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Kapital und die Herrschaft über die Arbeiterklasse im Neoliberalismus

Eingereicht on 11. Januar 2018 – 12:51

Was bedeutet der scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der Rechte des Privateigentums und der Marktregulierung seit den 1970er Jahren, des Programmes des Neoliberalismus , für die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse wirklich? Eines steht fest, da es augenfällig ist: Die Arbeitsrhythmen beschleunigen sich unaufhörlich, die Lebensverhältnisse werden immer gebieterischer dem Kommando der Klasse der Anleger und Unternehmer untergeordnet, die Klasse der Lohnabhängigen wird von einem drohenden Pilz der Prekarisierung von den unteren Rändern her überzogen. In den wachsenden Ausbuchtungen der Armut gerade auch in den imperialistischen Zentren beschäftigen sich die Entrechteten häufig mit einem Krieg gegeneinander, die staatlichen Repressionsorgane erscheinen dann den noch bange ausserhalb des Strudels der Verelendung stehenden «Mittelschichten» als zivilisatorische Kraft. Der neoliberale Kapitalismus funktioniert als Ausgrenzungsmaschine – und die Produktion von Randständigkeit zählt zu seinen Funktionsmomenten.  

Diese Schilderung mag aus der verwöhnten helvetischen Perspektive etwas gar übertrieben erscheinen. Dies liegt einerseits daran, dass diese Verelendungsprozesse hierzulande nicht so massiv und sichtbar voranschreiten, da hier viel höhere «imperialistische» Tantiemen an eine Arbeiteraristokratie, genannt Mittelschichten, abfallen als etwa in den USA, Frankreich, England, Italien, Belgien oder dann in der Peripherie wie z.B. in Russland, Brasilien, Venezuela: Die Schweiz hat die bei weitem höchste Dichte an multinationalen Konzernzentralen, was schon mal eine materielle und ideelle Grundlage für eine vorläufig relativ breite und vorderhand stabile obere Mittelschicht ermöglicht, die sich weiterhin von den Grenzen des Abgrundes fernhalten kann. Aber auch in der Schweiz fanden über die vergangenen drei bis vier Jahrzehnte Gegenreformen statt, die sich windschnittig dem neoliberalen Programm einfügen: Voranschreiten einer Privatisierung der Altersvorsorge und des Service Public, steuerliche Privilegierung der hohen Vermögen und der Unternehmer, Verstärkung des Patentschutzes, Abbau der solidarischen Strukturen beispielsweise in den Krankenversicherungen und den Sozialversicherungen, marktkonformer Umbau des Bildungswesens; in der Arbeitswelt hat sich eine Flexibilisierung durchgesetzt wie anderswo und die realen Einkommen der Lohnabhängigen stagnieren seit bald dreissig Jahren, während die Profite steigen (sinkende Lohnquote).

»Es herrscht Klassenkampf, und meine Klasse gewinnt.« wie Warren Buffet, der US-amerikanische Finanzkapitalist mit einem Vermögen von über 50 Milliarden Dollar 2009 gesagt hat. Typischerweise stammt diese Feststellung, dass es Klassen und Klassenkampf gibt von einem Kapitalisten, während dieser mehr denn je notwendige Begriff zum Verständnis der Wirklichkeit selbst aus den «linken» Milieus verschwunden ist – ausser in einigen kleinen politischen radikalen Gruppierungen, die ihre Strategie an der Arbeiterklasse, an deren Realität und an deren kämpferischen Sektoren auszurichten versuchen. Die Sozialdemokratie, ja alle reformistischen Formationen, die sich auf die Teilhabe an staatlicher Macht orientieren, wie beispielsweise Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien und viele andere, orientieren sich explizit nicht am Konzept des Klassenkonfliktes. Sie sind selbst ein wichtiges Funktionselement bei der Umsetzung dieser Gegenreformen und deren Vermittlung weit in die Arbeiterklasse hinein. Diese wird dadurch, gerade in ihren Rändern, politisch sprachlos gemacht.

Wir bringen hier einen Auszug aus einem neuen Buch von Werner Seppmann: Kapital und Arbeit, Neoliberalismus, Prekarisierung und Herrschaft aus dem Mangroven Verlag Kassel 2017 und daraus das Kapitel Strategien der Verunsicherung. Die Fussnoten wurden weggelassen. [Redaktion maulwuerfe.ch]

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Die massenmediale Kanalisierung der »Unterschichtendebatte« im Herbst 2006 war eine propagandistische Meisterleistung. Das nicht mehr zu ignorierende Thema der sozialen Ausgrenzung und einer zunehmenden Verarmungstendenz wurde so strukturiert, dass die Aufmerksamkeit sich auf Teilprobleme konzentrierte und dabei die ganze Dramatik der gesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung aus dem Blick geriet. Entbrannt war die kurze, jedoch intensive Diskussion über die Menschen in den gesellschaftlichen Randzonen aufgrund von (Teil-)Ergebnissen einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über die soziale und politische Selbsteinschätzung der bundesrepublikanischen Bevölkerung. (Neugebauer 2007)

Berichtet wird in der Studie über die lebensgeschichtliche Situation einer sozialen Gruppe, die als »Abgehängtes Prekariat« bezeichnet wird. Der Umfang dieses Gesellschaftssegments liegt im Westen bei 4–5 und im Osten Deutschlands bei 20–25 Prozent. Es handelt sich bei dieser Gruppe im Kern um Langzeitarbeitslose und Hartz-IV-Empfänger, denen es allesamt nicht nur materiell schlecht geht, sondern die auch jede Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation aufgegeben haben. Die Intensität der Reaktionen auf diese gesellschaftliche Zustandsbeschreibung war überraschend. Denn eigentlich hätte es nach der langjährigen Arbeitsplatz- und Sozialabbau-Offensive keine Illusionen über den Umfang der sozialdestruktiven Entwicklungen (einschließlich ihrer subproletarischen Verfestigungstendenzen) mehr geben dürfen: Der eklatanten Reichtumsvermehrung an der gesellschaftlichen Spitze steht die Ausbreitung von »Armutskulturen« und die Vergrößerung des Blocks der in das soziale Aus Gestoßenen gegenüber.

Während schon seit längerem eine kritische Beschäftigung mit der dramatischen Verschlechterung der Lebensverhältnisse für die Menschen in den unteren Gesellschaftsetagen existiert, ist die Frage nach der vergrößerten Gestaltungsmacht der kapitalistischen Eliten und ihren Aktivitäten zur verwertungsorientierten Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse weit gehend noch ein wissenschaftliches Desiderat. Hier wirkt immer noch die Tabuisierung der Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Strukturierungsprinzipien durch eine akademische Soziologie der Bundesrepublik nach, die systematisch ebenso die Fragen nach den sozio-ökonomischen Bedingungen der individuellen Lebensbewältigung, wie nach den konkreten Machtvermittlungen verhindert hat. So disparate »Ansätze« wie Systemfunktionalismus und Individualisierungstheorie reichen sich darin die Hand. Nachdem die Krisentendenzen nicht mehr ignoriert werden können, macht sich zwar ein »nachholender« Realitätssinn bemerkbar, der sich jedoch nach wie vor der Beschäftigung mit den strukturellen Determinanten antagonistischer Gesellschaftsentwicklung verweigert. Die Ignoranz gewichtiger Teile der akademischen Sozialwissenschaften wird zu einer objektiven Erkenntnisschranke hypostasiert. Denn wenn die Debatten über die Prekarisierungs- und Exklusionsprozesse »nicht immer auf dem Fundament empirischer sozialwissenschaftlicher Analyse« geführt werden (Böhnke 2006, S. 90), stellt sich die naheliegende Frage, ob der institutionalisierte Wahrnehmungsraster überhaupt daraufhin angelegt ist, die gesellschaftlichen Widerspruchstendenzen hinreichend zu erfassen. Dass dies in der Regel nicht der Fall ist, hat mit der Privilegierung von Forschungsprojekten zu tun, die sich der Thematisierung klassengesellschaftlicher Strukturprinzipien und ihren Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen systematisch verweigern.

Was mittlerweile an Widerspruchsmomenten offensichtlich geworden ist, hat schon eine längere Geschichte: Wie schon erwähnt, hatte bereits vor zwei Jahrzehnten Karl Heinz Roth auf einen gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel hingewiesen und eine Reproletarisierungstendenz diagnostiziert. (K. H. Roth 1994) Deren langfristige Konsequenzen waren damals von vielen angezweifelt wurden; sie ist mittlerweile jedoch realitätsprägend geworden. Die Analyse dieser sozialen Regressionsprozesse nahmen auch einen zentralen Platz in den Veröffentlichungen des Projekts Klassenanalyse@BRD ein. (Projekt Klassenanalyse@BRD 2004. Vgl. auch: Seppmann 2004) Auch die Vertreter der akademischen Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik können angesichts ihres eklatanten Charakters die Augen vor der gesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung nicht mehr länger verschließen. Jedoch mangelt es an der Bereitschaft sich vor allem mit den psycho-sozialen Destruktionstendenzen und ihren sozialstrukturellen »Tiefendimensionen«, also ihrem Klassencharakter vorbehaltlos zu beschäftigen.

Jenseits der Grenzen sieht die Sache oft anders aus. International hat die Beschäftigung mit den antizivilisatorischen Konsequenzen eines neoliberal formatierten Kapitalismus wichtige Stichworte geliefert – jedoch ebenfalls die klassenstrukturellen Dimensionen weitgehend ignoriert. Dadurch bleibt jedoch das Problemverständnis beschränkt: Über die Unterklasse kann mit aufklärendem Effekt nur geredet werden, wenn auch die »Oberklasse«, also die Profiteure der ausbeutungsorientierten Umgestaltung der Sozialverhältnisse, immer mit im Blick behalten werden. Ohne die klassengesellschaftlichen Vermittlungen in ihrem ganzen Umfang zu berücksichtigen, hat besonders die französische Diskussion, deren anfänglich wichtigsten Beiträge von Robert Castel stammen, wesentliche Anregungen zum Verständnis der Prekarisierungsproblematik geliefert. (Castel 2000) Es wird von den »Abgekoppelten« gesprochen, die nicht nur von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind, sondern auch keine Chance der Wiedereingliederung mehr sehen. Gemeint ist damit jener Teil der Ausgegrenzten (die Langzeitarbeitslosen und ein neuer Typus von »Gelegenheitsarbeitern«), denen eine berufliche Integration nicht mehr gelingen will. Dieser Ausschluss aus der Arbeitswelt erschwert (oder verhindert sogar) eine positiv strukturierte Identitätsbildung. Die von den Ausgrenzungsprozessen Betroffenen werden von dem Gefühl geprägt, keinen anerkannten gesellschaftlichen Platz (mehr) zu besitzen. Diese Menschen haben sich aufgegeben, weil ihre Hoffnungen auf eine feste und zukunftssichere Erwerbstätigkeit immer wieder enttäuscht wurden.

