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Schaltjahr 1923. Revolution und/oder linke Regierung?

Eingereicht on 25. März 2018 – 11:26

Michael Buckmiller. Eines blieb August Bebel durch seinen Tod 1913 erspart: Die Entscheidung des 4. August 1914. Folgt man der These von Helmut Bley[1], gab Bebel den Engländern Entwarnung in Bezug auf die in der Propaganda der Arbeiterbewegung auf einen zu erwartenden Krieg: »Beschließt ihr einen Kabinettskrieg, dann habt ihr die proletarische Revolution im Haus.« Bebel schätzte die Arbeiterbewegung als nicht fähig ein, einen Krieg durch Aufstand, Generalstreik oder gar eine Revolution zu verhindern. Vielmehr befürchtete er in einer derartigen Aktion den günstigen Vorwand für einen Militärschlag gegen die Arbeiterbewegung und damit die Umkehr der inzwischen erreichten Demokratisierung der Gesellschaft für Jahrzehnte. Bebel setzte auf ausgeglichene Rüstung, nicht auf eine proletarische Revolution. Die vormalige Grundhaltung: Diesem System keinen Mann und keinen Pfennig zur ausgeglichen imperialen Rüstung, von der Ablehnung der Militärvorlagen zur Tolerierung der Kolonialbudgets signalisiert eine veränderte Haltung der eigenen Zukunftsentwicklung zum Staat. Der 4. August 1914 hatte seine Vorlaufzeit – nicht nur in der deutschen Sozialdemokratie.

Die Anerkennung der Gewerkschaften als kollektivem Verhandlungspartner 1916 durch das Stillhalteabkommen (Burgfriedenspolitik) war mental anschlussfähig im Schutzabkommen der Gewerkschaften mit den Unternehmensverbänden am 15. November 1918 gegen die Sozialisierungsgefahren für das Kapital, oder wie die Industriellenverbände es selbst formulierten: »das Unternehmertum vor der drohenden, über alle Wirtschaftszweige hinwegfegenden Sozialisierung, der Verstaatlichung und der nahenden Revolution [zu] bewahren«. Großes Wunder: Die organisatorische Stabilität bleibt erhalten, und wächst bis zur Krise 1928/1929

Ebenfalls sechs Tage nach der Novemberrevolution 1918 beauftragte der sozialdemokratische Rat der Volksbeauftragten den bürgerlich-demokratischen Staatsrechtslehrer Hugo Preuß mit der Ausarbeitung einer neuen Reichsverfassung. Hinter dem Auftrag steckte nicht mangelnde Fachkompetenz der SPD in verfassungsrechtlichen Fragen, sondern die klare Absicht, in der akuten revolutionären Umbruchsituation mit einer sozial unterlegten bürgerlichen Verfassung gegenzusteuern gegen die Fundierung und damit Stabilisierung einer Demokratisierung aller gesellschaftlicher Bereiche, wie sie die revolutionären Räteorganisationen auch verfassungsrechtlich auf eine neue historische Stufe stellen wollten im avisierten sozialistischen Gemeinwesen. Stattdessen wurde im ersten Halbjahr 1919 durch den Noskeschen Bürgerkrieg die politische Macht der Räte über den Weimarer Konstitutionsprozess in wirkungslose Reichswirtschaftsräte bzw. in ein neu zu schaffendes Arbeitsrecht zu verschoben.[2]

Die sozialdemokratische Staatspolitik lieferte nach: Das unter Leitung des roten Papstes Kautsky erstellte moderate Sozialisierungsgutachten für den Kohlebergbau wurde in den Kehricht getreten und das Anti-Sozialsierungsgutachten der bürgerlichen Minderheit der Kommission zur sozialdemokratischen Regierungsnorm erhoben. Die Neuauflage eines Sozialisierungsprogramms für die Kali-Industrie nach dem Kapp-Putsch 1920 blieb im PR-Raum stecken.

