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Brasiliens Rechte urteilt sich an die Macht zurück

Eingereicht on 6. April 2018 – 12:56

Harald Neuber. Oberste Richter machen Weg für Inhaftierung von Ex-Präsident Lula da Silva frei und erhöhen Chancen auf einen rechtsextremen Präsidenten.

Eine knappe Mehrheit der Richter des Obersten Gerichtshofes von Brasilien hat sich am späten Mittwochabend nach einer elfstündigen Marathonsitzung für die Vollstreckung eines Haftbefehls gegen den ehemaligen Präsidenten (2003-2011) Luiz Inácio Lula da Silva ausgesprochen. Die Entscheidung am Ende eines umstrittenen und offenbar politisch motivierten Prozesses nimmt unmittelbar Einfluss auf die für Oktober angesetzten Präsidentschaftswahlen, für die Lula da Silva zuletzt mit knapp 40 Prozent in Führung lag.

Nun wiesen sechs der elf Richter einen sogenannten Habeas-Corpus-Antrag der Anwälte Lula da Silvas zurück, mit dem die Haftanweisung bis zur Ausschöpfung aller rechtlichen Mittel ausgesetzt werden sollte. Eine zeitnahe Inhaftierung des beliebten Politikers ist damit sehr wahrscheinlich. Das Urteil dürfte die ohnehin politisch polarisierte Situation in dem südamerikanischen Land weiter anheizen. Parallel zur Gerichtssitzung gingen in mehreren Städten des Landes zehntausende Anhänger des linksgerichteten Politikers auf die Straßen.

Ende Januar hatte ein Berufungsgericht in Porto Alegre den Ex-Präsidenten der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT) wegen Korruption zu zwölf Jahren und einem Monat Haft verurteilt. Die Richter erhöhten das Strafmaß damit gegenüber der ersten Instanz sogar noch um vier Jahre. In dem Prozess ging es zuletzt vor allem um ein Strandappartement, das der Familie Lula da Silvas vom Baukonzern Odebrecht als Gegenleitung für politische Gefälligkeiten nach einer Luxussanierung überlassen worden sein soll. Schriftliche Belege dafür gab es jedoch nicht.

Zudem hatte der umstrittene Bundesrichter Sergio Moro den Ex-Präsidenten in erster Instanz Mitte 2017 wegen Geldwäsche und der Annahme von umgerechnet rund 900.000 Euro Schmiergeld zu gut neun Jahren Haft verurteilt und ihm das passive Wahlrecht aberkannt. Die Beweisführung war jedoch umstritten und der Ermittlungsprozess von Unregelmäßigkeiten überschattet. Lula da Silva und seine Partei sprechen von einem politisch motivierten Prozess, der eine Rückkehr der PT an die Regierung verhindern soll.

Eine Inhaftierung Lula da Silvas könnte Rechtsextremen an die Macht bringen

Ähnlich sahen das erwartungsgemäß tausende Anhänger des Verurteilten. „Wahlen ohne Lula sind Betrug“, skandierten sie am Mittwoch in der Nähe des Obersten Gerichtshofes. Und tatsächlich: Wird die Kandidatur Lula da Silvas verhindert, hätte mit Jair Balsonaro ein derzeit weit abgeschlagener Rechtsextremer Chancen, das höchste Staatsamt zu übernehmen, obwohl er in Umfragen auf kaum 20 Prozent kommt.

Der ehemalige Militär und Anhänger der Militärdiktatur hatte jüngst von sich reden gemacht, weil er bei Wahlkampfauftritten mit einer symbolischen Waffe auf ein Bild von Lula gezielt und einen Kopfschuss angedeutet hat. Bei der umstrittenen Absetzung der Lula-Nachfolgerin und PT-Genossin Dilma Rousseff hatte er seine Stimme zudem demjenigen Militär gewidmet, der die linksgerichtete Politikerin während der Diktatur gefoltert hatte. Wenn Teile der Justiz Lula da Silva ins Gefängnis schicken, wird der Rechtsextremist trotz eines relativ geringen Stimmenanteils zum aussichtsreichsten Kandidaten auf das höchste Staatsamt.

Nicht wenige Beobachter in Brasilien, Lateinamerika und auf internationaler Ebene sehen den Prozess gegen Lula da Silva vor diesem Hintergrund als Fortsetzung einer Art zivil-institutionellen Putsches gegen die PT (Brasilien: Putschisten in Richterroben). Sie verweisen auf die umstrittene Absetzung der Lula-Nachfolgerin Dilma Rousseff im August 2016, mit deren Hilfe – damals offenbar in Absprache mit der politischen Rechten – Rousseffs Vize Michel Temer die Macht ergreifen konnte.

