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Afrin ist nicht gefallen

Eingereicht on 19. März 2018 – 9:11

Karl Plumba. Es ist mittlerweile fast zwei Monate her, seit am 20. Januar 2018 die türkische Besatzungsarmee zusammen mit zehntausenden Dschihadisten-Söldnern die Grenze nach Afrin überschritt.Seit diesem Tag häufen sich die Meldungen über Hinrichtungen, Folter, Leichenschändung durch Erdogans Gotteskrieger, die sich kaum von den Waffenbrüdern des „Islamischen Staates“ unterscheiden.

Der Krieg gegen Afrin offenbart ein weiteres Mal den Charakter der Revolution in Rojava. Er zeigt einerseits, dass die demokratische Selbstverwaltung im Norden Syriens keinesfalls ein Proxy-Projekt eines der imperialistischen Machtblöcke ist – sowohl Russland als auch die NATO haben ganz offensichtlich ihr Einverständnis zum Einmarsch der Türkei gegeben.

Andererseits – und das ist das wirklich Entscheidende hier – zeigt der Widerstand um Afrin und der überwältigende Rückhalt aus ganz Rojava für eben diesen, dass dort eine gesamtgesellschaftliche Revolution im Gange ist. Eine Revolution, die von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird, und deren Errungenschaften, wenn es notwendig wird, auch mit dem Leben verteidigt werden.

Hunderttausende blieben trotz der anrückenden Besatzungsmacht in Afrin. Mehr noch, zahlreiche Konvois mit Tausenden Zivilist*innen aus der gesamten Demokratischen Föderation Nordsyrien kamen nach Afrin, um den Widerstand zu unterstützen. Demonstrationen wurden organisiert und am internationalen Frauenkampftag demonstrierten – mitten im Krieg – tausende Frauen aus der gesamten Region.

All die demokratischen Fortschritte, die die Revolution hervorgebracht hat, sind nun in Afrin bedroht. Sollte es der türkischen Besatzungsarmee tatsächlich gelingen, die Stadt einzunehmen, wird es dort keine freien Frauen mehr geben, es wird keine Rätestrukturen mehr geben, in denen die Menschen sich selbst organisieren, es wird die meisten Menschen, die heute noch in Afrin leben nicht mehr geben. Sollte es Erdogans Banden gelingen, die Stadt einzunehmen werden sie das ausführen, womit sie seit Monaten drohen: die Vertreibung oder Ermordung der lokalen Bevölkerung und eine anschließende Neuansiedlung syrischer Geflüchteter im besetzten Gebiet. Außerdem wäre mit einer Besetzung Afrins die ohnehin schon türkisch besetzte Region um al-Bab und Jarablus mit der von Al-Qaida gehaltenen Region Idlib verbunden. Das gäbe Erdogan die besten Voraussetzungen für ein Scheinreferendum zur Schaffung eines Satellitenstaates oder zur direkten Eingliederung der besetzten Gebiete in türkisches Territorien.

Mittlerweile ist die Stadt fast vollständig eingeschlossen. In den letzten Tagen unternahmen YPG/YPJ große Anstrengungen, die Zivilist*innen über den letzten verbliebenen Fluchtkorridor in vom Assad-Regime kontrollierte Gebiete zu evakuieren. Schätzungen zufolge flohen so allein in den letzten Tagen bis zu 150.000 Menschen und selbst auf der Flucht werden sie noch zum Ziel der Türkei. Gestern sollen mehrere hundert Zivilist*innen durch Luftangriffe auf den Fluchtkorridor ums Leben gekommen sein. Seit heute Morgen häufen sich außerdem Meldungen über den Fall der Stadt. Die türkische Besatzungsarmee behauptet sogar, diese „vollständig und ohne nennenswerten Widerstand“ eingenommen zu haben. Diese Meldungen sind falsch und sollten nicht weiter verbreitet werden. Die Ankündigung der YPG/YPJ und SDF die Stadt „bis zum Letzten“ zu verteidigen, sind mehr als bloße Rhetorik. Sie sind bitterer Ernst. Die kurdische Freiheitsbewegung hat in der Geschichte immer wieder ihre enorme Widerstandskraft bewiesen. Nicht zuletzt in Kobanê, wo nur noch wenige Straßenzüge nicht unter der Kontrolle des ‚Islamischen Staat‘ standen und die Stadt von Erdogan bereits als verloren erklärt wurde, siegten sie gegen eine Übermacht.

So düster die Lage also ist, verloren ist Afrin keinesfalls. Einerseits ist es bereits ein enormer Erfolg, dass der Widerstand gegen die zweitgrößte Armee der NATO nun schon zwei Monate standhält. Zum anderen geht der Kampf, nun, da Afrin-Stadt eingeschlossen ist, in eine andere Phase über. Eine Phase, in der technologische Überlegenheit nur noch eingeschränkt zur Geltung kommt. „Natürlich wird der Stadtkampf lang und blutig“, erklärt Heval Cihan am Telefon. Cihan ist Internationalist und schon viele Jahre in Rojava. „Doch sobald der Stadtkampf losgeht gilt das alte Credo ‚die Überlegenheit der Technik wird nicht die Überlegenheit des stärkeren Willens brechen können.’“ Was er sagt ist mehr, als eine Durchhalteparole. Die kurdische Bewegung hat Erfahrung mit urbanem Krieg. Da ist der bereits erwähnte Kampf um Kobanê von 2014. Aber auch als 2016 mehrere Städte in Nordkurdistan, dem türkisch besetzten Teil, belagert wurden, leisteten leicht bewaffnete, unerfahrene und militärisch unausgebildete Jugendliche monatelang Widerstand.

