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 Feierabend? Gehört abgeschafft!

Eingereicht on 23. Dezember 2017 – 9:30

Jens Renner. Eins muss man dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung lassen: Seine Mitglieder, die »fünf Wirtschaftsweisen« (vier Männer und eine Frau), haben einen klaren Klassenstandpunkt. Aktuell fordern sie – offenbar einstimmig, ohne die übliche Minderheitsposition Peter Bofingers – die Abschaffung des Acht-Stunden-Tages: »Die Vorstellung, dass man morgens im Büro den Arbeitsalltag beginnt und mit dem Verlassen der Firma beendet, ist veraltet«, sagte der Vorsitzende des Rates, Christoph Schmidt, im Gespräch mit der Welt am Sonntag vom 12. November. Denn danach kommen noch die abendliche Telefonkonferenz und nach der kurzen Nachtruhe der Mailcheck beim Frühstück.

Von der Realität überholt ist die Vorstellung vom geregelten Feierabend tatsächlich – denn schon längst leisten Arbeiter_innen und Angestellte massenhaft Überstunden: in Deutschland 1,8 Milliarden allein im Jahr 2015, mehr als die Hälfte davon unbezahlt. Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten Vollzeiterwerbstätige im selben Jahr durchschnittlich 41 Stunden pro Woche, elf Prozent von ihnen sogar mehr als 48 Stunden. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin veranschlagt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten für 2016 sogar auf 43,5 Stunden. [i]

Aber die Wirtschaftsweisen wollen mehr als nur den Status Quo festschreiben. Die »immer digitalere Berufswelt« (Originalstilblüte bei faz.net, 12.11.2017) macht es möglich – und angeblich zwingend: »Firmen, die in der neuen digitalisierten Welt bestehen wollen, müssen agil sein und schnell ihre Teams zusammenrufen können«; sonst sei die »Wettbewerbsfähigkeit deutscher Firmen« in Gefahr. Der arbeitende Mensch hat sich diesen höheren Interessen zu unterwerfen. Damit entfällt auch die parteiübergreifend beschworene »Vereinbarkeit von Familie und Beruf«; schließlich orientiert sich das »flexible« Arbeitszeitmodell nicht an den Öffnungszeiten der Kitas, sondern an den Interessen des Unternehmens. Aber auch für kinderlose Individuen sind Planungen von Aktivitäten jenseits der Arbeit nur unter Vorbehalt möglich: Kann sein, dass es später wird.

Die Selbstunterwerfung der »kritischen Geister«

Die Kritik der Gewerkschaften an der wirtschaftsweisen Provokation richtet sich vor allem dagegen, dass durch immer mehr Flexibilität zum Wohle des Kapitals unter der Hand die Arbeitszeit verlängert wird. Dieses Problem sieht sogar der Wirtschaftsweise Schmidt: »Eine Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes darf nicht bedeuten, dass man heimlich die Arbeitszeit ausweitet. Es sollte lediglich darum gehen, die bestehende Arbeitszeit flexibler über den Tag und innerhalb der Woche zu verteilen.« Dass man hierzu von den Gewerkschaften wenig hört, ist kein Zufall. Denn bei der »flexiblen« Verteilung der Arbeitszeit haben sie in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen schon viel zu lange viel zu viele Ausnahmen zugelassen, die immer mehr zur Regel werden.

Wenn es dagegen keinen Widerstand gibt. Aber von wem soll der kommen, wenn selbst die (dem Anspruch nach) radikale Linke allenfalls ein Stirnrunzeln zustande bringt? Zwar ist das Genre »Kritik am neoliberalen Alltag« durchaus beliebt, auch in ak – siehe etwa Sebastian Friedrichs »Lexikon der Leistungsgesellschaft« (April 2013 bis August 2016) oder Theo Schusters Rezension von Patrick Schreiners Buch über »Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus«. [ii] Darin geht es um die Frage, »warum sich Menschen den gesellschaftlichen Zwängen des Neoliberalismus unterwerfen«. Die gleiche Frage stellt auch Oliver Nachtwey: »Wie kann es kommen, dass so viele, und ja, auch diejenigen, die sich für besonders kritische Geister, NonkonformistInnen, gestandene AntikapitalistInnen oder Ähnliches halten, mitunter so brav, so lapidar den Neoliberalismus in ihre Alltagspraxis mit vollziehen? Und manchmal schlimmer noch: Gerade ihre vermeintlich kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft sie zur Avantgarde der neoliberal entgrenzten Leistungsgesellschaft werden ließ?« [iii]

Offensichtlich endet ihre Kritik an den neoliberalen Zwängen, wenn diese als Versprechen von Freiheit, Selbstbestimmung und Coolness verkauft werden. Stilbildend hierfür wurde das schon 2006 veröffentlichte Buch »Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung« von Holm Friebe und Sascha Lobo, ein Manifest für neues Unternehmertum nicht nur in der »Kreativwirtschaft«. Neben wohlwollender bis begeisterter Zustimmung gab es dafür auch Kritik, vor allem von links. Die Bloggerin Mercedes Bunz bezeichnete die digitalen Bohemiens als »unterbezahlte Hilfszwerge der Kulturindustrie«, während Christiane Graf und Thomas Lohmeier bei der in den Feuilletons gefeierten »neuen Avantgarde der Arbeitsgesellschaft« eher »linken Neoliberalismus« am Werk sahen. (Prager Frühling, Mai 2008)

Unabhängig von Zustimmung oder Kritik hat sich das prekäre Unternehmertum der digitalen Bohemiens in den vergangenen Jahren weiter verbreitet. Teile dieses Arbeitsmodells wurden sogar von Großunternehmen übernommen – schon immer hat es das Kapital verstanden, alternative und potenziell progressive Ideen für die eigenen Interessen nutzbar zu machen. Nun folgt der neoliberal gewendeten »Flexibilität« ein noch weiter gehendes Unternehmensziel: die »Agilität«.

