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25 Jahre Armenspeisung in Deutschland – Das Geschäft mit den Tafeln

Eingereicht on 22. Februar 2018 – 9:50

  Susan Bonath. Am 22. Februar 1993 eröffnete in Berlin die erste Tafel. Heute ist die Initiative zu einer bundesweit vernetzten privaten Armutsindustrie mutiert. Sie bildet einen eigenen Markt aus karitativer Ent- sowie Versorgung und sorgt dafür, das Bedürftige marginalisiert bleiben.

Ihr blauer Koffer rattert über das Pflaster. Zielstrebig zieht Gisela F. (Name geändert) ihn durch das geöffnete Tor über den Hof hinter dem Gründerzeitgebäude. Zwei entgegenkommende ältere syrische Männer winken ihr zu. Sie grüßt zurück. Die beiden schieben einen Handwagen, auf dem zwei gefüllte Papiertüten stehen. Einer trägt einen Blumenstrauß. Das sei der letzte gewesen, sagt er. Er wird ihn seiner Frau bringen, die im Krankenhaus liegt, erklärt er andere. „Sag ihr gute Besserung“, meint die 60-Jährige und grüßt schon die nächsten mit einem lockeren Hallo: Eine junge Mutter mit Kinderwagen, drei Frauen in ihrem Alter, eine mit Kopftuch, zwei mit Mütze. Man kennt sich bei der Tafel in Magdeburg-Buckau.

Im Ausgaberaum packen Ein-Euro-Jobberinnen abgepackte Brötchen, Nudeln, Fertiggerichte und andere Lebensmittel in Kisten. Geschenkt gibt es sie nicht. Wer seine Bedürftigkeit nachweist, darf zweimal die Woche den Inhalt einer Kiste für zwei Euro mitnehmen. „Nein, aussuchen können wir uns das nicht, aber einem günstigen Gaul…, na Sie wissen schon“, sagt sie. F. bekommt ein Los und wartet, auch wenn es an diesem Dienstag nicht mehr voll ist. „Das machen die, damit es keinen Streit über die Reihenfolge“, erklärt sie. Gibt es denn Streit? „Nein, wer welchen sucht, fliegt raus“, meint sie und fügt an: „Hier sind alle gleich.“

Abgehängte arbeiten für Abgehängte

Die Magdeburger Tafel beging im vergangenen Jahr ihr 20-jähriges Jubiläum. In zwei festen und drei mobilen Ausgabestellen verteilen Ehrenamtliche und Ein-Euro-Jobber nachmittags die Rationen. Nur in Buckau und Olvenstedt gibt es auch Mittagstisch. Dafür klappern die Beschäftigten die Supermärkte nach aussortierten Waren ab. Die Unternehmen sparen sich dadurch die Entsorgungskosten.

Zur Tafel kommen können Inhaber des „Magdeburg-Passes“: Bezieher von Sozialhilfe, Hartz IV oder Asylbewerberleistungen, Rentner und jeder, dessen Einkommen nicht mehr als zehn Prozent über der Grundsicherung liegt. Allein von 2013 bis 2016 hat sich die Zahl der Nutzer der dortigen Essensausgabe auf rund 6.500 verdoppelt. Darunter, so gab die Tafel kürzlich an, sind je knapp 2.000 Kinder und Flüchtlinge.

An diesem Dienstag Mitte Februar diskutieren in einer Ecke des Hofes neben dem Aschenbecher eine Frau und zwei Männer laut darüber, wie sie einen gebrauchten Schrank von einer Wohnung in die andere bekommen. Der eine kennt einen mit einer großen Karre. Die könne man auch an seinem Fahrrad befestigen, sagt der andere. Nur, keiner kennt jemanden mit einem Auto.

Hier hat sich fernab des bürgerlichen Lebens eine eigene Parallelgesellschaft entwickelt“, resümiert Peter B. (Name geändert).