Aus der bedrückenden Lebenssituation der Krisenopfer resultiert ein ganzer Komplex mentaler und psychischer Belastungen, die soziale Rückzugstendenzen stimulieren: Allmählich stirbt bei den Ausgegrenzten und Marginalisierten das Interesse an der Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes ab. Das soziale Umfeld wird als feindlich und anmaßend erlebt. Die Ausgeschlossenen ziehen sich zurück und werden apathisch, weil eine planende und gestaltende Einflussnahme auf die eigenen Lebensbedingungen jenseits ihres Vorstellungshorizontes am Ende ihres Weges der sozialen Ausgrenzung und systematischen Demütigung liegt: »Desintegrationstendenzen gehen mit wachsender Orientierungslosigkeit einher.« (Heitmeyer 2006b)

Möglich ist eine solche selbstunterdrückende Verarbeitungsweise der Ausgrenzungserfahrungen, weil im Rahmen der herrschenden psycho-sozialen Verarbeitungsmuster der gesellschaftlich erzeugte Widerspruch »individualisiert« wird. Da es ihnen verwehrt bleibt, verinnerlichte Leistungs- und »Normalitäts«-Normen lebenspraktisch einzulösen, fühlen sich die Krisenopfer für ihre Ausgrenzung selbst verantwortlich; viele ziehen sich »schuldbewusst« zurück und führen eine möglichst »unauffällige« Existenz am Rande der Gesellschaft. Durch diese Reaktionsweisen wird das kapitalistische Gesellschaftssystem politisch entlastet, hat sich die Legitimationsproblematik geradezu umgekehrt. Unmittelbar steht nicht mehr der herrschende Block für die sozialdestruktiven Konsequenzen seiner ökonomischen Handlungsstrategien unter Rechtfertigungszwang, sondern die Opfer, die ihr »Versagen« mit selbstunterdrückenden Konsequenzen verarbeiten und vor sich selbst und ihrem sozialen Umfeld »rechtfertigen« müssen: Die Ausgrenzung setzt eine Spirale der Selbststigmatisierung in Gang. Dieser Verarbeitungsmodus stellt eine Barriere für die Entstehung eines profilierten »Ungerechtigkeitsbewusstseins« (B. Moore) in einer Form dar, die Basis eines aufbegehrenden Handelns bilden könnte. Die Bedrohung der eigenen Lebensansprüche wird zwar zu der erlittenen Fremdbestimmung und einer diffusen Vorstellung vom »Kapital« als prägendem Gestaltungsprinzip in Beziehung gesetzt, jedoch ist damit eine alternative Sichtweise (noch) nicht verbunden. Die gesellschaftlichen Strukturprinzipien, die der eigenen Ausgrenzung zugrunde liegen, werden nicht automatisch in Frage gestellt.

Um 1930 schrieb ein noch unzweideutig marxistischer Horkheimer in seinem Aufsatz »Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse« mit hohem Erklärungswert für die aktuelle Situation: Es »ruht der eigentliche Druck des Elends immer eindeutiger auf einer sozialen Schicht, deren Mitglieder von der Gesellschaft zu völliger Hoffnungslosigkeit verdammt sind. Arbeit und Elend treten auseinander, sie werden auf verschiedene Träger verteilt. Dies heißt nicht etwa, es gehe den Arbeitenden gut, … aber der Typus des tätigen Arbeiters ist nicht mehr kennzeichnend für die, welche am dringendsten einer Änderung bedürfen … Diese unmittelbar und am dringendsten an der Revolution interessierten Arbeitslosen besitzen aber nicht wie das Proletariat der Vorkriegszeit die Bildungsfähigkeit und Organisierbarkeit, das Klassenbewusstsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel doch in den kapitalistischen Betrieb eingegliederten. Diese Masse ist schwankend, organisatorisch ist mit ihr wenig anzufangen … Der kapitalistische Produktionsprozess hat es also mit sich gebracht, das Interesse am Sozialismus und die zu seiner Durchführung notwendigen menschlichen Eigenschaften zu trennen.« Bemerkenswert an dieser Zustandsbeschreibung ist ihre Entstehungszeit, in der eine Kommunistische Partei Masseneinfluss hatte und ein unübersehbarer politischer Faktor war, es ihr aber dennoch nicht gelang, die »Prekarisierten«, also die Arbeits- und Hoffnungslosen in nennenswertem Umfang in die Prozesse politischen Widerstands zu integrieren. (Vgl.: Bloch 1973)

Überzeugende organisatorische Antworten auf den fast automatischen sozialen und politischen (Selbst-)Ausschluss der Krisenopfer scheint bis heute keine der Arbeiterorganisationen in den kapitalistischen Industrieländern gefunden zu haben. Was sich mittlerweile jedoch herauskristallisiert, ist eine große »Ernüchterung«: Von ihren eigenen Aktivitäten erwarten die Opfer der ausbeutungszentrierten gesellschaftlichen Umgestaltungsprozesse ebenso wenig positive Impulse für ihre Lebenssituation, wie von der »großen Politik«. Deshalb verweigern sie sich mehrheitlich sozialen Protestbewegungen, wie auch den Wahlprozeduren. Die Krisenopfer kündigen »zumindest teilweise ihre Loyalität mit dem politischen System auf.« (Mansel/Endrikat/Hüpping 2006, S. 43) Eine weitere Konsequenz der sozialen und psychischen Ausnahmesituation sind zivilisatorische Rückbildungstendenzen (vom Analphabetismus und selbstdestruktiven Gewaltformen bis zur sozialen Verwahrlosung), die von denjenigen die beispielsweise Hartz-IV-Empfängern die Befreiung von Schulbuchkosten verweigern (was in einigen Bundesländern geschieht) billigend in Kauf genommen werden. Auch das BRD-Schulsystem ist in seinen größten Teilen nicht geeignet, diese Tendenz zu kompensieren. Im Gegenteil: Die soziale Spaltung wird durch ebenso offene, wie versteckte Selektionspraktiken verstärkt, »die materielle, kulturelle und soziale Trennungen reproduzieren.« (Kirchenamt der EKD 2006, S. 12) Schon in der Grundschule zeichnet sich ab, wer zu den zukünftigen Gewinnern und Verlieren gehören wird. 83 Prozent aller Akademiker-Kinder absolvieren ein Hochschulstudium, jedoch nur 23 Prozent der Kinder von Nicht-Akademikern. Wie sehr sich die Selektion verstärkt hat, wird durch den historischen Vergleich der sozialen Herkunft der Studierenden in Deutschland deutlich. Entstammten 1982 noch 23 Prozent der Studierenden aus (wie es in einer Studie des Deutschen Studentenwerkes heißt) »niedrigen« Sozialschichten, waren es 2006 nur noch 13 Prozent. Der Anteil der Studierenden aus den gesellschaftlichen Spitzenetagen hat sich in diesem Zeitraum fast verdoppelt: Entstammten 1982 17 Prozent aus »hohen« Soziallagen, waren es 2006 38 Prozent. Selbst wenn der Anteil der Studierenden aus »niedrigen« und »mittleren« Soziallagen zusammengefasst wird, ist eine Tendenz zur systematischen Benachteiligung unterer Gesellschaftsschichten bis in die Bereiche eines ehemals bescheidenen »Mittelstandes« offensichtlich. Stellten die in der DSW-Studie sogenannten »niedrigen« und »mittleren« Schichten 1982 zusammen noch einen Anteil von 57 Prozent, so ist dieser bis 2006 auf 38 Prozent zusammengeschmolzen. (Vgl.: Der Spiegel, Nr. 26, 2007, S. 17)

III. Die Lage in den gesellschaftlichen Untergeschossen wäre jedoch nicht so dramatisch, wenn sie nicht in einem umfassenden Prozess sozialer Verwerfungen und Rückstufungen eingebettet wäre. Nicht nur die Ungleichheit hat zugenommen, auch die soziale Unsicherheit hat sich verallgemeinert. Zunehmende objektive Unsicherheit provoziert subjektive Unsicherheitsgefühle: Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und dem sozialen Absturz ist für die meisten (auch qualifizierten) Lohnabhängigen zu einer prägenden Sozialerfahrung geworden. Wie breit die Gefährdungszonen sind und wie »normal« für die Menschen in den gesellschaftlichen Basisbereichen das Leben in der Nähe des Existenzminimums und die Verarmungserfahrung ist, wird durch die Tatsache deutlich, dass 2005 das Einkommen jedes achten Bundesbürgers unter der vom Statischen Bundesamt errechneten Armutsgrenze von 856 Euro für Alleinstehende und 1.798 Euro für eine Familie mit zwei Kindern lag. Diese Situation ist nicht nur Ausdruck einer temporären Dramatik, sondern einer kontinuierlichen Einkommensdiskriminierung für fast alle Lohnabhängigen, die teilweise dramatische Formen angenommen hat: »Die Löhne in den unteren Einkommensgruppen verfallen. Aus Vollzeitberufen werden Teilzeitstellen, aus befristeten Anstellungen werden Minijobs. Stammbelegschaften werden mehr und mehr durch Aushilfskräfte der Zeitarbeitsfirmen ersetzt, die für gleiche Arbeit weniger Geld bekommen.« (Der Spiegel, Nr. 50, 2006, S. 24)

21 Prozent aller in Deutschland Beschäftigten erhielten schon 2005 Niedriglöhne, die teilweise sogar tariflich »abgesichert« waren: 5,15 Euro brutto Grundvergütung für Arbeiter im Sanitär- und Heizungshandwerk in Rheinland-Pfalz, 3,82 Euro Brutto für Friseure in Sachsen. »Zwei Drittel der schlecht Verdienenden sind übrigens Frauen.« (Klinger/König 2006, S. 107) Der Blick auf den gesellschaftlichen Gesamtzustand wurde in der medialen »Unterschichtdebatte« jedoch weitgehend vermieden – und damit die ganze Dramatik der Ausgrenzungs- und Rückstufungsprozesse verschwiegen. Die Armutsquote (mit der Menschen erfasst werden, die mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens leben müssen) lag 2003/2004 nach Angaben des statistischen Bundesamtes bei 13 Prozent. Alternative Berechnungen gehen für diesen Zeitpunkt schon von einer 15-Prozent-Quote aus, die bis 2006 auf 17,3 Prozent anstieg. Innerhalb dieser Armutspopulation hat sich ein Block gebildet, in dem die Armut einen verfestigten Charakter hat. Ihm gehören etwa 40 Prozent aller statistisch erfassten Armen an. Sie repräsentieren einen 8-prozentigen Anteil an der Gesamtbevölkerung. Diese Gruppe ist mit dem »Abgehängten Prekariat« nicht deckungsgleich, dürfte aber eine große Schnittmenge mit ihm bilden. Immer häufiger nimmt die Ausgrenzung auch einen generationenübergreifenden Charakter an: »Wer schon in jungen Jahren nichts anderes kennengelernt hat als Hoffnungslosigkeit, der gibt sich auf.« (Klinger/König 2006, S. 17)

Prekarisierung nährt sich aus der Prekarisierung, verfestigt sich zunehmend in sozialen Räumen, in denen die Gescheiterten unter sich sind. »Werden diese Prozesse der Segregation nicht unterbrochen, entwickelt sich allmählich ein Armutsmilieu, das selbst benachteiligende Wirkung entfaltet.« (Häußermann/Kronauer/Siebel 2004, S. 13) Deutlich größer jedoch als die manifesten Armutsbereiche sind die Zonen sozialer Gefährdung. Denn über die in Armut festsitzenden Gruppen hinaus, leben weitere 20 Prozent (manche Untersuchungen sprechen sogar von 30 Prozent) der bundesrepublikanischen Bevölkerung in so unsicheren Verhältnissen und verfügen über ein so geringes Einkommen, dass sie jederzeit sozial abstürzen können. Kurzarbeit, die Erwerbslosigkeit eines Familienmitglieds, Scheidung oder ein weiteres Kind können zur sozialen Katastrophe führen.