Das Bündnis der sozialdemokratischen Führung mit den Reichswehr- und Freikorpstruppen gegen die radikalen Tendenzen der Arbeiterbewegung weckte den Mut zur Eigeninitiative der Reaktion im Kapp-Lüttwitz Putsch. Dass nun die bedrohte SPD-Führung zusammen mit den Gewerkschaften den politischen Generalstreik, der 1905 noch auf den Namen »Generalunsinn« hörte, ausrief zur Rettung der bürgerlichen Demokratie ist ein Sonderfall und sein »Gelingen« beruht wesentlich auf Seeckts Verzicht, dem Unternehmen beizutreten (Reichswehr schießt auf Reichswehr nicht.)

Der August 1914 löste in der Arbeiterbewegung eine gewaltige parteipolitische Verschiebung aus: Verlor die SPD bis 1917 nahezu 80 Prozent ihrer Mitglieder, stieg die räteorientierte USPD-Abspaltung im Verlauf der Revolution zur Massenpartei mit etwa 900.000 Mitgliedern auf. Da mit der Verabschiedung der Reichsverfassung der Kampf um die Durchsetzung einer Räterepublik aussichtslos wurde, geriet die USPD in eine Zerreißprobe: Fortsetzung der Revolutionsanstrengung auf anderer Ebene – d.h. Orientierung in Richtung Komintern – oder Rückkehr zur alten Sozialdemokratie. Der Konstitutionsprozess der KPD als Massenpartei war von Anbeginn an gezeichnet durch die postrevolutionären Bedingungen der werdenden Sowjetunion und den Übertragungsillusionen auf die deutschen Verhältnisse. Ausdruck dieser Problematik ist die Levi-Krise 1921, die den Eingriff der Komintern zur Märzaktion 1921 mit der Zerstörung der Massenpartei bezahlt und zugleich mit der Unterdrückung der freien innerparteilichen Auseinandersetzung darüber, d.h. der Unterwerfung unter die Autorität der Sowjetunion als einem werdenden neuen Rom.

Die unmittelbaren Folgen können durch konsequente Einheitsfrontpolitik bis 1923 abgemildert und auf dem Leipziger Parteitag im Januar 1923 dahingehend korrigiert werden, dass für die KPD der Eintritt in eine SPD-geführte Regierung ermöglicht wird. Das war trotz innerparteilicher Kämpfe äußerlich betrachtet eine Art Rückkehr zur republikanischen Tradition der luxemburgistischen revolutionären Realpolitik. Der Ausgangspunkt dafür schien günstig: die katastrophale Ruhrpolitik des Reichskanzlers Cuno stürzte die junge Republik in eine wirtschaftliche und finanziell ausweglose Lage, die im August durch einen von der KPD initiierten Generalstreik zum Sturz der Reichsregierung führte. Die Einheitsfront von unten zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten schien zu funktionieren. Ob auf dem Höhepunkt dieser Bewegung die KPD aus eigener Kraft und politischem Geschick den Gesamtprozess revolutionär hätte vorantreiben können, oder wenigstens für das spätere Verhältnis zur SPD andere nachhaltige Akzente hätte setzen können, muss Spekulation bleiben. Die Einschätzung Brandlers blieb eher skeptisch.

Tatsache ist jedoch, dass die KPD-Führung und ihre jeweiligen Flügel weitgehend damit befasst waren, ihre weiteren Aktionen nach den Einschätzungen der Komintern festzulegen. Noch im Juni 1923 sah man dort noch keinerlei Vorzeichen einer Revolution, doch im August sah man sie unmittelbar bevorstehend und zwar in Wechselwirkung mit einer Stabilisierung der Verhältnisse in der SU. Eine siegreiche Revolution in Deutschland könne ein Ausweg aus den Schwierigkeiten zeitigen, mit denen das Sowjetland konfrontiert war, so Sinowjew, und weiter: »Die heraufziehende zweite, wirklich proletarische Revolution in Deutschland wird Sowjetrussland endgültig zum Siege verhelfen auf dem Felde des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus« hieß es in den Thesen Sinowjews aus seinem Urlaubsort Kislowodsk 15. August 23.[3] Die Gesamteinschätzung der Lage war vollkommen verzerrt und liest sich wie eine auf dem staatlichen Reißbrett überhöhte Machtphantasie in Analogie gesetzt zur Erfahrung der leninistischen Machteroberung seit 1917. Dass auch die geplanten materiellen Vorbereitungen und Unterstützungsmaßnahmen in den verbleibenden Monaten bis zur Durchführung der Aktionen weitgehend auf dem Papier bleiben mussten, versteht sich – nach heutigen Kenntnissen der Dokumente – fast von selbst.

