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„Wo bleibt die Vision der von unten organisierten Revolution?“

Eingereicht on 17. Januar 2018 – 11:42

Am Samstag wurde die Rosa-Luxemburg-Konferenz kurz von iranischen Marxist*innen unterbrochen. Katharina Doll von der Sozialistischen Alternative (SAV) aus Hamburg führte dieses Interview mit der iranischen Marxistin Mina Khani.


Einige Linke werfen die Frage auf, inwieweit die aktuellen Proteste im Iran durch die Arbeiter*innenklasse getragen werden. Wie steht es um die Arbeiter*innenbewegung im Iran? Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in den aktuellen Protesten?

Zuerst muss ich mich bei den linken Sektoren, die diese Frage aufwerfen und aktiv nach Antworten suchen, bedanken, denn sie ist wirklich eine zentrale Frage. Ich muss ehrlich sagen, es gibt keine einfache Antwort darauf, denn die politische Lage im Iran ist ziemlich kompliziert.

Was wir auf jeden Fall in den Protesten sehen konnten, ist, dass die Frage der Armut, die Frage der hohen Arbeitslosigkeit, die Frage der nicht ausbezahlten Löhne der Arbeiter*innen und die Frage der Korruption des Staates die wichtigsten Fragen der Protestierenden waren, die sehr klug mit den politischen Machtfragen verknüpft wurden.

Die existierende Arbeiter*innenbewegung im Iran, die unter harten Repressionsmaßnahmen leidet, hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, dass diese Fragen so ans Tageslicht kommen. Die wenigen Gewerkschaften, die einen existenziellen Kampf um ihre Unabhängigkeit oder gegen die schlechten Arbeitsbedingungen führen, haben in den letzten Monaten immer wieder zu Streiks aufgerufen, sich gegen die Repressionen und Festnamen von Arbeiteraktivist*innen gestellt und ihre Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen sowie die Freilassung ihrer Kolleg*innen aufgestellt.

Seit dem letzten Sommer gab es eine regelrechte Streikwelle, in der verschiedenste Betriebe für die Auszahlung der Löhne und Renten gestreikt haben. Unter anderem die größte Zuckerfabrik des Landes Haft Tapeh. Heute sind die Arbeiter*innen von Haft Tapeh wieder in einen unbefristeten Streik getreten, da ihnen weiterhin seit drei Monaten kein Gehalt ausgezahlt wurde. Sie kündigten an, dass wenn ihre Forderungen nach Auszahlung der Löhne und Festverträgen für alle nicht bis Freitag erfüllt werden, die Fabrik zu übernehmen und unter Selbstverwaltung weiter zu führen. Dies zeigt, dass es auch eine sozialistische Arbeiter*innenbewegung im Iran gibt – trotz der massiven Repression gegen unabhängige Gewerkschaften.

Die Proteste richten sich gegen das iranische Regime – wie geht das Regime mit der kämpfenden Arbeiter*innenbewegung um? Was ist ihr Verhältnis zur Gewerkschaftsbewegung?

Aus meiner Sicht waren diese Proteste ein Bruch mit den reformistischen Kräften innerhalb aber auch außerhalb des Regimes. Deswegen auch gegen das gesamte System und nicht nur gegen den religiösen Führer. Es gab eine Parole, die öfters bei den Protesten gerufen wurde und uns dabei hilft, dies zu erkennen: „Hardliner, Reformisten, eure Zeit ist vorbei!“

Die Arbeiter*innenbewegung ist einer Situation ausgesetzt, in der sie einmal die Repressionen des Staates, die übrigens immer härter werden, zu überleben hat und dann auch noch die Arbeiter*innen zu organisieren hat. Es gibt kein Recht auf unabhängige Gewerkschaften und Arbeiter*innenverbände. Ich finde es bewundernswert, dass sie trotzdem weiterkämpfen, Streiks organisieren, sich um die Freilassung ihrer Kolleg*innen kümmern und sich um das Leben der Arbeiter*innen kümmern, die aus politischen Gründen, nämlich weil sie sich organisieren, von der Arbeit entlassen werden.

Ihr habt am Samstag die Bühne der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin kurz besetzt. Worum geht es euch bei eurer Kritik?

Wir werden dazu als Aktionsgruppe noch Stellung nehmen. Was ich jetzt darauf antworte, ist erstmal meine persönliche Meinung. Ich finde es problematisch, dass es sich ein Verständnis von Anti-Imperialismus gerade in den imperialistischen Ländern wie Deutschland normalisiert hat, der reaktionäre Regime im Nahen und Mittleren Osten in Schutz nimmt, die wiederum Hand in Hand mit dem Imperialismus zusammenarbeiten – angeblich gegen den Imperialismus der USA. An diesem Verständnis, von welchem Sektor der Linken es auch propagiert werden mag, habe ich immer was zu kritisieren und wenn es sein muss auch zu protestieren.

Ich persönlich war von der Legitimität dieser Aktion überzeugt, weil ich zum Beispiel in drei Artikeln der jungen Welt nur die Verbreitung der Propaganda des iranischen Regimes erkennen konnte. Ich verstehe mich als überzeugte Anti-Imperialistin und denke, dass diese Strategie nur dazu führt, dass innerhalb der Linken immer mehr den Regime-Change-Diskurs als die Antwort auf einen solchen Anti-Imperialismus verbreitet wird.

Ich spreche auch hier nicht von Moral. Abgesehen davon, dass es skandalös ist, wenn eine Tribüne der Anti-Imperialist*innen in Deutschland, wie die junge Welt, sich auf das iranische Regime bezieht, um die Proteste im Iran für unwichtig zu erklären, halte ich das einfach für eine verfälschte Debatte, wenn man denkt es gäbe nur die Wahl zwischen Krieg, Sanktion und Regime-Change-Politik oder Zusammenarbeit mit den neoliberalen Diktaturen in der so genannten Dritten Welt. Wo bleibt denn bitte schön die Vision der von unten organisierten Revolution bei solchen Sektoren? Wo bleibt denn bitte schön die Solidarität mit den Unterdrückten?