Die Zustände haben sich zugespitzt, sind jedoch keineswegs neu. Schon in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts lebten 40 Prozent der bundesrepublikanischen Bevölkerung in Armut oder in Zonen der Unsicherheit. (Vgl.: Hübinger 1996) Verändert hat sich jedoch im Kontext einer allgemeinen Perspektivverdunklung der individuelle Umgang mit solchen Lebenssituationen. Existierte in den 90er Jahren noch die Hoffnung, die soziale Lage stabilisieren und einen Absturz vermeiden zu können, dominiert heute der (begründete) Zweifel, ob der soziale Status verteidigt werden kann. Durch die Verallgemeinerung der Unsicherheit erweisen sich auch bescheidene Zukunftserwartungen als zerbrechlich: Die heute in der Gruppe der Gefährdeten leben, verfügen nicht mehr über den Gewissheitshorizont einer allmählichen Verbesserung der Lebenslage, der in den Zeiten des Prosperitätskapitalismus geherrscht hat. Noch bis in die 90er Jahre hinein war es eine relativ scharf umgrenzte gesellschaftliche Gruppe, die die Krisenlasten zu tragen hatte: Vom Arbeitslosigkeitsrisiko waren von den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten nur ein Drittel betroffen. Dass sich mittlerweile die Gefährdungszonen ausgedehnt haben, drückt sich in einer veränderten gesellschaftlichen Grundstimmung aus: 63 Prozent der Bundesbürger äußern ihre Angst vor den gesellschaftlichen Veränderungen und 49 Prozent befürchten, ihren Lebensstandard nicht halten zu können. Nicht nur das gesellschaftliche Zustandsbild war innerhalb der Prekarisierungsdebatte unscharf; auch der Unterschichts-Begriff hatte in den (akademischen) Darstellungen der Ausgrenzungsprozesse einen verschleiernden Charakter. Mit ihm wurde der Eindruck zu erwecken versucht, dass mit der Identifizierung eines »abgehängten Prekariats« die Unterschicht empirisch und analytisch schon hinreichend umgrenzt wäre. Tatsächlich handelt es sich jedoch bei der thematisierten »Unterschicht« um ein Segment innerhalb einer umfassender zu definierenden Unterschicht – und das wird nicht zuletzt auch von den Menschen in den gesellschaftlichen Basisbereichen mit Nachdruck hervorgehoben. In ihren sozialen Selbstbeschreibungen überwiegen in der Regel zwar die realistischen Momente, dominiert das Wissen um die Subalternität ihrer sozialen Position. Dennoch legen sie großen Wert darauf, nicht mit denen »ganz Unten« in einen Topf geworfen zu werden.

Schon auf niedrigen Stufen des sozialen Strukturgefüges existiert (durch das Fehlen politisch vermittelter differenzierter Gesellschaftsbilder und -begriffe) die Bereitschaft, sich einer diffusen »Mitte« zuzurechnen, um sich von den Schichten, in die man hinab zu sinken droht, abzugrenzen. Und diese Bereitschaft ist umso größer, je realer die Gefahr des sozialen Abstiegs ist: Denn im Unterschied zu jenen, die am unteren Rande der Gesellschaft stehen, haben diejenigen, denen es aufgrund ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation noch vergleichsweise gut geht, viel mehr zu verlieren. Wenn sie arbeitslos werden, droht, wenn ein schneller Wiedereinstieg ins Berufsleben verpasst wird, der soziale Abstieg. (Vgl.: Mansel/Endrikat/Hüpping 2006) Obwohl sie nach klassentheoretischen Kriterien selbst der Unterschicht angehören, verwenden die Abstiegsbedrohten viel Kraft darauf, nicht in jene soziale »Endstufe« abzusteigen, von der in der Prekarisierungsdebatte die Rede war. Einem Teil aus den Gruppen der »Bedrohten Arbeitnehmermitte« und den »Selbstgenügsamen Traditionalisten«, wie sie in der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung genannt werden und die einen Bevölkerungsanteil von 16 bzw. 11 Prozent repräsentieren, gelingt es, ihren sozialen Status oberhalb der statistischen Armutsgrenze zu verteidigen. Immer öfter sind jedoch alle Anstrengungen vergebens und ein (zumindest zeitweiliger) Abstieg nicht zu vermeiden. Tritt dieser Fall ein, vergrößert sich die Bereitschaft, zur Stabilisierung der eigenen Identität, sich von vermeintlich Schwächeren, durch deren Abwertung abzugrenzen: »Klassenkampf« findet zwischen den Gruppen statt, die unmittelbare Opfer der klassengesellschaftlichen Umstrukturierungen sind.

Die subjektiven Verarbeitungsformen von Arbeitslosigkeit und Armut korrespondieren mit einem traditionellen soziologischen und sozialpsychologischen Erkenntniskanon. (Vgl.: Wacker 1976) Was den Ausgegrenzten zu schaffen macht, ist nicht nur die materielle Zurücksetzung, sondern ein Komplex psychischer Belastungen: Nach anfänglichen Phasen subjektiver Auflehnung und der Konzentration auf die Überwindung ihrer sozialen Randständigkeit, setzen sich bei den Ausgegrenzten allmählich Tendenzen einer geistigen Verengung und emotionalen Verarmung durch. Die psychischen Reaktionsmuster der Krisenopfer werden einförmiger, Depressionen und resignative Einstellungen gewinnen zunehmenden Einfluss: Fast alle Lebensäußerungen werden von der bedrückenden Sozialsituation geprägt. Es geht primär nicht darum, dass durch »schlechtes Essen, billige Unterhaltung und endlos viel Zeit … ihnen die Energie geraubt« wird (Bude/Willisch 2006, S. 8), wie wissenschaftlich kaschierte Zyniker in legitimatorischer Absicht behaupten, sondern um die Auswirkungen einer systematischen Degradierung, um die strukturell vermittelte Perpetuierung eines Zustandes, in denen den Krisenopfern ein tätiges Weltverhältnis verwehrt wird und deshalb ihre psychische Stabilität schwindet und sie zu selbstbeschädigenden bis selbstzerstörerischen Verhaltensweisen neigen.

Alle einschlägigen sozialpsychologischen Studien über die Auswirkungen von Armut und Arbeitslosigkeit beschreiben, dass die Betroffenen nach dem Eintritt der Arbeitslosigkeit sich noch längere Zeit von der Hoffnung leiten lassen, ihren verlorenen Status wiederzuerlangen. Jedoch verflüchtigt sich mit der Dauer der Ausgrenzung allmählich das Hoffnungspotential und auch die subjektive Widerstandsbereitschaft schwindet; Resignation und Lethargie breiten sich aus. Mehr noch als am Geld, mangelt es den Betroffenen »am Glauben an sich selbst. Sie haben sich aufgegeben, sie sind unfähig, die einfachsten Dinge des Alltags zu organisieren, sie haben verlernt, sich für irgendwas in ihrem Leben anzustrengen.« (Klinger/König 2006, S. 95) Die Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben beschädigt nicht nur die elementaren, arbeitsvermittelten Wirklichkeitsbezüge, die aufgezwungene Untätigkeit entwertet auch die bisher gültigen Zeitmaßstäbe. »Für die überwältigende Mehrheit der Erwerbslosen … (stellt) die Zerstörung ihrer gewohnten Zeitstruktur eine schwere psychische Belastung dar.« (Jahoda 1983, S. 47) Weil die Zeiterfahrung in modernen Gesellschaften institutionell vermittelt ist, kommt die berufliche Ausgrenzung für die Betroffenen einer Entinstitutionalisierung, einer Ausgrenzung aus dem primären sozialen Kontext gleich, denn »keine andere Technik der Lebensführung bindet den Einzelnen so fest an die Realität als die Betonung der Arbeit, die ihn wenigstens in ein Stück der Realität, in die menschliche Gemeinschaft, sicher einfügt.« (Freud 1955, S. 110)

Zusätzlich zum erlittenen Wirklichkeitsverlust, sowie dem Fortfall betrieblicher Kommunikationsbeziehungen und Erfahrungsdimensionen, reduzieren sich im Verlauf der Arbeitslosigkeit auch die sozialen Bindungen, die außerhalb der Arbeitssphäre angesiedelt waren, weil ein Dispositionskomplex aus Scham und Antriebsschwäche zum resignativen Rückzug in den engsten privaten Lebensbereich führt. Je länger die Ausgrenzung dauert, um so seltener verlassen die Betroffenen ihre Wohnung oder den engen Raum ihres Wohnquartiers: Beschäftigungslosigkeit und Armut isolieren. (Vgl.: Andreß/Lipsmeier u. a., 1995) Vermieden wird der Kontakt auch zur Verwandtschaft und zu engen Freunden. Wenn überhaupt, halten Langzeitarbeitslose Beziehungen nur zu Personen aus ihren früheren betrieblichen Netzwerken aufrecht, die ebenfalls erwerbslos geworden sind. (Vgl.: Andreß 1999) In der von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel Anfang der 30er Jahre, also auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, erstellten Soziographie über »Die Arbeitslosen von Marienthal« wurden grundlegende Einsichten über die Auswirkungen lang andauernder Arbeitslosigkeit vermittelt, die trotz der inzwischen eingetretenen sozio-strukturellen Veränderungen ihre Gültigkeit nicht eingebüßt haben. Es konnten psychische Reaktionen und Verhaltensregressionen beobachtet werden, die bei Arbeitslosigkeit und sozialer Desintegration in vergleichbaren Formen immer noch prägend sind: Die Betroffenen reagieren in der Regel hilflos und lethargisch auf ihr »Schicksal«. Der psycho-soziale Stabilisierungsrahmen, den die Subjekte sich im Laufe ihrer Sozialisation erarbeitet haben, löst sich mit der Dauer der Erwerbslosigkeit zunehmend auf. Der psychische Lebensraum schrumpft zusammen, ein prinzipiell aneignendes Realitätsverhältnis wird von hinnehmenden Haltungen überlagert. Das alltägliche Tätigkeitsspektrum wird enger und auch das politische Interesse bildet sich zurück. »Die Gesinnung wird nicht geändert, sie verliert nur gegenüber den Sorgen des Alltags, an gestaltender Kraft. Es ist, als ob die kulturellen Werte, die im politischen Kampf stecken, erstarrt wären oder sogar wieder primitiveren Formen des Kampfes Platz machten.« (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1973, S. 61)

Die Tatsache, dass den Arbeitslosen der ganze Tag zur freien Verfügung steht, bedeutet nicht, dass mit dem »Zeitgewinn« sinnvoll umgegangen werden kann. Auffassungen, die Arbeitslosigkeit zum neuen Möglichkeits- und Entfaltungsraum verklären, der die Chance zu selbstbestimmter Lebensgestaltung böte, ist bestenfalls naiv. Denn aus ihrem arbeitsgeprägten Lebensrhythmus herausgerissen, verlieren sich die Arbeitslosen in der Zeit, die ohne markante Geschehnisse dahinfließt. Die »Stundeneinteilung [hat] längst ihren Sinn verloren. Aufstehen – Mittagessen – Schlafengehen sind die Orientierungspunkte im Tag, die übriggeblieben sind. Zwischendurch vergeht die Zeit, ohne dass man recht weiß, was geschehen ist.« (Ebd., S. 84) Die Zeitstruktur bricht zusammen und macht einem ziel- und haltlosen »In-den-Tag-Hineinleben« Platz. Die vorherrschende resignative Grundstimmung verhindert die Entwicklung positiver Lebenspläne. Optimistische Zukunftserwartungen spielen »nicht einmal mehr in der Phantasie« eine Rolle. (Ebd., S. 70) Durch die Prozessbeschreibungen der Marienthal-Studie werden die übergreifenden, das individuelle Leben destabilisierenden Auswirkungen der ökonomischen Ausgrenzung deutlich: Einhergehend mit einer institutionellen Ausgrenzung führt sie in weiterer Folge zu sozialen und kulturellen Ausgrenzungstendenzen.