Der Parteivorsitzende Brandler befand sich in einem Spagat: Einerseits in Bedrängnis aus den Reihen der Komintern und zugleich im Feuer der heftigen Kritik des ultralinken Flügels der KPD um Ruth Fischer, anderseits der eigenen zeitweilig relativ realistischen Einschätzung der allgemeinen politischen Lage in Deutschland und der Kräfte der eigenen Partei und der Arbeiterbewegung. So machte Heinrich Brandler die Auslösung einer revolutionären Aktion wie den Generalstreik organisatorisch abhängig von der verlässlichen Mitwirkung des linken sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Bündnispartners wie den Betriebsräten. Als diese Zustimmung nicht erfolgte, übernahm er die Verantwortung für den Rückzug. Damit war klar, dass der radikale Flügel der deutschen Arbeiterbewegung aus eigener Kraft auch nicht mit Unterstützung der Komintern in der Lage war, die krisenhaft zugespitzte Lage in eine weitertreibende revolutionäre Umwälzung zu überführen.

Der äußere politische Rahmen für den geplanten »Deutschen Oktober« war der Einstieg der Kommunisten in die sozialistischen Minderheitsregierungen in Sachsen und Thüringen, wo in gewisser Hinsicht Ausnahmesituationen vorherrschten: Das eher links-sozialdemokratische Führungspersonal war jung und offen für echte demokratische Reformansätze und angesichts eines erwarteten faschistischen Marsches aus Bayern nach Berlin jetzt auch bereit zu proletarischen Abwehrverbänden zur Verteidigung der Demokratie. Tausende SPD und KPD Anhänger demonstrierten gemeinsam beim »Antifaschistentag« mit der Forderung nach einem Betriebsrätekongress als Grundlage für eine Arbeiterregierung.

Am 1. Oktober 1923 gab das Exekutiv Komitee der Komintern an die KPD die Direktive zur Regierungsbeteiligung heraus: »Da wir die Lage so einschätzen, daß der entscheidende Moment nicht später als in vier, fünf, sechs Wochen kommt, so halten wir es für notwendig, jede Position die unmittelbar nützen kann, sofort zu besetzen (…) Unter der Bedingung, dass die Zeigner-Leute bereit sind, Sachsen wirklich gegen Bayern und die Faschisten zu verteidigen, müssen wir eintreten, sofort die Bewaffnung von 50 000 bis 60 000 wirklich durchführen, den General Müller ignorieren. Dasselbe in Thüringen.«[4] Einen Tag später gibt das Pol-Büro ein Papier heraus, es liege »nicht nur im Interesse der Thüringerbewegung, sondern auch im Interesse der Bewegung im Reiche, dass der Thüringer Bezirk alles unternimmt, was es der SPD erleichtern könnte, eine Koalition …einzugehen.«[5]

In Sachsen waren seit Januar 1923 durch die Minderheitsregierung Zeigner die Voraussetzungen für eine Koalitionsregierung weiter vorangekommen durch die mit der KPD vereinbarten Richtlinien: 1. Abwehrmaßnahmen gegen den Faschismus, 2. Bekämpfung des Wuchers, 3. Bildung von Arbeiterkammern und 4. eine Teilamnestie. Die parlamentarische Zusammenarbeit der beiden Arbeiterparteien verlief gut und konnte sich auf außerparlamentarische Aktivitäten v. a. der Betriebsräte stützen und führte schließlich am 10. Oktober 1923 nach der Direktive der Komintern zum Eintritt der KPD in die Regierung in Sachsen.