Es gab von der junge Welt als einer so wichtigen Tribüne keinen einzigen Bericht über die Zahl der im Gefängnis ermordeten Demonstrant*innen. Es gab keinen einzigen Bericht, in dem die junge Welt sich nicht auf die offizielle Angaben des iranischen Regimes bezogen hat. Hat das iranische Regime zu wenige Tribünen, um seine Propaganda selbst zu verbreiten? Ist das linker Journalismus, wenn eine solche Zeitung sich nur auf das iranische Regime und deren absolut reaktionärsten Gegner*innen (in diesem Fall z.B Volksmodschahedin) bezieht? Was steckt hinter so einer Politik? Das frage ich mich. Ist es nicht die Aufgabe der Anti-Imperialistinnen, sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen?

Es muss doch einen Unterschied geben zwischen dem angeblichen Anti-Imperialismus des Irans und dem wahren Anti-Imperialismus, der die richtigen Fragen stellt! Nach der Revolution von 1979 hat das iranische Regime unter dem Deckmantel des Anti-Imperialismus viele Marxist*innen, die eine wichtige Rolle während der Revolution gespielt haben, ermordet, um als einzige starke Kraft dazustehen und zu herrschen. Darüber sollten wir als iranische revolutionäre Marxist*innen nicht reden?

Das ist der Grund, weshalb wir für 20 Minuten die Bühne der RLK demonstrativ besetzt haben. Darüber, wie das gemeint war und wie es angekommen ist, müssen wir als Gruppe Stellung nehmen, aber die inhaltliche Diskussion nun umzulenken auf die Frage der Form des Protestes und ob es angebracht ist die Bühne demonstrativ zu besetzen, finde ich fatal!

Ihr bezeichnet in eurer Rede die Haltung „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ als bürgerlichen Pragmatismus. Was meint ihr damit?

Nach demselben Verständnis könnte vielleicht die iranische Linke die Solidarität mit Palästina aufgeben, weil unser Feind, das iranische Regime, sich angeblich mit Palästina solidarisch erklärt. Aber nein. So sieht die revolutionäre Politik meines Erachtens nicht aus. Egal welche Kämpfe unsere Feind*innen für sich instrumentalisieren, denke ich, dass wir auf der richtigen Seite stehen müssen. Nur weil die USA sich zum Feind des iranischen Regimes erklären, ist das Regime nicht unser Freund, denn unter der Politik des iranischen Regimes leiden trotzdem alle Unterdrückten, Arbeiter*innen, Migrant*innen, Halbkolonien und Kolonien, Frauen und so weiter und so fort. Das meine ich zumindest mit dem bürgerlichen Pragmatismus, weil durch so eine fatale Politik gibt man unvermeidlich den Standpunkt der Unterdrückten auf und stellt sich hier und da auf die Seite der Unterdrücker*innen.

Eure Kritiker*innen sagen, ihr würdet einen Regime Change im Iran vorantreiben, und so unter Umständen den ausländischen Imperialismus im Iran zu stärken. Was denkst du über diese Kritik?

Das ist jetzt echt lächerlich. Wir haben uns als revolutionäre Marxist*innen vorgestellt und uns in unseren Statements gegen Imperialismus ausgesprochen. Ich kann nur sagen, auf irgendwelche hohle, nicht begründete Vorwürfe muss man auch nicht unbedingt antworten.

Eure Erklärung legt nahe, dass es eine Diskussion in der Linken zu den Punkten braucht, die ihr aufgeworfen habt. Wie denkst du könnten wir eine solche Diskussion so führen, dass wir gestärkt daraus hervorgehen?

Ich denke, dass es vielleicht angebracht wäre, erst einmal auszuleuchten, was man mit dem Imperialismus meint und wie eine revolutionäre, antiimperialistische Politik aussehen soll. Diese Debatte würde alle antiimperialistischen Linken weiterbringen. Welche imperialistischen Blöcke gibt es in der Welt? Welche Beziehungen haben sie zueinander? Welche Beziehungen haben sie zu Regionalmächten? Welche Spaltungen gibt es zwischen diese imperialistische Mächte? Und wie soll eine internationalistische Politik der anti-imperialistischen linken Sektoren aussehen? Das sind Fragen, die uns glaube ich weiterbringen werden, wenn wir versuchen würden als Anti-Imperialist*innen darüber diskutieren.

Vielleicht nochmal zum Abschluss: Welche Haltung sollte die deutsche Linke deiner Meinung nach zu den Protesten im Iran einnehmen?

Erst einmal richtig und genau zuschauen, was die Auslöser dieser Aufstände waren, würde uns vielleicht weiterbringen. Nach dem von der EU als treibende Kraft abgeschlossenen Atomabkommen mit dem Iran, haben wir es im Iran mit noch mehr neoliberaler Politik zu tun. Mehr Privatisierungen, mehr Arbeitslosigkeit, mehr Repression gegen die Gewerkschaften. Die ärmsten Schichten der Gesellschaft werden noch ärmer und die Reichen noch reicher. Wie können überzeugte Marxist*innen so etwas übersehen? Ich persönlich erwarte noch nicht mal eine Solidaritätserklärung mit allen Protestierenden! Ich erwarte ökonomisch-politische Analysen! Ich erwarte, dass man das Kind beim Namen nennt. Ist das zu viel verlangt?

Quelle: klassegegenklasse.org… vom 17. Januar 2018

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