Über Reaktions- und Verarbeitungsmuster die mit den historischen Befunden weitgehend übereinstimmen, berichtet auch ein aktueller Forschungsbericht über die Menschen in den gegenwärtigen »Zonen der Entkopplung«: Ihr Raum und Zeitempfinden degeneriert und »von einem über den Tag hinausreichenden Lebensplan kann im Grunde keine Rede mehr« sein. (Brinkmann/Dörre u. a. 2006, S. 59) Auch wenn das Geld zum Leben knapp reicht, kommen sich die meisten Krisenopfer nutzlos und überflüssig vor. Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit verstärkt sich das Isolationsgefühl und das nicht ohne Grund, denn »die soziale Rolle, die die Gesellschaft für die Arbeitslosen bereithält, ist die des Ausgeschlossenen und zugleich Stigmatisierten.« (Wacker 1976, S. 125) Erst wenn nach einer längeren Leidens- und sozialen Entstrukturierungsphase eine grundlegende Desillusionierung eingetreten ist, beginnt bei den Erwerbslosen die allmähliche Loslösung von den Leitbildern, die ihrem früheren Sozialstatus entsprachen: Wenn notwendig, wird um der Selbsterhaltung willen mit herrschenden Werten gebrochen.

Das sich eingestehen der Randständigkeit eröffnet neue Möglichkeiten individueller Krisenbewältigung. Jedoch bilden sich selbstständig keine widerständigen Orientierungen heraus. Es entwickelt sich vielmehr ein tätiges Weltverhältnis mit regressiver Grundtendenz, das auch weiterhin Momente der Selbstunterdrückung einschließt. In diesen Reaktionsmustern der Krisenopfer schon eine Möglichkeitsbasis für »eingreifendes Handeln« zu sehen (Candeias 2006), stellt nicht nur den Bedeutungsgehalt dieser Kategorie auf den Kopf, sondern ignoriert auch, dass durch die Deprivation und der mit ihr einhergehenden Einengung des Erfahrungshorizontes in der Regel ein kompetentes Verhältnis zur eigenen Lebenssituation erschwert wird. Selbstunterdrückende, auch selbstdestruktive Verhaltensmuster sind nicht unvermeidlich, jedoch wahrscheinlicher, als widerständige Profilierungen. Auf einem adäquaten subjekttheoretischen Niveau reflektiert, wird offensichtlich, dass unter den gegenwärtigen psychosozialen Regulationsbedingungen diese »Restabilisierung der Tätigkeitsregulation um den Preis einer fortschreitenden Zerrüttung der Selbstreflexivität des Individuums« erfolgt (Krauss 1996, S. 137) und sich eher ein Entfaltungsraum für irrationale Denkmuster und Reaktionsformen, als für progressive Orientierungen öffnet. Die herrschenden Dispositionen der Verunsicherung und Resignation bilden eine schlechte Basis der Gegenwehr. Fehlt »erst einmal der Sockel, auf dem die soziale Identität aufbaute, dann wird es schwierig, im eigenen Namen zu sprechen, selbst einfach nur nein zu sagen wird schwierig. Der Kampf setzt die Existenz eines Kollektivs und eines Zukunftsentwurfes voraus.« (Castel 2000, S. 359)

Ob perspektivische Orientierungen sich innerhalb eines »Abgehängten Prekariats« entwickeln können, ist fraglich. Trotzdem stellt es mit seiner aufgestauten Wut (wenn auch gepaart mit Verzweiflung) einen potentiellen Unruhefaktor dar. Es ist bemerkenswert, dass es 2006 in rund einhundert Städten noch Montagsdemonstrationen gegen Hartz-IV gab. Wirksam werden kann dieses Widerspruchspotential jedoch nur in größeren politischen Zusammenhängen. Die Konstitution eines organisatorischen Rahmens ist von einer ganzen Reihe von Voraussetzungen, von organisatorischen und programmatischen Vermittlungen abhängig. Ihr vereinigendes Band ist das Erkennen der im Kern gemeinsamen Interessen von »Integrierten« und Ausgegrenzten. Um die Frage der Entwicklung von Widerspruchs- und politisch relevanten Handlungspotentialen produktiv diskutieren zu können, ist eine Differenzierung der Prekariats-Kategorie in zweierlei Hinsicht notwendig: Zunächst muss berücksichtigt werden, dass die Ausgeschlossenen keine so homogene Gruppe repräsentieren, wie die summarische Rede über sie vermuten ließe. Sie setzt sich aus beruflich Minderqualifizierten, aber auch sozialen Absteigern zusammen, deren Qualifikationen nicht mehr gebraucht werden, oder die aus Krankheitsgründen in ihrem Beruf nicht mehr tätig sein können. Das Prekariat setzt sich aus Jungen und Alten, Alleinerziehern und großen Familien zusammen, deren Lebensunterhalt auch durch reguläre Arbeit nicht mehr zu sichern ist. Eine Differenzierungsnotwendigkeit ergibt sich vor allem jedoch aus der Tatsache des stufenförmigen Charakters des sozialen Abstiegs. Er erstreckt sich von der beruflichen Dequalifizierung über die systematische Verunsicherung, akut drohender Arbeitslosigkeit, bis zum faktischen Ausschluss aus dem Berufsleben. Und auch nach Eintritt der Arbeitslosigkeit durchlaufen die Betroffenen verschiedene Phasen der mentalen und psychischen Verarbeitung ihrer Situation. Eine weitgehende »Randständigkeit«, die den Charakter einer Ausgrenzung aus den gesellschaftlichen »Normalitätszonen« hat, tritt erst nach einer längeren Phase ein. Bevor dieser Zustand einer umfassenden Deprivation erreicht ist, durchleben die Subjekte Lebensabschnitte, in denen die Auflehnungsbereitschaft noch nicht gänzlich abgestorben ist. Hier existieren Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Politisierung, ist ein Bruch mit den selbstunterdrückenden und stagnativen Formen der Krisenverarbeitung möglich. (Vgl.: Krauss 1996, S. 126ff.)

Die krisenförmigen Umgestaltungen der Sozialverhältnisse machen sich jedoch nicht nur innerhalb einer (wie auch immer definierten) »Unterschicht« bemerkbar. »Obwohl Personen in unterer Soziallage … mehr Angst vor Arbeitslosigkeit als Personen in mittlerer oder gehobener Soziallage« entwickeln (Mansel/Endrikat/Hüpping 2006, S. 45), existiert nicht ohne Grund bis weit in die mittleren Gesellschaftslagen hinein eine »Angst vor dem Absturz« (B. Ehrenreich). Immer mehr »Leistungsindividualisten« und ehemals »Zufriedene Aufsteiger« (wie die Gruppen in der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung genannt werden), geraten in den Sog der Verunsicherung. Sie müssen erfahren, dass ihre Qualifikationen sie eben so wenig wie ihr Leistungswillen, vor sozialer Rückstufung schützt. Die krisengeprägten Realitäten von Unter- und Mittelschichten schieben sich ineinander. Zwar ist die Angst vor einem sozialen Abstieg in den unteren Soziallagen mit 65,7 Prozent besonders verbreitet, jedoch auch »die Hälfte (49,6 Prozent) der Personen in mittlerer Lage und ein Drittel (34,2 Prozent) der Personen in gehobener Lage«, äußern ihre Gefährdungsbefürchtungen. (Ebd., S. 49) Und das nicht grundlos, denn es sind gerade Angehörige aus den mittleren Soziallagen, die tief fallen können. Sie gehören jedoch auch zu denjenigen, die sich besonders hartnäckige Illusionen über den strukturellen Charakter ihrer Lage machen. Auch in akuten Gefährdungsphasen klammern sie sich lange an die Hoffnung, doch noch davon zu kommen, oder den Wiederaufstieg zu schaffen.

Dass nun verstärkt die Mittelschichten, die Angestellten und »Sacharbeiter« ins Visier der neoliberalen Kapitalverwertungsstrategen geraten, hat immer häufiger dramatische Konsequenzen: Trotz Milliardengewinnen werden bei den Banken und Versicherungskonzernen zehntausende Stellen, vor allem auch in den qualifizierten Tätigkeitsbereichen abgebaut. Und schon seit längerem ist zu beobachten, dass Teile des selbstständigen »Mittelstandes« zerrieben werden. »405.193 Gründungen von Kleinunternehmen im Jahre 2003 stehen 356.970 Schließungen von solchen Betrieben im gleichen Jahr gegenüber. Und von den 3,13 Mill. überschuldeten Privathaushalten im Jahre 2004 geben 20 Prozent eine gescheiterte Selbstständigkeit als einen Grund für die Überschuldung an«. (Ebd.) Es ist nicht die Regel, hat jedoch symbolische Bedeutung, wenn in den Schlangen vor den Suppenküchen und den staatlichen Tagelöhnervermittlungsbüros eine »weitere soziale Schicht hinzugekommen [ist]: der Mittelstand. Wer heute mit seinem kleinen Geschäft pleitegeht, schafft es seltener als noch vor Jahren, wieder auf die Füße zu kommen. Die soziale Schere geht weiter auseinander, es trifft zunehmend Menschen, die gut ausgebildet sind, aber – aus welchen Gründen auch immer – den Anschluss verpasst haben.« (Schmollack 2006) Das soziale Risiko ist auch für relativ privilegierte Sozialschichten größer geworden, mit aller Wucht trifft es jedoch die unteren Gesellschaftsklassen: »Drei Viertel der dauerhaft und mehrfach armen Personen stammen aus der Arbeiterklasse.« (Klinger/König 2006, S. 108) Auch wenn in der Bundesrepublik mittlerweile Beschäftigungslose im Zeichen eines bescheidenen »Aufschwungs« wieder leichter eine Arbeit finden, erreichen sie nur selten eine Erwerbsposition, die sie vor kürzerer oder längerer Frist gezwungenermaßen aufgegeben haben. Von der positiven Arbeitsmarktentwicklung profitieren vorrangig Lohnabhängige die kurzfristig arbeitslos waren, oder deren Beschäftigungsverhältnis akut bedroht ist. An den Langzeitarbeitslosen gehen positive Trends am Arbeitsmarkt weitgehend vorbei, weil sie aufgrund ihrer psychischen und mentalen Veränderungen vom Management als kaum mehr integrationsfähig eingeschätzt werden.

