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Zum Aufstieg von Rechtsnationalismus und Neoliberalismus in der Schweiz

Eingereicht on 20. September 2014 – 12:22

Die Ergebnisse der Volksbefragungen vom 28. November 2010 widerspiegeln die politische Realität in der Schweiz recht gut. Sie sind das Resultat einer über 70-jährigen Klassenkollaboration der Führungen der SPS und der  Gewerkschaften. Diese hat sich ab den 90er Jahren vertieft und die politische Durchsetzung des Neoliberalismus erst ermöglicht. Was ist los in der Schweiz? Was sind die Aufgaben einer Linken, die eine Alternative  aufbauen will?

WILLI EBERLE

Am 28. November wurde in der Schweiz über zwei nationale  Volksinitiativen abgestimmt: Erstens über die von der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierte  « Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer». Diese sogenannte Ausschaffungsinitiative  wurde von 52.9 % der Stimmenden angenommen. Der damit inhaltlich in etwa identische Gegenvorschlag der Regierung und des Parlamentes wurde verworfen.  Zweitens wurde die von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) lancierte «Steuergerechtigkeitsinitiative» mit 58.5 % der Stimmen abgelehnt. Zu bemerken ist, dass die ausländische Wohnbevölkerung von ca. 2 Mio (etwa ¼ der Wohnbevölkerung) Personen nicht stimmberechtigt ist.

Die Ausschaffungsinitiative und der Gegenentwurf sahen gleich eine doppelte Bestrafung für straffällige AusländerInnen vor, was eine schwere Verletzung selbst der bürgerlichen Grundwerte darstellt, wie sie seit über 150 Jahren auch in der Verfassung der Schweiz als Gleichheit vor dem Gesetz festgehalten wird. Pikant an dieser Abstimmung ist, dass der Gegenentwurf nur dank der Unterstützung der SPS überhaupt zur Abstimmung gekommen ist und so verunmöglicht hat, eine Gegenposition zur Ausschaffungsinitiative aufzubauen. Die Justizministerin, die nun mit der Umsetzung dieses Beschlusses beauftragt ist, ist Mitglied der SPS. Sie setzt nach eigener Aussage «alles daran, diese Initiative nun effizient umzusetzen» (NZZ, 29. November 2010).

Die Steuergerechtigkeitsinitiative wandte sich gegen die seit den 90er Jahren verstärkte Politik des sogenannten Steuerwettbewerbs, womit durch Änderungen des Steuersystems die Reichen zur Wohnsitznahme in einzelnen Gemeinden und Kantonen umworben werden.

1. Die Schweiz – Mehr denn je ein Paradies für KapitalistInnen

0.1 Promille der Weltbevölkerung leben in der Schweiz, gleichzeitig versammelt die Schweiz 1.1 % der weltweiten Privatvermögen. Von den etwa tausend MilliardärInnen auf der Welt leben 10 % in der Schweiz. Die Schweiz ist das Land mit der höchsten Dichte an Firmensitzen von multinationalen Konzernen und entsprechend vielen SpitzenmanagerInnen. Die Schweiz ist der grösste Offshore-Finanzplatz der Welt. Sie steht, nach Namibia und Simbabwe, an dritter Stelle der weltweiten Ungleichheitsskala.

Die Schweiz kennt keinen nennenswerten Kündigungsschutz. Sie rangiert bei der Streikdichte weit hinter anderen europäischen Ländern. Seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es allenfalls noch einen grossräumigen Arbeitskonflikt: 2001/2002 bei der Erkämpfung einer Senkung des Rentenalters im Baugewerbe. Nur für ein knappes Viertel der Lohnabhängigen gilt ein Gesamtarbeitsvertrag, in dem überhaupt minimale Bedingungen bezüglich der Löhne festgeschrieben sind.