»Neue Freiheitsgrade bei der Leistungserbringung«

Flankiert werden solche regressiven Modernisierungen durch mediales Getöse und pseudo-wissenschaftliche Rechtfertigungen wie die der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech). In ihrer Studie mit dem Titel »Arbeit in der digitalen Transformation – Agilität, lebenslanges Lernen und Betriebspartner im Wandel« [iv] geben die Deutschen Akademiker_innen Empfehlungen für ein zeitgemäß »angepasstes« Arbeitszeitmodell: »Die heutigen Arbeitszeitregelungen stammen größtenteils noch aus dem Industriezeitalter (…)« Ersetzt werden sollen sie durch »neue, dem gesellschaftlichen Wandel angepasste Regelungen zu Höchstarbeitszeit, Mindestpausen, Ruhezeiten sowie Arbeit an Sonn- und Feiertagen«. Das nützt nicht nur dem Unternehmen, sondern auch dem arbeitenden Menschen: »Denn neue Freiheitsgrade bei der Leistungserbringung von Beschäftigten und Unternehmen ermöglichen vor allem flexibleres, selbstbestimmteres und eigenverantwortlicheres Arbeiten«, verspricht Acatech: »Politische Forderungen nach pauschalen gesetzlichen Regelungen sind dagegen kontraproduktiv.«

Das ist Klassenkampf von oben. Die Fundamentalist_innen des Kapitals wollen alles: Flexibilität, Kreativität, Agilität – und das möglichst im Rahmen ungesicherter »moderner Arbeitsformen«. (siehe Kasten unten) Die von Patrick Schreiner aufgeworfene Frage, »warum Menschen sowas mitmachen« (Buchtitel), ist damit nicht beantwortet. Warum bloß hatte ich bei den namenlosen »Menschen«, die »sowas mitmachen«, sofort diverse hochintelligente, politisch bewusste Personen aus meinem Umfeld vor Augen: immer online, immer busy, immer gleichzeitig mit mehreren Dingen beschäftigt, immer unter Zeitdruck, auch ohne Chef? Hat der neoliberale Arbeitsstil also auch die selbstverwalteten, (weitgehend) hierarchiefreien Nischen im Low-Budget-Sektor erreicht? Oder ging er – umgekehrt – gar von diesem aus? Dass er auch linke Kollektive belastet, ist offensichtlich. Ein anderes Thema? Vielleicht auch nicht.

Agile Unternehmensführung

Einen neuen Trend in den Betrieben beschreibt Marcus Schwarzbach im aktuellen isw-wirtschaftsinfo: »agile Unternehmensführung«. Auf Flexibilität folgt Agilität als übergeordnetes Unternehmensziel. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung erklärt, worum es dabei geht: »Bei agilen Unternehmen handelt es sich um Unternehmen, die eine möglichst hohe Beweglichkeit anstreben, um schnell auf Veränderungen von Gesellschaft, Technik und Kundennachfrage reagieren zu können. Dafür gilt die Überführung von hierarchischen Strukturen in bedarfsorientierte, selbstorganisierte Projekt- und Netzstrukturen als zentrale Voraussetzung.« Zwar könne die Befreiung vom Prinzip Befehl und Gehorsam kurzfristig »Hoch- und Glücksgefühle« auslösen, langfristig aber überwiegen für die Arbeitenden die Nachteile, schreibt Schwarzbach: Der Druck der Kunden werde auf die Beschäftigten übertragen. Zur »agilen Personalführung« gehört auch die Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse durch Werkverträge. So können »Teammitglieder temporär integriert werden«, freuen sich die Propagandist_innen der Agilität. Arbeit unabhängig von Zeit und Raum – nach Feierabend und im Urlaub – wird immer mehr zur Regel, insbesondere in der IT-Dienstleistungsbranche, der »Vorzeigebranche bei agiler Arbeit«. Aber nicht die Digitalisierung ist das Problem, sondern ihre Anwendung im Interesse des Kapitals. Die von Schwarzbach, Berater für Betriebsräte, skizzierten Gegenstrategien bleiben vage: Eine »klare Antwort aus der Beschäftigtensicht« fehle derzeit.

Marcus Schwarzbach: Agil und ausgepresst? Agile Unternehmensführung als Herausforderung für Gewerkschaften und Betriebsräte in der digitalen Arbeitswelt. In isw-wirtschaftsinfo 52, Dezember 2017.

Quelle: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 633 / 12.12.2017… vom 23. Dezember 2017


[i] Svenja Glaser: Unternehmer und »Wirtschaftsweise« wollen das Arbeitszeitgesetz lockern. Oxi Blog, 12.11.2017

[ii] Patrick Schreiner: Warum Menschen sowas mitmachen. Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus, Köln 2017. Rezensiert in Aufgeblättert, ak 632.

[iii] Vorwort zu Sebastian Friedrich: Lexikon der Leistungsgesellschaft. Wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt. Münster 2016.

[iv] www.acatech.de. Zitiert von Marcus Schwarzbach: Agil und Ausgepresst? In isw-wirtschaftsinfo 52, Dezember 2017. Siehe oben.

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