Was in diesen Entwicklungen offensichtlich wird, hat sich seit den 80er Jahren schon als Trend abgezeichnet. Besonders klare Konturen hatte diese regressive Veränderungsdynamik der Arbeitswelt in den Vereinigten Staaten: Während in einer langen Abstiegsphase 60 Millionen Arbeitsplätze verschwanden, sind danach nur 46 Millionen neue entstanden, von denen über die Hälfte eine geringere Qualifikationsstruktur, als die »abgebauten« aufwiesen. Die reine Erscheinungsebene betrachtend lässt sich konstatieren, dass »die Arbeitslosigkeit am Ende des 20. Jahrhunderts in Europa … einen tiefgreifenden Einschnitt in der gesellschaftlichen Organisation der Erwerbsarbeit [markiert]. Sie lässt sich weder allein aus dem wirtschaftlichen Zyklus erklären, noch entspringt sie gar, wie in den späten 20er Jahren, einer wirtschaftlichen Depression. Stattdessen koexistierte sie lange Zeit mit wachsendem gesellschaftlichen Reichtum und steigenden Aktienkursen« (Kronauer 2002, S. 101), weil massenhafter Arbeitsplatzabbau als Ausdruck effektiven, weil profitsteigernden Wirtschaftens angesehen wird. Den öffentlichen Klagen über die Verarmungstendenzen und der halbherzigen Diskussion über Mindestlöhne zum Trotz, ist der Abbau von »Normalarbeitsplätzen« und ihre Ersetzung durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse (mit Kostenvorteilen für die Unternehmen) von den neoliberalistischen Umgestaltungsstrategien (und den sie unterstützenden staatlichen »Reformen«) ebenso intendiert, wie die Zunahme entsolidarisierender Trennungslinien in der Arbeitswelt: »Eine schrumpfende Stammbelegschaft konkurriert neuerdings in vielen Unternehmen mit den Aushilfskräften von Leiharbeitsfirmen, die je nach Bedarf ein- und ausgewechselt werden.« (Der Spiegel, Nr. 49, 2006, S. 89)

In den letzten drei Jahrzehnten haben sich (zunächst schleichend, dann mit zunehmendem Tempo) zwei Beschäftigungssegmente herausgebildet: »Einen aus qualifizierten, besser bezahlten, besser abgesicherten und relativ stabilen Elementen gebildeten ›primären‹ Markt sowie einen ›sekundären‹, bestehend aus prekären, weniger qualifizierten, direkt den Nachfrageschwankungen ausgesetzten Beschäftigten.« (Castel 2000, S. 355) Beide Segmente weisen eine Vielzahl von internen Abstufungen und Differenzierungsformen auf, sie sind jedoch vor allem hinsichtlich der Beschäftigungs(un)sicherheit klar voneinander zu trennen. Gegenüber der Zustandsbeschreibung Castels hat sich auch die Bedeutung der individuellen Qualifikationsstruktur für die Positionierung im Berufsleben in den letzten Jahren signifikant verändert. Zwar resultieren aus anspruchsvollen Bildungs- und Ausbildungszertifikaten bessere Beschäftigungschancen, jedoch existiert kein Aufstiegs- und beruflicher Integrationsautomatismus mehr. Es gibt in vielen Bereichen des Berufslebens mittlerweile schnelle Veränderungen der Anforderungsprofile und immer häufiger werden nur noch Bewerber mit »punktgenauen« Fähigkeiten und Fertigkeiten eingestellt. Die Verallgemeinerung eines kurzfristigen Renditedenkens hat die Bereitschaft schwinden lassen, geeignetes Personal perspektivisch auf eine Aufgabe vorzubereiten. Auch Hochqualifizierte können deshalb leicht durch die jeweils aktuellen Erwartungsraster fallen und gezwungen sein, mit befristeten Einstellungsverträgen vorlieb nehmen zu müssen. Das muss keine berufliche Endstation sein. Wer jedoch erst einmal in einem Vertragsarbeiterverhältnis gelandet ist, hat es schwer wieder in eine Festanstellung zu wechseln. Nicht selten sind (ähnlich wie bei längerer Arbeitslosigkeit) in einem negativen Sinn, die Weichen für den weiteren Berufsweg gestellt. »Manche prekär Beschäftigten schaffen den Aufstieg in die ›Zone der Integration‹, manche stürzen in die ›Zone der Entkoppelung‹ ab, aber immer mehr von ihnen bleiben dauerhaft in diesen Zwischenstatus der Prekarität gefangen – jedenfalls hat zwischen 1996 und 2001 nur noch ein Drittel der Geringverdiener (und damit ein deutlich geringerer Anteil als früher) seine Position verbessert«. (Mayer-Ahuja 2006, S. 135)

Die Existenz wirkungsmächtiger Demarkationslinien zwischen den Beschäftigungssegmenten, die nicht ohne weiteres überwunden werden können, drückt sich auch darin aus, dass gerade die in ihnen Beschäftigten ein untrügliches Bewusstsein darüber besitzen, welchem Bereich der Arbeitswelt sie angehören. Beschäftigte im »primären« Sektor verwenden viel Energie darauf, den erreichten Status abzusichern. Nicht geringer sind die Anstrengungen vieler Lohnempfänger im »Sekundärbereich«, um in der Hierarchie der Berufswelt (wieder) aufzusteigen, beispielsweise als Leiharbeiter eine Festanstellung zu erhalten.

Von dieser »Dynamik« sozialer Zurückstufung war in der Prekarisierungsdebatte bestenfalls am Rande die Rede. Wenn überhaupt grundlegende gesellschaftliche Aspekte angedeutet wurden, dann nicht, um zu deren tieferem Verständnis beizutragen, sondern um die herrschenden Desorientierungen zu bestätigen. Aufschlussreich für dieses Bemühen war ein Satz in der FAZ: Die Ausgegrenzten, so die Bemerkung, würden »keinen erkennbaren Platz in irgendeinem Produktionsvorgang mehr haben«. (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.10.2006) Diese Beobachtung ist zwar nicht unbedingt falsch, irreführend jedoch der Eindruck, der damit erzeugt werden soll: Soziale Ausgrenzungsprozesse stünden in keinem Vermittlungsverhältnis zur Produktionssphäre, überhaupt zur Arbeitswelt mehr und hätten auch nichts mit klassengesellschaftlichen Strukturen, nichts mit Ausbeutung und Mehrwertaneignung, nichts mit dem Konfrontationsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zu tun. Solch journalistische »Offensive« weist nicht zufällig Parallelen mit einer neuen Sprachregelung in den akademischen Sozialwissenschaften auf: Seitdem der neue Ungleichheits- und Verelendungsschub nicht mehr ignoriert werden kann, wird von einer veränderten »Qualität der Ungleichheit« gesprochen, die nicht mehr aus den alten Klassenwidersprüchen zu erklären sei. Nicht mehr der Gegensatz von »Oben« und »Unten« sei prägend, sondern die Dynamik von Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Es werden neue Sozialmythologien produziert, um den Klassencharakter der Ausgrenzung überspielen zu können: Behauptet wird »eine neue Realität, für deren Beschreibung neue Begriffe notwendig sind: Statt des ›Mehr und Weniger‹ von Arm und Reich, statt der Hierarchie von ›Oben und Unten‹ – wie sie die traditionelle Ungleichheitsforschung unterstellt – zeichne sich eine Spaltung der Gesellschaft ab, in ein ›Drinnen‹ und ein ›Draußen‹, in Zugehörige und Ausgegrenzte. Damit verändert sich das Gesicht der ›sozialen Frage‹. Ging es vordem um die ungleiche Verteilung der Früchte der Arbeit, also um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen Kapital und Arbeit, so geht es heute um den Ausschluss von Arbeit; wurden früher die Arbeitsbelastungen kritisiert, so heute der Mangel an Arbeit beklagt; war früher die Kritik auf eine Änderung der Gesellschaft gerichtet, so zielt sie heute auf Zugang zu den Institutionen der Gesellschaft; wurden früher Ausbeutung und Gerechtigkeit thematisiert, so geht es heute um die Existenz einer anscheinend ›überflüssigen‹ Gruppe, die nicht einmal mehr Objekt der Ausbeutung werden kann«. (Häußermann/ Kronauer/Siebel 2004, S. 8)

Es ist offensichtlich: Bei dieser Positionierung wird die systemtheoretische (angeblich durch eine »neutrale Beobachterperspektive« gekennzeichnete) Sichtweise von Luhmann übernommen, der gegenüber einer kritischen Auffassung, die den Zusammenhang von Klassen- und Ausbeutungsverhältnissen thematisiert, feststellt, dass von Ausbeutung (und selbstredend von klassengesellschaftlichen Gründen für die gesellschaftlichen Spaltungs- und Marginalisierungsprozesse) ja wohl nicht die Rede sein kann, wenn bei stationärer Randständigkeit und flächendeckender Bedürftigkeit – wie in den Elendsquartieren einer sogenannten 3. Welt – überhaupt kein Beschäftigungsverhältnis (mehr) existiere: »Wir wissen: es ist von Ausbeutung die Rede oder Strategien der Verunsicherung oder von ›Marginalisierung‹, von einer Verschärfung des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie. Das alles sind jedoch Theorien, die noch vom Desiderat der Allinklusion beherrscht sind und folglich Adressaten für Vorwürfe suchen. Der Kapitalismus, die herrschende Allianz von Finanz- und Industriekapital mit dem Militär oder mit den mächtigen Familien des Landes. Wenn man jedoch genau hinsieht, findet man nichts, was auszubeuten oder zu unterdrücken wäre. Man findet eine in der Selbst- und Fremdwahrnehmung aufs Körperliche reduzierte Existenz, die den nächsten Tag zu erreichen sucht. Um zu überleben, braucht man Fähigkeiten zur Gefahrenwahrnehmung und zur Beschaffung des Nötigsten; oder auch Resignation und Gleichgültigkeit in Bezug auf bürgerliche Bewertungen«. (Luhmann 1996, S. 227f.)

Richtig ist Luhmanns Beobachtung, dass auf der Wahrnehmungsebene für viele der extremsten Elendsformen an den »Rändern« des imperialistischen Weltsystems Ausbeutungsstrukturen keine sichtbare Rolle mehr spielen. Jedoch ist dies eine banale »Wahrheit«, die nur solange funktioniert, wie die sozio-ökonomischen Zusammenhänge, die solche Regionen der Verlorenheit »produzieren«, ignoriert und durch ein sozialtheoretisches Konstrukt mit selektivem Realitätsbezug verdrängt werden. Solche Auffassungen von einem Bedeutungsverlust der Klassenfrage, ja von Macht und Herrschaft überhaupt, ignorieren die Prägekraft der Strukturierungsprinzipien, die in ihrer kapitalistischen Form ein Gewaltverhältnis darstellen, weil ökonomische Verwertungsrationalität über die menschlichen Lebens- und Entfaltungsinteressen dominiert und die von einer Geldelite immer häufiger ohne regulierende Einflüsse zur Geltung gebracht wird. Die Aussagen über eine »neue Qualität der Ungleichheit« besitzen nur solange eine gewisse Evidenz, wie der soziale Reproduktions- und klassengesellschaftliche Strukturierungsprozess nicht in seiner Gesamtheit betrachtet wird.