Er weiß aus Erfahrung: „Wenn du erst mal den Schritt gemacht hast, zur Tafel zu gehen, dann hast du eine Schwelle überwunden, dann weißt du, dass du nicht mehr dazugehörst und draußen bist.“ Der 61-Jährige ist seit vielen Jahren erwerbslos. Ehrenamtlich, später als Ein-Euro-Jobber, baute er aus alten kaputten Fahrrädern neue zusammen. Zur Tafel hat er sich nie getraut. Nur den Mittagstisch habe er eine Zeitlang genutzt:

Wenn du nicht weißt, wovon du deine Rechnungen bezahlen sollst, und für 50 Cent ein warmes Essen bekommen kannst, überlegst du dir das.

In seiner Beschäftigungsfirma, die direkt neben der Tafel in Magdeburg-Buckau ihren Sitz hat, ist Peter B.  als Fahrradmonteur „aufgestiegen“. Vor kurzem wurde er als Ein-Euro-Jobber beim Schrauben angeleitet, heute leitet er selbst Ein-Euro-Jobber an. Gut 900 Euro bekommt er pro Monat für 32 Wochenstunden. Das ist nur wenig mehr als Hartz IV inklusive Mietzuschuss. B. ist trotzdem froh: „Das Gute ist, dass das Jobcenter mich nicht mehr drangsaliert: hier ein Bewerbungstraining, da eine unsinnige Zusatzmaßnahme.“

Als Peter B. bei der Tafel essen ging, befand sich diese noch im Buckauer Bahnhofsgebäude. „Da war viel Trubel, man musste immer damit rechnen, gesehen zu werden“, erinnert er sich. Hier auf dem Hof sei das anders. Von der Straße aus ist nur das Firmenschild des Betreibers zu sehen, der Hof ist nicht einsehbar. „Nur manchmal stehen die Schlangen bis nach draußen auf den Fußweg.“

Die beiden Firmen in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt mit rund 230.000 Einwohnern, erklärt er, betrieben inklusive Tafel „eine regelrechte Armutsindustrie“. Mit anderen Worten: Sie haben die Bastion des sogenannten dritten Arbeitsmarktes unter sich aufgeteilt. Ein-Euro-Jobber verteilen nicht nur Essen an Bedürftige. Sie bereiten alte Fahrräder und Möbel für sie auf, verkaufen abgelegte Kleidung, bewirtschaften Gärten. Sie sind genauso arm wie ihre Kunden.

Von Obdachlosenhilfe zur Allianz der Lebensmittelretter

Alles begann vor einem Vierteljahrhundert. Am 22. Februar 1993 eröffnete der Verein „Initiativgruppe Berliner Frauen“ die erste Tafel in der deutschen Hauptstadt. Ihr Engagement deklarierte sie als Hilfe für Obdachlose. Zuvor hatte die damalige Berliner Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) gemahnt, wie dramatisch sich die Situation wohnungsloser Menschen in der Hauptstadt seit dem Mauerfall verschlechtert habe. Das Konzept der Fraueninitiative stammte aus den USA, wie sie damals auf einer Pressekonferenz erklärte. Aussortierte Lebensmittel sollten nicht weggeworfen, sondern an Bedürftige verteilt werden.

Rasch breiteten sich die Tafeln bundesweit aus. Bereits 1994 eröffneten Essensausgaben in München, Neumünster und Hamburg. Kurz darauf gründete sich der Dachverband Tafeln Deutschland e.V. Das habe, erläutert dieser heute, „vielen den Ansporn gegeben, in der eigenen Stadt ebenfalls eine Tafel zu eröffnen“. Seitdem wurde das ehrenamtliche Netzwerk immer weiter ausgebaut.

