gegen Kuriere sind auch schon willkürlich und als Bestrafung geltend gemacht worden.

Wurdest du mal am Arbeitsplatz gemobbt, beleidigt oder bedroht?

Glücklicherweise habe ich bei der Arbeit weder Mobbing noch Drohungen erleben müssen. In diesem Sektor zu arbeiten, heißt trotzdem, täglich unter Druck zu sein, die erwarteten Resultate innerhalb einer bestimmten Zeit erreichen zu müssen. Für die Firma sind Leistungen wichtiger als unsere Sicherheit. Stellt euch vor, jeden Tag in verschiedene Teile der Stadt liefern zu müssen. Mit GPS-System und Mühe kann man das schaffen, aber es ist trotzdem sehr hart. Oft funktioniert das GPS nicht und wir müssen zwischen 110 und 170 Lieferungen machen. Die Arbeitsorganisation der Logistik ist in den Händen des IT-Sektors bzw. von Leuten, die irgendwo in einem Büro sitzen und die Arbeit praktisch nicht kennen. Das sind gute Technokraten, die nur daran Interesse haben, dass im Algorithmus Zahlen mit Resultaten übereinstimmen. Außerdem sind wir oft wegen Fehler im System dazu gezwungen, stundenlang im Lager zu warten. Nach Hause geschickt zu werden, obwohl man arbeiten müsste, gehört zur Normalität. Das gilt im Lieferdienst nicht als Mobbing. Man geht zur Arbeit und muss entweder als „Reserve“ dableiben, falls jemand von der Arbeit fernbleibt, oder nach Hause zurückfahren.

Wie viel verdienst du im Monat?

Als Angestellter von einem Amazon-Subunternehmer beträgt das brutto Gehalt etwa 10 € die Stunde. Als Single, der in die Lohnsteuerklasse I fällt, wird es dann netto etwa 8€. Monatlich macht es 1200-1300€. Entsprechen die Leistungen dem Produktivitätsstandard der Firma, kann man netto 11€ die Stunde bekommen.

Ist es zum Leben genug?

Es hängt vom Lebensstandard ab. Mit 500€ Mietkosten und der Monatskarte reicht´s mir. Doch sollten wir uns fragen, ob das Gehalt der Arbeitsbelastung angemessen ist. Diese steigt Arbeitsbelastung kontinuierlich, das Gehalt aber nicht.

https://it.wikipedia.org/wiki/Omicidio_di_Giulio_Regeni

https://de.wikipedia.org/wiki/Giulio_Regeni

https://en.wikipedia.org/wiki/Murder_of_Giulio_Regeni

* https://en.wikipedia.org/wiki/Jeff_Bezos

** https://en.wikipedia.org/wiki/The_World%27s_Billionaires

#0 v.a. https://nyti.ms/2k1fqlS https://www.internazionale.it/opinione/giovanni-demauro/2015/08/28/orgoglioso-amazon-new-york-times

#1 v.a. https://publiceditor.blogs.nytimes.com/2015/08/18/was-portrayal-ofamazons-brutal-workplace-on-target/https://www.internazionale.it/opinione/giovanni-demauro/2015/08/28/orgoglioso-amazon-new-york-times

#2 v.a. http://www.repubblica.it/economia/2013/11/25/news/amazon_uk_sotto_accus a_il_lavoro_misurato_col_gps-71927758/

#3 v.a. http://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/amazon-workerssleep-tents-dunfermline-fife-scotland-a7467657.html

Quelle: labournet.de… vom 22. Dezember 2017

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