Denn tatsächlich ist das Anwachsen der Gruppe der Marginalisierten die Konsequenz eines veränderten Akkumulationsregimes, Ausdruck des Wechselspiels von Krise und Ausbeutung. Die bloße Gegenüberstellung einer kleineren Gruppe der »Ausgeschlossenen« und einer mehrheitlichen Gruppe der »Inkludierten« unterschätzt »die ökonomischen und sozialen Probleme der Letztgenannten in einer massiven Weise. Es wird unterstellt, dass die Inkludierten nicht mit den Problemen einer Klassengesellschaft konfrontiert wären – dass, wenn sie nur den Übergang von den Zonen der Exklusion in die inklusive Welt der Majoritätsgesellschaft schafften, auch der Rest ihrer Probleme verschwinden würden.« (Joung 2005, S. 9) Weil die Prekarisierungstendenzen nur der sichtbarste Ausdruck radikalisierter Kapitalverwertungsstrategien sind, deren Konsequenzen die Lohnabhängigenklasse in ihrer Gesamtheit treffen, kann von einer isolierten Wirkung jedoch keine Rede sein. Wenn eine »kritische Exklusionstheorie« ihren Anspruch bei der Beschäftigung mit den Ausgrenzungs- und Marginalisierungsproblemen »vom Rand her ins gesellschaftliche Zentrum vorzudringen« (Kronauer 2006, S. 30) ernst meinte, dann müsste sie exakt diesen Fragen der strukturell verfestigten Herrschafts- und Ausbeutungsproblematik nachspüren. Und dabei müssten dann schon etwas konkreter die »Instanzen [benannt werden], in denen darüber entschieden wird, ob und welche Arbeitsplätze geschaffen oder vernichtet werden« (ebd., S. 36) und intensiver über die gesellschaftliche Gestaltungsmacht des Kapitals berichtet werden, als das gewöhnlicherweise geschieht. Solange dies nicht (oder nur in unzureichendem Umfange) geleistet wird, eignet sich der mit der Exklusions-Kategorie gesetzte Theorierahmen vorzüglich zur Legitimierung eines reduktionistischen Gesellschaftsverständnisses, d. h. zur isolierenden Darstellung von Ausgrenzung und Marginalisierung.

Selten wird das so deutlich, wie bei Serge Paugam, einem französischen Soziologen, der in akademischen Kreisen auch als »kritischer Exklusionsforscher« gehandelt wird: »Während der Begriff der Ausgrenzung immer noch auf das Thema der Ungleichheit Bezug nimmt, geht er [der Exklusionsbegriff] zugleich darüber hinaus, indem er ihnen [den Ausgrenzungsprozessen] einen neuen Sinn gibt [!], der sich nicht mehr vorrangig auf der Interessenopposition zwischen sozialen Gruppen und dem Kampf um soziale Anerkennung begründet, sondern vielmehr auf der Schwäche, dem Fehlen von organisierten Forderungen und sozialen Bewegungen, die in der Lage wären, in benachteiligten Gruppen den Zusammenhalt zu stärken und eine Gruppenidentität zu schaffen.« (Paugam 1998, S. 133f.) Richtige Beobachtungen über die Spaltungs- und Desintegrationseffekte werden mit falschen Schlussfolgerungen vermengt, so dass vor allen Dingen unbenannt bleibt, dass sozialer Ausschluss und ein Klima der Verdrängung Funktionselemente kapitalistischer Vergesellschaftung sind, ihre Ursache ein veränderter Akkumulationsmodus und die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit ist.

VII. Die soziale Rückstufungstendenz und die massive Absenkung des Anteils der abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt entspricht dem Kalkül der neoliberalistischen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. (Vgl.: Lühr 2006) Ein Zwischenziel war zunächst der Abbau übertariflicher Bezahlung, die in Zeiten, die für die Durchsetzung der Interessen der Lohnabhängigen günstiger waren, erstritten werden konnten. Aber wie gesagt, handelte es sich dabei nur um ein Etappenziel: So viele Zugeständnisse aus den Zeiten des Prosperitätskapitalismus wie möglich, sollten wieder »eingesammelt«, und die Reduktion der »Lohnquote« strukturell abgesichert werden. Die Akteure des Sozialumbaus haben die sich aus der sozio-ökonomischen Widerspruchsentwicklung ergebenden Möglichkeiten konsequent beim Schopfe gefasst. Nach fast zwei Jahrzehnten einer kontinuierlichen Erhöhung der Arbeitslosenzahlen, sah das Unternehmerlager die Zeit gekommen, die sozialpolitischen Zugeständnisse aus der Zeit des Prosperitätskapitalismus aufzukündigen.

»Wir müssen die Krise jetzt nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif«, forderte 1993 der damalige BDI-Präsident Necker. Den durch Arbeitslosigkeit und soziale Statusbedrohung verunsicherten Beschäftigten konnten immer weitere »Zugeständnisse« abgerungen werden und – wie von den aggressiven Umwälzungsstrategien intendiert – der Anteil der abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt nachhaltig reduziert werden: Während sie in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Höchststand mit 73,7 Prozent erreichte, betrug sie 1997 nur noch 67,7 Prozent und ist seitdem weiter gefallen: »Nie seit 1991 war die Lohnquote so niedrig und die Gewinnquote so hoch« wie 2004 und in den Folgejahren. (Schmid 2005) War die neoliberalistische Umgestaltungs- und Umverteilungsoffensive auch unmittelbar durch die Absicht motiviert, die in den Zeiten des Prosperitätskapitalismus durchgesetzten »sozialstaatlichen« Regulationsformen, die zu einem historischen Höchststand der Partizipation der abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt (zunehmend auf Kosten der Profitrate) geführt hatten, grundlegend zu verändern, so muss sie dennoch auch als Reaktion auf ein ganzes Bündel anderer Tendenzen begriffen werden, die den kapitalistischen Akkumulationsprozess beeinträchtigten. An dieser Stelle müssen einige Stichworte zu ihrer Charakterisierung genügen: Eine objektive Schranke der Kapitalverwertung liegt darin, dass für die Reproduktion des Kapitalverhältnisses ein steigender Anteil des Sozialprodukts aufgewandt werden muss, so dass im Sinne kapitalistischer Verwertungslogik tatsächlich die Verteilungsspielräume enger geworden sind. Große »Reibungsverluste« entstehen beispielsweise durch das konkurrenzbedingte Innovationsstreben bei der Produktentwicklung, durch das immer öfter nur Pseudoneuheiten hervorgebracht werden, die sich trotz intensiver Werbemaßnahmen auf dem Markt nicht etablieren können. Auch durch die Rücksichtslosigkeit gegenüber Mensch und Natur entstehen Schäden, die, wenn überhaupt, nur mit steigendem Aufwand beseitigt werden können. Auch die Profitrealisierung gestaltet sich angesichts der Überproduktionstendenzen immer schwieriger. Ganze Heerscharen von Designern, Produktentwicklern, Werbestrategen etc. sind notwendig, um ein Image-Produkt, dass für wenige Euro in Asien hergestellt wird, für das Hundertfache der Gestehungskosten in den Metropolen an den Mann und die Frau bringen zu können. Auch die ausufernde Finanzsphäre, die sowohl für den reibungslosen Kapitalfluss innerhalb eines grenzenlos gewordenen und sich beschleunigenden Verwertungskreislaufs sorgt, aber auch die Zirkulation realwirtschaftlich temporär profitabel nicht anzulegender Kapitalüberhänge gewährleistet, beansprucht für diese »Dienstleistungen« zunehmende Teile der Mehrwertmasse.

Die Reproduktion des entwickelten Kapitalismus ist u. a. aus diesen Gründen mit einer allgemeinen Wohlstandsreduktion verbunden. In der Ideologie des Neoliberalismus findet diese Tatsache ihren programmatischen Ausdruck in der penetranten Parole, die »Gürtel enger zu schnallen« (die natürlich nur an die Subalternen gerichtet ist). Überlagert werden diese Tendenzen durch eine Verwertungsbarriere, die durch den tendenziellen Fall der Profitrate gesetzt ist. Marx hat ihn als das »in jeder Beziehung … wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie« bezeichnet (Marx 1953, S. 634) In Umrissen lässt es sich folgendermaßen beschreiben: Konkurrenzbedingt existiert für die kapitalistischen Akteure der Zwang zur immer schnelleren Erneuerung der Produktionsmittel. Die Konkurrenzanordnung zwingt die Unternehmer, wie Marx betont, die alten Arbeitsmittel vor ihrem natürlichen Lebensende durch neue zu ersetzen. Weil jedoch jede neue Maschinengeneration technisch anspruchsvoller als die vorhergehende ist, gestaltet sich ihr Preis höher und ihr Erwerb zwangsläufig kapitalintensiver. Der wachsende Investitionsaufwand bedeutet ökonomietheoretisch gesprochen, dass der Anteil des konstanten (investiven) Kapitals am Gesamtinvestitionsvolumen sich vergrößert. Eine Konsequenz ist, dass ein wachsender Teil des Mehrproduktes in die technischen Anlagen, also die erweiterte Reproduktion investiert werden muss. Durch die Intensivierung der Ausbeutung, durch verlängerte Arbeitszeiten und Maschinenlaufzeiten, nicht zuletzt auch durch reduzierte Löhne, versucht das Kapital diesen »Verlust« auszugleichen und seine Profitabilität zu sichern. In einem elementaren Sinne aktualisiert des Kapital Praktiken aus seiner historischen Durchsetzungsphase zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert: Sinkende Reallöhne werden wieder zu einem zentralen Moment des Akkumulationsprozesses.