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Heute betreiben 937 Tafeln rund 2.100 Essensausgabestellen, die zusammen etwa 1,5 Millionen Bedürftige versorgen – Tendenz steigend. Vor allem die Zahl der Rentner und Kinder wächst, warnt der Dachverband. Beide Gruppen stellten inzwischen je ein Viertel der Tafelgänger. Viele der Eltern, die das Angebot nutzten, seien alleinerziehend, heißt es.

Seit Jahren beklagen viele Tafeln eine Überlastung. Sie führten Tafelpässe ein und beschränkten den Zugang für den Einzelnen auf bestimmte Tage im Monat. Viele entscheiden im Losverfahren, wer wann an die Reihe kommt. Einige Tafeln setzen Neuzugänge, die ihre Bedürftigkeit nachgewiesen haben, auf Wartelisten. Die Obdachlosenhilfe ist in den Hintergrund gerückt. Der Dachverband der Tafel firmiert heute als „eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen Deutschlands“, wie deren Vorsitzender Jochen Brühl vergangene Woche in einer Pressemitteilung schrieb. Dieses ehrenamtliche Netz lindere Armut und schaffe „eine Brücke zwischen Mangel und Überfluss“.

Tafelchef Brühl appellierte zudem an die Gesellschaft im reichen Deutschland, das einen Exportüberschuss nach dem anderen einfährt, weniger Lebensmittel wegzuwerfen und auf übermäßigen Konsum zu verzichten. Es sei „ökologischer Irrsinn“, dass jedes Jahr rund 80 Kilogramm Nahrung pro Kopf im Müll landeten. Die Tafeln sollen seiner Meinung nach zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wohlstandabfall einsammeln und Arme damit versorgen. Das nennt er ökologische Verwertung.

Auf dieser Basis treiben teils skurrile Blüten. So gibt es inzwischen einen Bundesverband Kindertafel. In dessen Einrichtungen, beispielsweise in München, Schweinfurt, Lüneburg, Zerbst und Würzburg, versorgen Ehrenamtliche und Ein-Euro-Jobber die jüngsten Opfer des Wirtschaftssystems mit Pausenbroten und Mittagessen. In vielen Städten geben Tiertafeln gespendetes Futter an Bedürftige aus. Mit der Daueraktion „junge Tafel“ will der Bundesverband Jugendliche als ehrenamtliche Mitarbeiter gewinnen. Seit 2015 betreibt er zudem seine eigene Tafel-Akademie.

Ein Markt für privatisierte Armenfürsorge

Die Tafel-Akademie „hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ehrenamtliche für ihr Engagement zu qualifizieren und zu stärken“, heißt es dort. Sie wirbt um mehr Freiwillige, unterstützt nach eigenen Aussagen Forschungen zur Bedürftigkeit und schreibt regelmäßig Minijobs für Studenten aus. Die Tafeln hätten die Strukturen eines kleinen Unternehmens, erklärte der Leiter der Essensausgabe im thüringischen Bad Salzungen, Gerhard Schmidt, vergangenen Donnerstag gegenüber dem Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, bei dessen Besuch. Dieses Unternehmen, so Schmidt, müsse sich wie jedes andere unter marktwirtschaftlichen Bedingungen behaupten.

Die Tafeln finanzieren sich nach eigenen Angaben ausschließlich aus Spenden. Firmen verschaffen sich damit ein wohltätiges Antlitz. Davon finanziert der Dachverband inzwischen 14 hauptamtliche Mitarbeiter, wie er angibt. Hinzu kommen über 60.000 Ehrenamtliche und Ein-Euro-Jobber. Es gibt Lehrgänge, Vorträge und Studien über das Tafelwesen. Trend sei, so blickt der Dachverband voraus, die Expansion bestehender Tafeln. Sie eröffneten immer mehr Ausgabestellen in kleineren Orten. Man lobt sich, fordert zum Engagement auf, appelliert an das gute Gewissen. Das Problem der Armut aber bleibt bestehen.

Quelle: deutsch.rt.com… vom 22. Februar 2018

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