Ähnlich wie der Prozess gegen Lula da Silva basierte die Amtsenthebung Rousseffs auf einer dünnen Indizienlage. Ihre Gegner warfen ihr Haushaltstricks vor, die sie nach der Absetzung der linksgerichteten Politikerin allerdings selbst umgehend legalisierten. Beide Verfahren – die Absetzung Rousseffs und die mögliche Inhaftierung Lula da Silvas – verschafften der neoliberalen Rechten einen nachhaltigen Vorteil, den sie bei freien Wahlen wohl nicht erreicht hätten. Auf diesem Umstand stützt sich die These eines „parlamentarischen und juristischen Putsches“ gegen die PT und ihre Spitzenvertreter.

Kritik an Verfahren in Brasilien und im Ausland

Auch in Brasilien war die Kritik an dem Prozess gegen Lula zuletzt lauter zu vernehmen. Ende Januar kamen in Porto Alegre zahlreiche Juristen zusammen, um das Verfahren zu diskutieren. Einige von ihnen hatten ihre Kritik in einem Sachbuch mit dem Titel „Vermerke eines angekündigten Urteils: der Prozess gegen Lula“ zusammengefasst.

Der Jurist Jacson Zilio, der – wie auch der umstrittene Lula-Richter Sergio Moro – Strafrecht an der Bundesuniversität des Teilstaates Paraná (UFPR) lehrt, konstatierte „schwere juristische Probleme“ im Ermittlungsverfahren und dem folgenden Prozess. „Eines der größten Probleme sind die juristischen Defizite in diesem Prozess und der Missbrauch des Strafrechtes zu politischen Zwecken“, sagte Zilio. Er sieht den demokratischen Rechtsstaat in Gefahr, „weil Strafprozesse sowie Verfahren im rechtlichen Ausnahmezustand durchgeführt werden“. Der Jurist Juarez Cirino, ebenfalls von der UFPR, kommentierte: „Die Opposition scheiterte bei den letzten Wahlen und wäre auch bei der kommenden Abstimmung gescheitert, deswegen haben sie den Wahlkampf sozusagen in den Gerichtssaal verlegt.“

Auch in Deutschland gab es durchaus Kritik an dem Lula-Verfahren. Die ehemalige SPD-Justizministerin (1998-2002) Herta Däubler-Gmelin bezeichnete den Prozess als Teil eines „sozial- und wirtschaftspolitischen Rollbacks“. Auch die Amtsenthebung von der Lula-Nachfolgerin Dilma Rousseff am 31. August 2016 sei dem Muster der neuen Form des Staatsstreichs gefolgt, so Däubler-Gmelin.

„Rousseffs Beschwerde gegen das Impeachment ist im Übrigen trotz seiner offensichtlich ungenügenden rechtlichen Fundierung vom zuständigen Obersten Gerichtshof Brasiliens schlichtweg liegen gelassen, nicht behandelt und schon gar nicht aufgehoben worden“, merkte die ehemalige Bundestagsabgeordnete an. Die Vermutung sei nicht unberechtigt, dass das oberste Gericht des südamerikanischen Landes die Beschwerde erst nach dem Ende der Amtszeit „des unbestreitbar korrupten derzeitigen Präsidenten Michel Temer aufgreifen will“. Dann würde es wohl in der Substanz für erledigt erklärt werden.

Politjustiz führt zu Radikalisierung

In Brasilien und auf internationaler Ebene wurde das Urteil vom Mittwoch nicht nur wegen der Verzerrung der politischen Gegebenheiten mit Protest und Sorge aufgenommen. Erwartet wird auch, dass der von den Anhängern Lula da Silva beklagte „juristische Feldzug“ in zunehmende politische Gewalt gegen die politische Linke mündet.

Unter dem Eindruck des offensichtlich politisch motivierten Verfahrens hatten Anhänger Balsonaros in den vergangenen Tagen bereits einen Buskonvoi Lula da Silvas im Süden Brasiliens beschossen. Nach Berichten der PT und lokaler Medien schlugen drei Projektile in zwei der Busse ein. Mit dem Konvoi war der PT-Kandidat auf Wahlkampftour. Verletzt wurde zwar niemand (eluniversal.com.mx…), anders als bei ähnlichen Angriffen in den Tagen zuvor. Vertreter der Arbeiterpartei sprachenvon einem direkten Anschlag auf den Ex-Präsidenten.

Lula und die PT haben sich angesichts des parlamentarisch und juristisch forcierten Verlustes der politischen Macht ebenfalls politisch radikalisiert, ohne jedoch wie die rechten Gegner auf physische Gewalt zu setzen. In einem Interview mit dem ehemaligen ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa beklagte Lula da Silva, der zu Regierungszeiten stets den Schulterschluss zur Oligarchie gesucht hatte, nun „Verbindungen zwischen den Interessen der brasilianischen Elite und ausländischen Eliten, vor allem aus den Vereinigten Staaten“. Das Innenministerium in Brasília empfange inzwischen „direkte Anweisungen aus den USA“, legte er nach: „Brasilien war ein Land, das alle Möglichkeiten hatte, die Demokratie zu konsolidieren, aber ich glaube, dass die US-Amerikaner nicht daran gewöhnt waren, dass sich Lateinamerika in gewissem Maße unabhängig macht.“

Quelle: Telepolis… vom 6. April 2018

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