Alleine durch die Intensivierung der Ausbeutung und die Reduzierung der »Lohnquote« gelingt es den kapitalistischen Akteuren jedoch nicht, die erforderlichen Kapitalmassen zu erwirtschaften, um den steigenden Investitionsaufwand bewältigen zu können. Die Unternehmen sind vielmehr zunehmend zur Kreditaufnahme bzw. zur Verbreiterung ihrer Kapitalbasis durch Aktien oder Beteiligungen genötigt. Sie sind auf die internationalen Finanzmärkte angewiesen und gezwungen, sich deren Regeln zu unterwerfen. Dieser Druck wird unmittelbar auf die Betriebe und Belegschaften übertragen, als »objektiver« Zwang zur Rentabilität inszeniert, d. h. in der Regel zum Arbeitsplatzabbau und zur Leistungsintensivierung. Dieser »neue« Druck ist nichts anderes, als der gewöhnliche kapitalistische Leistungs- und Anpassungszwang unter veränderten Akkumulations- und Regulationsbedingungen. In dem gleichen Maße, wie durch das Konkurrenzverhältnis die ökonomischen Protagonisten zur Steigerung des Mehrwerts gezwungen werden, muss aus den Arbeitenden ein Maximum an Leistung herausgepresst werden. Selektion des Personals und Ausgrenzung der »Überflüssigen« sind ihre zwangsläufigen Konsequenzen, wie schon Gramsci vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit einem sich entwickelnden »Fordismus« prognostizierte: »Unausweichlich wird es eine verstärkte Auslese geben, ein Teil der alten Arbeiterklasse wird unerbittlich aus der Welt der Arbeit … eliminiert.« (Gramsci 1999, S. 2086f.) Der gegenwärtige Kapitalismus funktioniert als Ausgrenzungsmaschine – und die Produktion von Randständigkeit zählt zu seinen Funktionsmomenten. »Die enorme Zerstörung physischpsychisch-geistiger Produktivkraft, die dabei zu dem Zweck stattfindet, der Gesellschaft ihre Produktivität zu erhalten, zeugt davon, wie wenig die alte Spannung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen … auch nur im mindesten behoben ist und wie reich nur die Formen sind, in denen sie sich immer katastrophischer entlädt.« (Türcke 1995, S. 52f.) VIII. Prägendes Merkmal der gegenwärtigen kapitalistischen Ausbeutungsdynamik und Basis der Herrschaftsperpetuierung ist ein selektiver Zugriff auf die Arbeitskräfte: In den auf Vordermann gebrachten betrieblichen Ausbeutungsstrukturen ist nur noch für die hundertprozentig Leistungsfähigen Platz. Die Älteren und die gesundheitlich Angeschlagenen, alle die nicht »wendig« und »flexibel« genug sind, werden »aussortiert« und den Sozialkassen überantwortet. Diese Verfügungsgewalt über andere Menschen, macht den Kern bürgerlicher Klassenherrschaft aus. Ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts und ein mehr oder weniger an Lebenschancen sind dagegen »abgeleitete« Ergebnisse dieses herrschaftsdeterminierten Gesellschaftsgefüges. Dass die »Freisetzungen« und Ausgrenzungen nur als vermittelter Ausdruck kapitalistischer Ausbeutungsmechanismen und der Strukturen der Mehrwertaneignung begriffen werden können, zeigt sich besonders auffällig in der Intensivierung und »Verdichtung« der Arbeit für die nach einer »Rationalisierungswelle« weiter Beschäftigten. Die teilweise dramatisch reduzierten Belegschaften werden gezwungen, immer mehr und immer Besseres zu leisten. In vielen industriellen Bereichen muss ein Beschäftigter, der vor wenigen Jahren noch für eine Maschine zuständig war, mittlerweile zwei oder drei bedienen.

Die neoliberalistischen Strategien haben nicht nur die Arbeitswelt verändert. Die ausbeutungsorientierten Umgestaltungsinitiativen erfordern gleichzeitig eine Umstrukturierung der Lebensverhältnisse. Denn wenn innerhalb des Arbeitsprozesses die Leistungspotentiale optimal ausgeschöpft werden sollen, müssen die Alltagsverhältnisse mit den strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt korrespondieren: Wenn die Arbeitszeiten »flexibilisiert« (und das bedeutet fast immer, dass sie »entgrenzt« werden und neue Belastungen für die Beschäftigten entstehen), bedarf es beispielsweise auch der Anpassung von Ladenöffnungszeiten. Schon hierin zeigt sich, dass »Neoliberalismus« nicht nur ein ökonomisches System, sondern auch ein sozialer und kultureller Umwälzungsvorgang ist, dessen Antriebsenergie die Inszenierung eines allgegenwärtigen Druck- und Bedrohungsszenariums ist. Die »Kollateralschäden« der Umgestaltungen, die Verarmungstendenzen und die Entstehung von Zonen der Entkoppelung stellen keine »Entgleisungen« der neoliberalen Umgestaltungsstrategien dar, sondern sind deren notwendiger Bestandteil. Denn für die ausbeutungsorientierte Transformation der Sozialverhältnisse ist die Vergrößerung der sozialen Unterschiede und die Institutionalisierung der existentiellen Unsicherheit von grundsätzlicher Bedeutung. Wenn die sozialen Errungenschaften eingeschränkt und das Lohnniveau abgesenkt, die Ausbeutungsrate erhöht und die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Beschäftigten eingeschränkt werden sollen, muss es Ungleichheit und Ausgrenzung, auch spürbare Formen der Bedürftigkeit und Armut geben : Nur wenn durch Einschüchterung und Ängste die Artikulation der eigenen Interessen erschwert wird, können die Menschen so gefügig gemacht werden, dass die universale Verfügbarkeit über die Arbeitskräfte und die vollständige Einordnung des menschlichen Lebensrhythmus in den sich beschleunigenden Kreislauf der Kapitalakkumulation durchgesetzt werden kann. Schon 2003 stellte eine Allensbach-Studie bei 71 Prozent der Befragten die Bereitschaft fest, für »sichere Arbeitsplätze« ohne Lohnausgleich, länger zu arbeiten. Die Einschüchterung durch Verunsicherung funktioniert besonders effektiv, weil sich der Eindruck einer gesellschaftspolitischen Alternativlosigkeit verallgemeinert hat. Das Schlagwort vom »Ende der Utopien« hat reale Ursachen: In ihm kommt zum Ausdruck, dass durch die unmittelbare Lebenspraxis keine perspektivische Zuversicht mehr vermittelt wird, wie es in der Phase des Prosperitätskapitalismus noch der Fall gewesen ist. Auch diese kapitalistische Entwicklungsphase war nicht frei von Krisentendenzen, jedoch konnten beispielsweise die von Rationalisierungsmaßnahmen Betroffenen realistischerweise davon ausgehen, nicht all zu tief zu fallen. Oft waren betriebliche Umgestaltungen mit Aufstiegschancen verbunden und wer arbeitslos wurde, konnte mit einer schnellen Wiedereingliederung rechnen.

Mittlerweile sind jedoch die sozialen Risiken bei Brüchen in der Arbeitsbiographie unkalkulierbar geworden. Es dominiert »die Angst, überflüssig zu sein, oder zurückgelassen zu werden« (wie es die angesprochene Allensbach-Studie ausdrückt), weil der herrschende Block keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass der Kapitalismus in seinem gegenwärtigen Entwicklungsstadium, nicht mehr alle Arbeitskraftverkäuferinnen und -verkäufer benötigt und seine Protagonisten auch bereit sind, die Abkoppelung großer Sozialschichten in Kauf zu nehmen. Verbunden mit dieser Haltung ist der Abschied von der gesellschaftlichen Selbstverpflichtung einer materiellen Grundsicherung für alle, die sich auch in dem Bestreben äußert, die sozialen Hilfeleistungen, unter das existenziell notwendige abzusenken. Der Präsident eines Bundesverbandes der Deutschen Industrie (M. Rogowski) war nicht der einzige, der eine Absenkung des Arbeitslosengeldes um (mindestens) 25 Prozent – und somit auf ein Elendsniveau – gefordert hat. Pierre Bourdieu hat die Konsequenzen dieser Strategien der Verunsicherung auf ihren machttheoretischen Punkt gebracht: »Die Prekarität ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf die Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer … zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen.« (Bourdieu 1998, S. 100). Denn die Verallgemeinerung von Unsicherheit führt dazu, dass die Bedrohten, in der Hoffnung, dem sozialen Absturz doch noch entkommen zu können, Konzepten und Veränderungen zustimmen, die ihrer eigenen Interessenlage elementar widersprechen.

Die aktuellen Prozesse sozialer Ausgrenzung sind so strukturiert, dass eine Bereitschaft zur Selbstunterdrückung erzeugt wird. In der Verallgemeinerung selbstrepressiver Verarbeitungsformen wird das »Erfolgsgeheimnis« spätkapitalistischer Systemreproduktion (die schon funktionierte, bevor der Begriff »Neoliberalismus« in aller Munde war) deutlich: Er erzwingt Anpassung durch verunsichernde Konfrontationsstrategien: Gesellschaftspolitischer »Konsens« wird vorrangig nicht durch intellektuelle »Überzeugungsarbeit« und ideologische Beeinflussung, sondern durch massenpsychische Formierung hergestellt. Traditionelle ideologische Vermittlungsformen spielen zwar auch eine Rolle (der »Neoliberalismus« stellt eine geradezu klassische Form konzeptioneller Ideologie dar), jedoch sind der inhaltlichen »Überzeugungsarbeit« der gleichgeschalteten Medienapparate und einer fast vollständig formierten öffentlichen Debatte, ideologische Anpassungsbereitschaft fördernde Verängstigungen und aus ihnen resultierende irrationalistische Reaktionsmuster vorgelagert. (Vgl.: Hahn 2006) Spaltung, Fragmentarisierung und Abkoppelung sind gleichzeitig Mechanismen der Kanalisierung gesellschaftlicher Widersprüche. Sie bewirken die »Individualisierung« der Konflikte und eine Spaltung der Krisenopfer. Durch die Komplettierung ihrer Ausgrenzung durch Selbststigmatisierung und Rückzugstendenzen, wird der herrschende Block in der BRD von der Notwendigkeit entlastet, im großen Umfang offene Repressionsmaßnahmen einzusetzen, wie es in den USA geschieht, wo die fehlenden sozialen Sicherungssysteme durch kriminaltechnische Erfassungsnetze ersetzt werden, um die Ausgegrenzten unter Kontrolle zu halten und disziplinieren zu können. In »Verbrecherkarteien« wurden schon am Ende 20. Jahrhunderts die Daten von 30 Millionen Personen (das sind 30 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung) erfasst. Sie bilden die Grundlagen für eine Inhaftierungspraxis, für die es in vergleichbaren Industriestaaten keine Beispiele gibt: Anfang 2006 waren 2,3 Millionen Menschen in US-amerikanischen Gefängnissen eingeschlossen, zum Teil, »weil selbst Biertrinken im Park zu Haftstrafen führen kann.« (Der Spiegel, Nr. 25/2007, S. 112) Es sind 4 bis 5 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung (mit einem weit überproportionalen Anteil von Farbigen), die von Fall zu Fall von einer Gefängnisindustrie »entsorgt« werden, die zunehmend privatwirtschaftlich organisiert wird. (Vgl.: Wacquant 1999 und Davis 2004) »Das massive, in den Achtzigerjahren begonnene Projekt des Gefängnisbaus schuf die Mittel zur Konzentration und Verwaltung der Elemente, die das kapitalistische System stillschweigend zum menschlichen Überschuss erklärt hatte.« (Davis 2007, S. 60) Ein »abgehängtes Prekariat« taucht hier in Gestalt einer weggeschlossenen und strafrechtlich bearbeiteten »Überschussbevölkerung« (Marx) wieder auf. In diesem Gefängnissystem haben auch profitable »Beschäftigungsprogramme« ihren Platz: Für Lohnkosten von einem Dollar und weniger, haben Großkonzerne wie beispielsweise Microsoft unmittelbaren Zugriff auf die Arbeitskraft der Gefangenen. Für reibungslosen Nachschub sorgt eine Rechtsprechung, die Wiederholungstäter bei der dritten Straftat für 25 Jahre oder gar lebenslänglich inhaftiert, auch wenn es sich um Bagatelldelikte handelt.

