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Die Leiharbeitskampagne – Einblick in eine andere Welt

Eingereicht on 19. Januar 2018 – 17:15

Wolfgang Däubler. Seit Mitte Mai, seit der Sendung über Leiharbeit in „Die Anstalt“ habe ich über 500 Mails bekommen. In den ersten Tagen waren es besonders viele, doch Anfragen gibt es auch heute noch.

Die meisten Zusendungen waren in einem anderen Stil geschrieben als ich ihn von Betriebsräten und Arbeitnehmern gewohnt bin. In jeder zweiten Mail war von „Ausbeutung“ und „Sklavenhaltersystem“ die Rede. Man sei von allen verraten und verkauft worden, die Gewerkschaften eingeschlossen. Auch bei anderen war die Wut mit Händen zu greifen. Manche schrieben, es ginge ihnen gar nicht so sehr um die schlechtere Vergütung. Vielmehr seien sie im Betrieb „Arbeitnehmer zweiter Klasse“, ihre Arbeit sei am wenigsten wert. Ersichtlich befindet sich hier rund eine Million Arbeitnehmer in einer auch subjektiv wahrgenommenen Außenseiterstellung – zusammen mit den Familien ein nicht ganz unerheblicher Teil der Bevölkerung. Allerdings sehen sie für sich keinen „Sprecher“, niemanden, der sich ihre Sache zu eigen macht. Dies kann dazu führen, dass man eine am rechten Rand stehende Partei wählt. Das wäre dann für „die da oben“ ein Denkzettel, wobei es die Wählenden nicht kümmern würde, dass gerade diese Partei die Arbeitslosenversicherung privatisieren will und auch sonst viele neoliberale Positionen vertritt. Dennoch: Die Konfrontation mit der Wut war für mich eine wichtige Erfahrung. Es wäre zu wünschen, dass auch unsere Entscheidungsträger mehr davon mitbekommen würden.

Gegen den Verleiher klagen?

Sehr viele Einsender gingen davon aus, es gebe schon eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof, der man sich anschließen könne. Das war ersichtlich nicht der Fall. Auch ist etwas Derartiges in der Prozessordnung nicht vorgesehen. Der Einzelne muss seinen Verleiher verklagen, um Equal Pay, gleichen Lohn wie die Stammarbeitnehmer, zu bekommen. Der juristische Weg dorthin ist im Grunde gar nicht kompliziert:

Nach dem Gesetz besteht der Equal-Pay-Grundsatz, von dem durch Tarifvertrag abgewichen werden darf. Wie weit die Abweichung gehen kann, ist im deutschen Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nicht gesagt. Dieses ist insoweit für unterschiedliche Interpretationen offen. Nun gibt es einen allgemein anerkannten Grundsatz, dass nationales Recht so ausgelegt werden muss, dass möglichst kein Widerspruch zum EU-Recht entsteht. Da es eine EU-Leiharbeitsrichtlinie gibt, spricht man von „richtlinienkonformer Interpretation“.

Die Richtlinie sieht nun bei befristeten Verträgen zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer vor, dass zwar vom Grundsatz der Gleichstellung mit Stammarbeitnehmern durch Tarifvertrag abgewichen werden kann. Der „Gesamtschutz“ der Leiharbeitnehmer muss jedoch derselbe bleiben. Diese Grenze ist auch bei deutschen Tarifverträgen zu beachten, denn die Pauschalermächtigung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz muss ja „richtlinienkonform“ ausgelegt werden. Wie die Größe „Gesamtschutz“ genau zu bestimmen ist, weiß niemand so recht, nur ist eines klar: Die Leiharbeitstarife weichen von dem, was ohne sie gelten würde, nur zu Lasten der Leiharbeitnehmer ab. Etwas Derartiges kann auch ein höchst wohlwollender Beobachter nicht mehr als Wahrung des „Gesamtschutzes“ ansehen. Also haben die Tarifverträge ihren Ermächtigungsrahmen überschritten und sind deshalb unwirksam. Der einzelne Leiharbeitnehmer kann gleiche Bezahlung wie ein Stammarbeitnehmer verlangen.