Drei Tage später einigten sich auch in Thüringen die beiden Arbeiterparteien auf ein gemeinsames Programm. Am 16. Oktober trat die KPD auch in Thür. in die Regierung unter dem linken Sozialdemokraten August Frölich, der jetzt, zum Schutze der Verfassung, sogenannte ‚republikanische Notwehren‘, akzeptierte. Weitere Schwerpunkte der Regierungsarbeit sollten sein die Sicherung des Lebensminimums durch Erfassung von Sachwerten durch das Reich, die Schaffung von Außenhandelsmonopolen nach russischem Muster, die Durchführung einer wirksamen Produktionskontrolle unter Mitwirkung der proletarischen Massen, unbedingte Aufrechterhaltung des Achtstundentags, Erweiterung des Arbeitsrechts, Verhinderung von Betriebsstillegungen, Bekämpfung des Wuchers durch Kontrollausschüsse, Verstaatlichung der Polizei unter republikanischer Leitung und Säuberung des Staatsapparats.[6]

Doch das Experiment stand unter schlechtem Vorzeichen: In Thüringen hauste General Reinhard vom Wehrbereichskommando V (5. Division), der seit der Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes in Thüringen vom 26. September 1923 durch Reichskanzler Stresemann (also noch vor dem KPD-Eintritt in die Regierung) und seinem sozialdemokratischen Innenminister Sollmann, inklusive der Unterschrift des Reichspräsidenten Ebert mit seinen Truppen jenseits jeglicher Verfassungsbestimmungen wie ein Militärdiktator;[7] Bebels Befürchtungen von 1910 über die Stellung des Militärs zur Arbeiterbewegung hatte prognostische Wirkung, nur jetzt unter staatlich gestützter Beteiligung eigener Führungsgenossen. In Sachsen, wo zwischen Zeigner und Reichswehrminister Geßler ein besonderer Konflikt schwelte, verfügte Stresemann direkt die militärische Amtsenthebung der parlamentarisch gewählten Regierung und setzte seinen Parteifreund Heinze als Staatskommissar ein.

Es war schon nach wenigen Tagen absehbar, dass die durch Ebert gedeckte Militärherrschaft selbst die eingeschränkten Reformpläne der Koalitionsregierungen unmöglich machte. Haussuchungen bei Parlamentariern und Ministern wie Korsch, Neubauer und besonders infam im Falle der KPD-Landtagsabgeordneten Käte Duncker durch ein Spezialkommando der Reichswehr, die bei ihrer gezielten Haussuchung das Beweismaterial für die am selben Tag angekündigte Rede zu entwenden versuchte, das sie – wohlweislich gut versteckt – am selben Tag dem Landtag präsentierte mit dem Ergebnis, daß bis zum 20. November 1923 von der Reichswehr in Thüringen 300 Personen verhaftet, 34 ermordet und 130 verletzt worden waren.[8]

Zwar protestierte Ministerpräsident Frölich über die militärischen Einschränkungen seiner Handlungsfreiheit, aber im Nachhinein kam zutage, dass er mit SPD-Innenminister Sollmann und Militärbehörden in gewisser Weise zusammenarbeitete, um dem Schicksal seines sächsischen Kollegen Zeigner zu entgehen. Dazu kam es nicht, weil die drei Kommunisten – wohl auf Anweisung des ZK – aus der Regierung zurücktraten. Im Nachgang kommentiert der linke Sozialdemokrat Hermann Brill nicht ganz zu Unrecht, dass der Rücktritt der KP-Minister von außen geleitet gewesen sei in Anspielung auf Komintern als »Außenorganisation der russischen Außenpolitik«. Betonte aber zugleich, dass es zur Reichsexekution auch gekommen wäre, wenn die Kommunisten nicht in die Regierung getreten wären. Brill sagt weiter: »Es ist uns auch bekannt, dass es im ganzen Zuge der politischen Entwicklung des deutschen Bürgertums liegt, überall da, wo sie die Macht der Arbeiterklasse, die diese durch parlamentarische Mehrheiten oder durch ausschlaggebenden Einfluss in Parlamenten errungen hat, nicht mit legalen Mitteln überwinden kann, jederzeit bereit ist, zu illegalen Mitteln zu greifen.«[9] Dass jedoch seine Genossen in Berlin an der Reichsexekution direkt beteiligt waren, sagt der linke Sozialdemokrat im Thür. Landtag nicht. Zumal durch eine gezielte Indiskretion im Landtag bekannt wurde, dass Frölichs Zusammenarbeit mit Reichswehr und Stresemann weit enger war, als von ihm im Landtag zugegeben. Im Prinzip war die gesamte Aktion »Rettung der Verfassung durch Verfassungsbruch« ein Vorschein zum Papen-Schlag 1932.