Bei einem realistischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und einer analytischen Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen wird offensichtlich, dass die Prekarisierungs- und Verarmungsprozesse als Ausdruck einer grundlegenden Veränderung der klassengesellschaftlichen Regulationsformen begriffen werden müssen. Und gemessen an den (zumindest in den Metropolenländern) erkämpften Standards, sind sie auch als Symptome einer sozialpolitischen Rückschrittstendenz zu begreifen: Neoliberalismus und Prekarisierung sind die beiden Seiten der gleichen Medaille. Der französische Soziologe Alain Touraine hat von einer Dreiteilung der Gesellschaft in den Arbeitsverhältnissen gesprochen. Faktisch handelt es sich dabei natürlich um eine Umgestaltung der Klassengesellschaft, die auf der Wahrnehmungsoberfläche als Prozess von Privilegierung auf der einen, sowie Statusentwertung und sozialer Gefährdung auf der anderen Seite erscheint. Neue Differenzierungslinien verlaufen sowohl zwischen dem herrschenden Block (der ebenfalls in der skizzierten Weise einer strukturellen Neuausrichtung unterworfen ist) und den Lohnabhängigen, jedoch auch mitten durch die diversen Schichten der Klasse der Arbeitskraftverkäuferinnen und -verkäufer. Wie schon angedeutet wurde, kristallisiert sich ein Gesellschaftsgefüge heraus, das aus einem gutsituierten knappen Bevölkerungsdrittel besteht (und auch die herrschende Klasse und ihre Funktionseliten umfasst). Ein weiteres Drittel kann phasenweise mit auskömmlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen rechnen, doch sind dessen »Lebenslagen« alles andere als sicher, weil die soziale Existenz permanent von Dequalifizierungs- und sozialen Absturztendenzen bedroht ist. Wenn ihre Fertigkeiten und Leistungspotentiale nicht mehr benötigt werden, sind die Angehörigen dieser neuen »Zwischenschicht« akut von sozialer Rückstufung bedroht. Übrig bleibt ein Restdrittel, das als ökonomische Dispositionsmasse dient und kaum noch Chancen besitzt, den Zonen der Bedürftigkeit und existenzieller Unsicherheit jemals entkommen zu können. Vor allem der Übergang zwischen dem unteren und dem mittleren Drittel ist fließend, weil die Zonen der Sicherheit schrumpfen. Ob die Verschlechterung der Lebensverhältnisse und die Verallgemeinerung von Unsicherheit als bloße Übergangserscheinungen begriffen werden können, ist in hohem Maße fraglich. Denn die Kapitalakkumulation kann auf dem zur Systemproduktion notwendigen Niveau nur noch durch Aktivitäten mit makroökonomisch und daraus folgend auch sozio-kulturell destruktiven Konsequenzen funktionieren. Eines ihrer Charakteristika ist die Konzentration auf hochprofitable »Kerne«, in Kombination mit arbeitsplatzvernichtenden Rationalisierungsstrategien. Die neoliberalistische Verwertungsperspektive wirkt gesamtgesellschaftlich als Entwicklungshypothek, weil dem Imperativ einer kurzfristigen Profitmaximierung immer öfter nur um den Preis eines Verzichtes auf Zukunftschancen entsprochen werden kann: Es wird auf Forschungsvorhaben, Ausbildung des Personals, aber auch perspektivische Investitionsprogramme verzichtet. Nicht selten wird gegenwärtig auch von der Substanz einer über lange Zeiträume angehäuften Mehrwertmasse (die betriebswirtschaftlich als »stille Reserven« bezeichnet werden) gezehrt. Diese Prozesse werden durch das Spekulationskapital beschleunigt, das bei seinen Aktivitäten nicht selten eine Spur der Verwüstung hinterlässt.

Der Kapitalismus mutiert zu einem Raubsystem, sichert temporäre Akkumulationserfolge durch Ressourcenzerstörung sowohl in der Peripherie als auch im Zentrum – er kehrt auch in dieser Hinsicht zu seinen Anfängen zurück, als Raub und Handel noch eine untrennbare Einheit bildeten. (Vgl.: Biermann/Klönne 2005) Das moderne Raubsystem mag Grenzen haben und es scheint auch der Punkt erreicht zu sein, wo große Massen des Spekulationskapitals noch erfolgversprechend investiert werden können. Jedoch werden durch seine Vorgehensweise neue Standards ökonomischen Verhaltens gesetzt; es werden Zwänge geschaffen, die bewirken, dass »Manager, Ingenieure oder Firmen nur noch dem kurzfristigen Cash-Gewinn hinterherhecheln«. (Der Spiegel, Nr. 51, 2006, S. 71) Destruktives Agieren wird zum ökonomischen und sozialen Organisationsprinzip – mit Konsequenzen, die einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsentwicklung nicht förderlich sind.

Der Kapitaldominanz und ihren destruktiven Effekten könnten zwar neue Schranken gesetzt werden, jedoch nicht durch die Akzeptanz klassengesellschaftlicher Zustandsformen: Die Position einer »Anerkennung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse« (Dörre 2005, S. 14) mit der Intention die beschränkten Handlungsoptionen zu vergrößern (vgl.: Kessel 2005, S. 31), korrespondiert mit der klassisch-hilflosen Position der »Armenfürsorge«, die sich auf eine Abmilderung sozialen Elends konzentrierte, die gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen jedoch als Faktizität akzeptierte. »Die Armen«, schrieb 1777 Pestalozzi, »werden sich in der Art, sich zu erhalten, nach den Ressourcen bequemen müssen, welche nach den Lokalumständen eines jeden Distrikt den Armen offen stehen«. Sie müssten sich deshalb an den »Beschwerlichkeiten aller niedrigen Unterhaltungswege« ausrichten. (Zit. nach: Kessel 2005, S. 30) Für eine Politik in progressiver Veränderungsperspektive ist eine solche konzeptionelle »Selbstbeschränkung« kontraproduktiv. Wenn »Entprekarisierung« eine Chance haben soll, muss die Produktion von »Überflüssigen« skandalisiert, jene auch als Widerspruchsprinzip zu den Selbstansprüchen einer entwickelten bürgerlichen Gesellschaft (die einmal die Maxime »Wohlstand für alle« auf ihre Fahnen geschrieben hatte) dargestellt werden. Es muss zum Ausdruck gebracht werden, dass die soziale Rückstufung und die Ausschließungsvorgänge Konsequenz einer Klassendominanz sind. Wer davon nicht reden will, sollte über die Prekarisierung schweigen!

Oder anders formuliert: Dort wo die meisten theoretischen Versuche über die Prekarisierung aufhören, müsste eine kritische Analyse eigentlich beginnen! Die praktischen Konsequenzen einer schonungslosen Analyse des klassengesellschaftlichen Kontextes einer angeblich »Neuen sozialen Frage« liegen auf der Hand: Wenn die Lohnabhängigen ihre Lage wieder verbessern, auch nur stabilisieren wollen, muss mit größerem Einsatz und auch auf »breiterer Front« als in den letzten Jahren gekämpft werden. Denn die »Gewerkschaften haben sich nicht auf ›etwas‹ Sozialabbau und auf ein ›etwas niedrigeres‹ Tarifniveau einzustellen, sondern sie haben es mit einem grundlegenden Angriff auf die Grundlagen der sozialen Regulierung zu tun.« (L. Mayer 2006, S. 22) Obwohl Illusionen über die sozialpolitische Destruktionstendenz kaum existieren, ist der grundsätzliche Charakter der sozialstaatlichen Abbautendenzen auch in vielen prekaritätstheoretischen Zusammenhängen nur unvollständig begriffen worden. Es dominieren Hoffnungen den »Rheinischen Kapitalismus« wieder rekonstruieren zu können. Diese Grundstimmung zur Basis einer strategischen Ausrichtung linker Politik machen zu wollen (wie es oft im Umfeld der Zeitschrift »Sozialismus« geschieht [in der Schweiz – bestenfalls! – im Umfeld von»Denknetz« und der Zeitschrift»Widerspruch«; Anm. maulwuerfe.ch]), könnte jedoch leicht in einer Sackgasse enden, weil ökonomische und soziale Bewegungsspielräume, die den »klassischen« Reformismus ermöglichten nicht mehr existieren. Erfolgversprechend können deshalb nur Arbeitskämpfe sein, die mit der gleichen Grundsätzlichkeit wie von der Kapitalseite geführt werden. Das heißt auch, dass sie in ein Gesamtkonzept gesellschaftlicher Veränderungen eingebunden und die einzelnen Aktionen aufeinander bezogen werden müssen. In den entscheidenden Auseinandersetzungen sind Kampfformen, die sich auf einzelne Branchen beschränken, schon lange nicht mehr erfolgversprechend. Nötig ist eine Intensivierung der Aktionen, die latent die Grenzen zum »politischen Streik« überschreiten müssten. Wenn die Gewerkschaften ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen wollen, muss es zumindest bei der Verteidigung elementarer Interessen Aktionsbündnisse über Branchen und Beschäftigungssektoren hinaus geben.

Die Standards haben das Kapital und die in seinem Sinne agierenden staatlichen Institutionen gesetzt, wie beispielsweise bei der Verlängerung der Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst. Denn mit dem Arbeitszeit-Diktat sollten Fakten, ein Modell für die Arbeitswelt in ihrer Gesamtheit geschaffen werden. Auf diese Provokation hätte mit einer breiten Streikfront reagiert werden müssen – und sie wäre, den entsprechenden Willen bei den Gewerkschaftsführern vorausgesetzt, auch zustande gekommen. Denn in den meisten großen Auseinandersetzungen der letzten Jahre hat es eine profilierte Konfrontationsbereitschaft der Belegschaften gegeben, die von den Gewerkschaftsbürokratien jedoch ignoriert wurde. Gerade weil durch die gegenwärtige Machtdominanz des Kapitals sich die Erfolgsaussichten der Gewerkschaften verschlechtert haben, müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Noch befinden sich die Lohnabhängigen in der Defensive. Jedoch gilt es, die Krise als Chance zu begreifen. Wo durch Fragmentarisierung in den Betrieben und durch die Internationalisierung der Arbeitsmärkte die Handlungsspielräume des Kapitals größer geworden sind, müssen branchenübergreifende Kampfformen gefunden werden, die selbst jedoch in gesellschaftspolitischen Konzepten fundieren müssen. Den Strategien der Verarmung und Demütigung muss die Utopie des guten Lebens und der sozialen Selbstbestimmung entgegengesetzt werden. Auf die neoliberalistische Wahnvorstellung einer vollständigen Einordnung der Menschen in den beschleunigten Rhythmus der Kapitalakkumulation muss mit dem Anspruch auf Zeitautonomie geantwortet werden; der Kampf um die Arbeitszeit, also als Auseinandersetzung um zentrale Lebensinteressen verständlich gemacht werden. Der Verteidigung des erreichten Arbeitszeitniveaus kommt schon deshalb zentrale Bedeutung zu, weil dessen Durchsetzung eines der großen Projekte der Gewerkschaftsbewegung nach dem 2. Weltkrieg gewesen ist. Aber erfolgversprechend kann diese Auseinandersetzung nicht sein, wenn sie nur als Verteidigung des Erreichten geführt wird: Sie muss einen offensiven Charakter bekommen. Es gibt keinen Grund, auf die Perspektive weiterer Arbeitszeitverkürzungen zu verzichten. Das Ziel der Auseinandersetzung kann nicht sein, nur die flächendeckende Wiedereinführung der 40-Stundenwoche zu verhindern: Gegenüber der kapitalistischen Logik der Arbeitsplatzvernichtung und der »Freisetzung« von Arbeitskräften gilt es vielmehr selbstbewusst festzustellen, dass 30 wöchentliche Arbeitsstunden mehr als genug sind! Politik, die »Entprekarisierung« vorantreiben will, muss aufs »Ganze« gehen, im Prinzip den Kapitalismus in Frage stellen. Nur dann wird sie auch das gegenwärtig Mögliche durchsetzen können.

Quelle: labournet.de… vom 11. Januar 2018

 

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