Besteht ein unbefristeter Arbeitsvertrag zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer und werden auch die Zeiten vergütet, in denen kein Einsatz möglich ist, so kann durch Tarifvertrag von Equal Pay abgewichen werden. Allerdings liegt keine „Bezahlung“ vor, wenn die Ausfallzeiten mit einem Zeitguthaben verrechnet werden, das sich der Leiharbeitnehmer vorher erarbeitet hat. Das ist bei vielen Verleihern Praxis. Auch dürfte diese Vorschrift nicht gelten, wenn der Leiharbeitnehmer gleich nach dem ersten Einsatz entlassen wird – dann hat der Arbeitgeber eben gerade nicht das Risiko übernommen, keine Einsatzmöglichkeit zu haben und dennoch die Vergütung weiter bezahlen zu müssen.

In einem für die potentiellen Kläger bestimmten Papier habe ich versucht, die rechtliche Ausgangslage zu erklären. Entscheidender Punkt: Ohne Klage gegen den Verleiher geht es nicht. Hier kamen Einwände: Eine eigene Klage würde kosten und dafür reiche das Geld nicht aus. Ich habe darauf verwiesen, dass ein Kläger Prozesskostenhilfe beantragen kann – und notfalls stünde der Spendenfonds zur Verfügung. In der Regel erfolgte dann keine Reaktion mehr. Vermutlich waren es auch gar nicht in erster Linie die Kosten, die als Hindernis gesehen wurden. Man hatte Angst, den Verleiher vor den Kopf zu stoßen und bei nächster Gelegenheit vor die Türe gesetzt zu werden. Einzelne haben das auch offen zugegeben – dafür muss man Verständnis haben.

Wer keine Angst mehr haben muss

Nun gibt es aber Personen, die keine Angst mehr haben müssen. Das sind einmal die Gekündigten: Sie können Kündigungsschutzklage erheben und im Zusammenhang damit Entgeltnachzahlung auf der Grundlage von Equal Pay verlangen. Ebenso ist es bei den Befristeten: Auch sie können nach Auslaufen ihres Vertrages für die Zeit, in der sie vom Verleiher eingesetzt wurden, gleiche Bezahlung wie Stammarbeitnehmer verlangen. Nach der Statistik ist mehr als die Hälfte aller Leiharbeitnehmer nach drei Monaten wieder „draußen“: Aus dieser Gruppe gab es aber nach meinem Eindruck so gut wie keine Einsendungen. Recht häufig waren dagegen Anfragen von Leiharbeitnehmern bei Daimler, VW und BMW, die seit Jahren dort arbeiteten und mehr verdienten als z. B. eine Verkäuferin im Supermarkt. Ihr Ziel war im Übrigen typischerweise nicht „Equal Pay“, sondern eine Festanstellung bei einem Automobilunternehmen.

Keine Angst muss weiter haben, wer sowieso zu einem andern Verleiher will oder sogar schon einen Arbeitsvertrag mit einem neuen Arbeitgeber in der Tasche hat. Auch solche Fälle gab es. Einzelne schrieben auch, es sei ihnen völlig egal, wenn sie vom Verleiher gekündigt würden; sie seien sowieso nur knapp über Hartz IV und ihre Arbeit sei zum Kotzen.