Das Oktober-Experiment 1923 hatte äußerlich eine Phase der sogenannten relativen Stabilisierung für die kommenden vier Jahre zur Folge. Doch für die theoretische Orientierung der gespaltenen Arbeiterbewegung waren die Folgen tiefgreifend und katastrophal, setzt man sie in Beziehung zum Aufstieg des Nationalsozialismus als Moment des Aktionszerfalls der Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik direkt in Beziehung.

Der Verlust der organisatorischen Kontinuität nahm nun auch strikt gegensätzliche theoretische Identitätsbildungen an, die sich auch in schwerster Krise kaum noch verbinden ließen. Das ultralinke Aufbäumen in der KPD nach der Oktoberniederlage 1923, über den reinen Leninismus und der Parole des V. Weltkongress, der Bolschewisierung die revolutionäre anti-imperialistische Perspektive im Weltmaßstabe zurückzuholen, blieb ein Scheinerfolg von kurzer Dauer, verpflichtete aber zunehmend, und contra voluntatem der Akteure, die Sektionen der KI an die sich herausbildende neue Orthodoxie des Marxismus-Leninismus als aktualisierter Doktrin des Marxismus auf die Eroberung der Staatsmacht. Die mentale und schließlich organisatorische Bindung jeglicher Hoffnung der Überwindung des Kapitalismus an die Entwicklung der sowjetischen Staatsmacht wurde mit der Festigung des Stalinismus zum Verhängnis.

Denn andrerseits verblieb der wieder geeinte sozialdemokratische Traditionsstrang in einer inzwischen toten, zu keiner revolutionären Aktion verpflichtenden Ideologie der Marx-Orthodoxie Kautskyscher Prägung als einer naturwissenschaftlich orientierten Weltanschauung und Geschichtsphilosophie, die eine aktive Bindung an das Schicksal des kapitalistischen Staates für vereinbar, ja zwingend hielt. Damit löste sich die traditionelle Sozialdemokratie als Antagonist aus dem Feld der potentiellen Überwindung des Kapitalismus durch die proletarische Aktion und wurde zum tragischen integrativen Teil des Problems.

Die sich petrifizierenden Orthodoxien, die sich nach 1945 gar in staatlicher Form gegenübertraten, wurden nur durch das Sektenstadium kaum übersteigenden Zwischengruppen an den Rändern der beiden Blöcke angetastet und in Aktionsmodelle transformiert.

Beide Landesregierungen, Thüringen und Sachsen, haben in ihrer resoluten Reformpolitik auf »reformistische, revisionistische und theoretisch unreflektierte praxisorientierte Vorstellungen der Sozialdemokratie« gestützt, die später unter dem Begriff des »Demokratischen Sozialismus« zusammengefasst wurden, wie Beate Häupel in ihrer Studien betont.[10] Das Grundanliegen bestand in der Demokratisierung des Staates, der Wirtschaft und Gesellschaft, Modernisierung der Bildung des öffentlichen Sektors, sozialdemokratischer Anti-Krisenpolitik. Sie wurde von der Überzeugung getragen, die 1919 steckengebliebene Revolution unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie im Landesformat gleichsam nachzuholen. Sie waren also Arbeiterregierungen im Sinne eines längerfristigen Projekts, das eine sozialistische Revolution im Prinzip nicht ausschloss. Unzweifelhaft aber eine putschistische Machtergreifung, wie das im Modell der Komintern vorgesehen war.

Es ist mehr als interessant, dass gerade Thüringens Arbeiterbewegung ein Modell bildete, in dem sich SPD und KPD noch Reste der Eigenständigkeit bewahren konnte: Hier haben wir einen hohen KPO-Anteil und einen linksozialistischen Funktionsärskörper, der das realistische Paradigma des antifaschistischen Kampfes hätte geben können. Kein Zufall, dass das erste, die Selbstblockaden überwindende Dokument für eine neue Kampfeinheit der geschlagenen Arbeiterbewegung nach 1945 aus der Feder des Thüringers und ersten Ministerpräsidenten, Hermann Brill stammt: Das Buchenwalder Manifest. Dass die Idee des Manifests politisch nicht zum Tragen kam, lag nicht allein am Eingriff der sowjetischen Besatzungsmacht. Als Brill nach Hessen floh, fand er dort durchaus keinen günstigeren Handlungsrahmen für das Manifest.