In Nusaybin waren es ca. 200 Jugendliche mit Kalaschnikows und einigen RPG-Raketenwerfern, die Viertel für Viertel monatelang verteidigten und der türkischen Armee, die mit 15.000 Soldaten und Spezialkräften angriff und auch damals mit Artillerie schoss und bombardierte, enorme Verluste zufügte. Die bewaffneten Kräfte Rojavas haben nun vier Jahre verlustreicher Kämpfe hinter sich, in denen Erfahrungen gesammelt wurden. Bei der Verteidigung Kobanes gegen den ‚Islamischen Staat‘, bei der Befreiung von Sengal, Minbic, Tabqa und Raqqa. Diese Erfahrungen kommen nun auch in Afrin zum Tragen. „Ja, es wird ein langer, verlustreicher und blutiger Kampf und natürlich, wenn an anderen Stellen in Kurdistan, im Mittleren Osten, in aller Welt keine Unterstützung kommt und die Freund*innen in Afrin alleine gelassen werden, wird irgendwann die massive technologische und zahlenmäßige Überlegenheit des Feindes auch den stärksten Widerstand vernichten.“

Dennoch scheint all das in der „westlichen Wertegemeinschaft“ kaum jemanden zu interessieren. Während bei den Schlachten um Aleppo und Ost-Ghouta noch gegen die Massaker an Zivilisten protestiert wurde und wird, findet Afrin für die deutsche Politik kaum statt. Soweit, dass der eigene Bündnispartner aufgehalten oder auch nur kritisiert wird, reicht die „Friedenspolitik“ schon gar nicht. Doch die imperialistischen Staaten und ihre Vertreter*innen sind sowieso die falschen Adressaten für solche Appelle.

Die Revolution in Rojava und die Welt der kapitalistischen Moderne sind zwei sich gegensätzlich ausschließende Gesellschaftsentwürfe. Die eine baut auf Geschlechterbefreiung, Basisdemokratie, Gleichberechtigung und Ökologie und die andere auf Konkurrenzkampf und brutale Ausbeutung zur Profitmaximierung. Diese beiden Seiten können niemals Verbündete sein und auch taktische Zusammenarbeit hält, das hat die Vergangenheit gezeigt, exakt nur so lange, wie es punktuell gemeinsame Interessen gibt oder die Interessen der verschiedenen imperialistischen Blöcke gegeneinander ausgespielt werden können. Die einzigen strategischen Verbündeten, die die Revolution in Rojava hat sind wir alle. Wir, die fortschrittlichen, demokratischen, kommunistischen, sozialistischen, anarchistischen, revolutionären Kräfte auf der ganzen Welt.

Für uns darf Afrin nicht einfach nur eine weitere Schlacht um eine weitere Stadt in einem Krieg sein, der sowieso schon ewig zu gehen scheint. Der Verlust von Afrin an den türkischen Faschismus wäre nicht nur ein Verlust für die Revolution in Nordsyrien, sondern ein Verlust für uns alle, ein Rückschlag in unser aller Kampf um eine bessere Welt. Machen wir uns nichts vor, so wie der Imperialismus heute Afrin begegnet, wird er früher oder später ganz Rojava und jedem anderen fortschrittlichen Projekt dieser Welt begegnen und unsere einzigen Verbündeten in diesem Kampf sind unsere Genoss*innen auf der ganzen Welt.

Im Rahmen der Kampagne #fight4afrin gab es in ganz Europa und darüber hinaus entschlossenen Widerstand gegen den Krieg. Von Demonstrationen und Platzbesetzungen über die Besetzung eines türkischen Konsulats in Italien und eines deutschen Konsulats in Kreta, bis hin zu militanten Aktionen gegen Unterstützer oder Profiteure des Krieges. Parteibüros wurden angegriffen oder besetzt, es gab Brandanschläge auf Vereine türkischer Faschisten und anderer Kollaborateure des Erdogan-Regimes. Diese Aktionen, wenn sie medial auch oft noch – ähnlich wie der Krieg als solcher – als ethnischer Konflikt zwischen Türken und Kurden dargestellt werden, stehen ganz klar im Zeichen des Internationalismus und Antifaschismus.

Unser Widerstand hier darf nun nicht aufhören. Es muss deutlich werden, dass Krieg in Rojava auch hier auf massiven Widerspruch stößt. Die kurdische Freiheitsbewegung hat oft davon gesprochen, dass Afrin „das Vietnam der AKP-MHP Diktatur“ wird. Auch die Revolutionär*innen Vietnams standen nicht alleine, sondern wurden durch eine enorme Friedensbewegung auf der ganzen Welt unterstützt, die wiederum Ausgangspunkt für andere Kämpfe auf der ganzen Welt waren. Wir dürfen uns also nicht von der türkischen Propaganda entmutigen lassen und die Stadt für gefallen, oder gar die Revolution für gescheitert erklären.

Die Freund*innen in Afrin werden die Stadt so lange verteidigen, wie sie nur können und den Krieg für die Besatzer so verlustreich wie nur möglich machen. Auch wir müssen durchhalten, unseren Widerstand verstärken und dürfen uns nicht entmutigen lassen, damit der Krieg auch für alle seine Fürsprecher so teuer wie nur möglich wird.

Ergänzung: Minuten nach Veröffentlichung dieses Textes kam eine Meldung über einen erfolgreichen Angriff auf feiernde türkische Soldaten und Dschihadisten im Stadtzentrum Afrins, bei dem viele von ihnen getötet wurden.

Quelle: lowerclassmag.com… vom 19. März 2018

 

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