Die Einschaltung von Rechtsanwälten

Den potentiellen Klägern riet ich zu einem Prozess und benannte Anwälte, die sich für die Leiharbeitnehmer engagieren wollten. In jeder größeren Stadt gibt es ja mindestens ein Anwaltsbüro, das ausschließlich Arbeitnehmer vertritt; per Mail hatte ich mir die Erlaubnis eingeholt, ihnen einen oder mehrere Leiharbeitnehmer schicken zu können. Normalerweise freuen sich Anwälte über neue Mandate, doch hier war das anders: Die meisten Leiharbeitnehmer sind weder Gewerkschaftsmitglieder noch rechtsschutzversichert und können die Mittel für Anwalt und Gericht nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten aufbringen. Als Anwalt geht man so das Risiko ein, für „Gottes Lohn“ arbeiten zu müssen. Dennoch gab es insoweit keine wirklichen Schwierigkeiten.

Im Juni und Juli 2017 hatte ich insgesamt etwa 25 Leiharbeitnehmer zusammen, die zum Anwalt gehen und einen Prozess wagen wollten. Ich hatte mir notiert, wen ich wohin geschickt hatte. Nach einigen Wochen fragte ich mal bei den Anwälten nach, wie es denn mit den neuen Mandanten gelaufen sei.

Angst auch bei denen, die keine Angst haben müssen

Nur ungefähr die Hälfte hatte sich tatsächlich gemeldet. Die andere Hälfte war „abgängig“. Ich schrieb diese zweite Hälfte an und fragte, weshalb sie sich nicht an den Anwalt gewandt hätten; „wir waren doch anders verblieben.“ Die meisten haben geantwortet, manche ausweichend („keine Zeit“), manche hatten schlicht Angst. Erinnerlich ist mir ein Informatiker, dem der Job als Leiharbeitnehmer gestunken und der einen ganz normalen Arbeitsvertrag mit einem anderen Arbeitgeber mit Wirkung ab 1. 1. 2018 geschlossen hatte. Warum er nichts unternommen habe, wollte ich wissen, er könne noch einen schönen Batzen Geld bekommen und es außerdem dem Verleiher (den er auch nicht mochte) endlich mal heimzahlen. Antwort: Ja, ich hätte schon recht, aber es könne ja passieren, dass sein neuer Arbeitgeber in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerate und dann sei er froh, wenn er wieder bei seinem bisherigen Verleiher unterkomme. Eigentlich hätte er in der oben wiedergegebenen Terminologie sagen müssen: Ich will die Zuneigung des „Sklavenhalters“ nicht verlieren.

Auch Anwälte scheuen Risiken

Bei der anderen Hälfte der Mandanten gab es viele inhaltliche Probleme. Will man gleiche Bezahlung verlangen, muss man mindestens eine Vergleichsperson benennen, die dieselbe oder jedenfalls eine ganz ähnliche Arbeit macht. Dies ist manchmal sehr schwierig, weil der Leiharbeitnehmer in der Regel nicht in die „Familie“ des Einsatzbetriebes aufgenommen ist und deshalb nicht über die intensiven Kontakte verfügt, die man braucht, um die genaue Gehaltshöhe von Kollegen zu erfahren.

Dazu kam ein weiteres Problem. In viele Verträge schreiben die Verleiher eine Klausel hinein, wonach alle Ansprüche nach Ablauf von drei Monaten verfallen. Nach der Rechtsprechung ist dies grundsätzlich zulässig. War jemand vor mehr als drei Monaten bei seinem Verleiher ausgeschieden (und deshalb eigentlich ein „guter“ Fall), ist eine Klage aussichtslos. Nun gilt allerdings Abweichendes für Verträge, die nach dem 1.1.2015 geschlossen wurden: Da von diesem Zeitpunkt an der Mindestlohn galt, der auch nicht durch solche Fristen verkürzt werden darf, war eine Klausel unwirksam, soweit sie sich auf die gesamte Vergütung und damit auch auf den darin steckenden Mindestlohn bezog. Ob auch Klauseln in Arbeitsverträgen, die vor dem 1.1.2015 geschlossen wurden, unwirksam waren, hatte das BAG dahinstehen lassen. Niemand von den Anwälten traute sich, vor Gericht die These von der Unwirksamkeit zu vertreten. Ein gut geeigneter Fall scheiterte schlicht daran, dass ein älterer Vertrag diese Klausel enthielt und der Betroffene bereits ein halbes Jahr vorher aus dem Betrieb ausgeschieden war. Immer gab es ein anderes Hindernis. I