Quelle: die-linke.de… vom 25. März 2018


[1] Helmut Bley, Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904-1913. Eine Studie über Bebels Gemeimkontakte mit der britischen Regierung und Edition der Dokumente. 2. erw. Aufl. Hannover 2014.

[2] Die spätere historische Stilisierung, die SPD sei durch ihre Politik entschieden der Rätediktatur nach russischem Muster entgegengetreten und habe damit die Rolle der Retterin der Demokratie übernommen, wurde in der historischen Verarbeitung der Novemberrevolution relativ spät kritisch korrigiert. „Die einzige wirkliche Alternative zur bürgerlichen Demokratie war nicht der ‚Bolschewismus‘, sondern eine auf die Räte gestützte soziale Demokratie“. Peter von Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution (1963). Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 67; Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz Die Wiederentdeckung der Rätedemokratie. Peter von Oertzens Konzeption einer sozialistischen Räte-Demokratie und der Paradigmenwechsel in der Bewertung der Novemberrevolution. In:Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hrsg.), Zur Funktion des linken Intellektuellen – heute. In memoriam Peter von Oertzen. (=Kritische Interventionen Band 10), Hannover 2009, S. 21-44.

[3] Die Dokumentation Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern. Hrsg. von B. Bayerlein, Leonid Babicenko, F. I. Firsov und A. Vatlin. Aufbau Verlag Berlin 2003.

[4] Zitiert nach G. Sinowjew über die Lage in der KPD (Sitzung des EKKI Januar 1924), in: Die Internationale, 7.Jg.Nr 2/3 vom 28.3.1924.

[5] SAPMO, RY 1 I 2/3/3 Bl. 272.

[6] Stenographische Berichte über die Sitzungen des II. Landtags von Thüringen, Bd. V, Weimar o.J., S. 5486-5489.

[7] General Reinhardt hatte schon am 28. September 1923 als Verfügung an sämtliche Regierungsstellen seines Wehrkreises erlassen: »Der Ernst der Lage macht es erforderlich, für die nächste Zeit eine Einschränkung in Versammlungen anzuordnen. – Ich ersuche daher, zunächst alle öffentlichen Versammlungen, Ansammlungen, Umzüge und Aufzüge unter freiem Himmel zu verbieten und alle öffentlichen Versammlungen in geschlossenen Räumen von der Genehmigung der zuständigen Polizeibehörde abhängig zu machen. – Gegen jede Handlung, die zum Generalstreik oder zum Bürgerkrieg auffordert, ist sofort einzuschreiten« (R 43 I/2703, Bl. 204). – Die Thür. Regierung Frölich hat sich in einem Aufruf vom 27.9.23 zur Verhängung des Ausnahmezustandes den Anweisungen der Reichsregierung voll unterworfen und damit alle geplanten Handlungen zur Verteidigung gegen die Angriffe von Rechts im vorauseilenden Gehorsam ausgesetzt. (R 43 I/2314, Bl. 221).

[8] Vgl. dazu die Rede von Käte Duncker im Thür. Landtag vom 23. November 1923, Stenographische Berichte über die Sitzungen des II. Landtages von Thüringen, Bd. V., S: 57-62. und vom 29. November (S. 5838, 5890-91) Vgl. dazu auch Heinz Deutschland (Hrsg.), Käte und Hermann Duncker: Ein Tagebuch in Briefen (1894-1953), Berlin 2016, S.386.

[9] Josef Schwarz, Die linkssozialistische Regierung Frölich in Thüringen 1923. Hoffnung und Scheitern. Schkeuditz 200, S. 139 f.

[10] Beate Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen. Staatsgründung und Reformpolitik 1918-1923. Weimar Köln Wien 1995, S. 124 f.

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