n einem Kündigungsschutzfall argumentierte die Anwältin wie folgt: Der Kläger hatte zwar für seine Klage Prozesskostenhilfe bekommen, war also von Anwalts- und Gerichtskosten befreit. Wenn er aber nun Equal Pay einklagen würde, könne es passieren, dass er verliere. In der zweiten Instanz würde er dann trotz der Prozesskostenhilfe die Kosten des Gegenanwalts bezahlen müssen. Ich verwies auf den Spendenfonds und darauf, dass man normalerweise nicht verliert, wenn man Prozesskostenhilfe bekommen hat, doch sie war nicht umzustimmen. Das mit dem Spendenfonds könne man sich überlegen, aber die Überlegungen haben offensichtlich kein positives Ergebnis erbracht.

Eine kleine persönliche Zwischenbemerkung sei erlaubt. Wenn ich an den Informatiker und die Anwältin denke, kann ich mir nicht erklären, weshalb wir eigentlich keinen Kaiser mehr haben. War es denn nicht in höchstem Maße riskant, als Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstags aus die Republik ausrief? Das war doch glatter Hochverrat, für den sogar noch die Todesstrafe verhängt werden konnte. Und bestand denn nicht auch die Gefahr, dass ein Kaisertreuer mit dem Ausruf: „Für Gott und Vaterland“ von seiner Schusswaffe Gebrauch machen würde? Nicht ein Prozent solcher Risiken würden die fraglichen Personen eingehen – so ist die „Arbeiterbewegung“ (der sich zumindest die Anwältin verbunden fühlt) auf den Hund gekommen.

Doch noch eine Chance?

Zurück zur sachlichen Arbeit der juristischen Beratung. Ich hatte schon im Juni ein Papier von ca. 15 Seiten entworfen, das ich an die Anwälte schickte und das die Rechtslage mit all ihren Verästelungen wiedergab. Dies war dem schlichten Umstand geschuldet, dass gerade Arbeitnehmeranwälte typischerweise einen Arbeitstag von mindestens zwölf Stunden haben und deshalb verständlicherweise nicht dazu kommen, in irgendwelche Bibliotheken zu gehen oder auch nur Entscheidungen im Detail nachzulesen. In einem Fall wurde das Geschriebene aufgegriffen und in einen Schriftsatz integriert. Die Gegenseite – ein großer Verleiher – hielt es nicht für nötig, darauf auch nur mit einem einzigen Wort einzugehen. Am 24. Januar ist Gerichtstermin.

In einem anderen Fall klagt jemand mit gewerkschaftlichem Rechtsschutz und will ebenfalls Gleichstellung mit den Stammarbeitnehmern. Ich weiß allerdings nicht, was in der Klage und den nachfolgenden Schriftsätzen steht, denn eine Gewerkschaft klagt nicht gegen Tarifverträge, die sie selbst abgeschlossen hat, und deshalb wird die Angelegenheit wie eine geheime Verschlusssache behandelt. Auch soll man auf höherer Ebene ja nichts von der Sache erfahren, denn sonst käme ein Ukas, den Prozess alsbald „tot“ zu machen. Da ist offensichtlich jemand am Werk, der sogar bei der Ausrufung der Republik mitgeholfen hätte.

Siehe zum Hintergrund der angesprochenen Kampagne das Dossier: [Die Anstalt, Prof. Wolfgang Däubler und LabourNet Germany] Gesucht: LeiharbeiterInnen für eine Klage vor dem EuGH für gleichen Lohn und gleiche Bedingungen auch in Deutschland http://www.labournet.de/?p=116170

Quelle: labournet.de… vom 19. Januar 2018

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