Die Schweiz rangiert denn auch in der Rangliste der Länder mit den besten Rahmenbedingungen für InvestorInnen seit Jahrzehnten immer unter den ersten zehn Spitzenplätzen, oft auf Platz eins. Wichtig sind dabei politische Stabilität, sehr tiefe Streikquote, stabile Währung, günstige Steuerbedingungen für Unternehmen, ein flexibler Arbeitsmarkt u.s.w. Die industrielle Produktion ist seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit über 50 % stark auf den Export ausgerichtet und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, dem Beginn des Zeitalters des Imperialismus, ein weltweit führender Finanzplatz.

Seit der Zeit des Ersten Weltkrieges hat die Schweizer Bourgeoisie, mit vollem Einverständnis der Führungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, ein ausgefeiltes, klassenabhängiges Rechtssystem für die Immigration entwickelt. Erstens für die reichen AusländerInnen und die ausländischen Spitzenmanager, die dank ihrer grossen Vermögen von der Arbeit der Anderen leben können. Sie werden mit Sonderbewilligungen und Steuerprivilegien gepflegt. Zweitens für die grosse Menge der lohnabhängigen MigrantInnen, deren Zulassung und rechtliche Stellung durch die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, d.h. der UnternehmerInnen, diktiert werden. Drittens für die Flüchtlinge, die kaum über Rechte verfügen. Zu ihnen zählen die gegen 200‘000 Sans-papiers, die unter äusserst prekären Arbeitsbedingungen ihr Leben fristen müssen. Der Anteil der lohnabhängigen ImmigrantInnen lag seit den frühen 50er Jahren stets über 20 %.

 Tabelle: Volkswirtschaftliche Kennwerte: Verteilung von unten nach oben

  Um 1990 Um 2000 Um 2010
Vermögen der 300 Reichsten+ 86 Mrd Fr 449 Mrd Fr
Anteil des reichsten Prozents am Vermögen 35 % 59 %
Anteil der ämsten 90 % am Vermögen 29 % 17 %
Anteil der Lohnabhängigen am Vermögen 13.4 % 5.7 % 3.8 %*
Produktivität 100 125* 150*
Reallöhne++ 100 99 97
Arbeitslosigkeit < 1 % 2 %** 4 %
Teilzeitarbeitarbeitsverhältnisse < 10 % 25 %
Prekäre Arbeitsverhältnisse Unbekannt 10 %
Working poor unbekannt 5 % > 5 %*
Abhängige von Sozialhilfe 110‘000 220‘000

Die Werte in dieser Tabelle sind aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und kompiliert worden, vor allem aber aus den Datenbanken des Bundesamtes für Statistik und aus Boschetti.

Die Jahreszahlen der Kolonnen bezeichnen Zeitbereiche von 2 bis 4 Jahren, da das vorliegende Datenmaterial gelegentlich nicht genau auf die bezeichneten Jahre abgestimmt ist. Es geht in dieser Tabelle in erster Linie um das Aufzeigen von Grössenordnungen und Trends, so dass diese allfälligen Ungenauigkeiten an den Aussagen nichts ändern.

*Diese Werte sind aufgrund von vorliegenden Daten interpoliert bzw. geschätzt.

++ Die offiziell ausgewiesenen Reallöhne müssen noch um die Effekte der 1995 eingeführten Mehrwertsteuer (-2%) und vor allem der Kopfprämien bei den Krankenkassen (<- 4%)  korrigiert werden.

+ Siehe U. Mäder et àl

** In der Krise der 90er Jahre liegt der Wert während etwa 6 Jahren über 4%.

2. Die politische Wende der 90er Jahre

Während der tiefen Krise von 1974/76 wurde der Abbau von ca. 10 % der Arbeitsplätze vor allem durch die Ausweisung von ca. 270‘000 lohnabhängigen AusländerInnen samt ihren Familien bewältigt. Dieser Weg war in der Krise der 80er Jahre und vor allem zu Beginn der 90er Jahre verschlossen. Denn die betroffene ausländische lohnabhängige Bevölkerung lebte zur grossen Mehrheit mit einer Niederlassungsbewilligung, so dass deren Ausweisung bei Arbeitslosigkeit nicht mehr möglich war. Die Krise der frühen 90er Jahre erzeugte somit schnell eine bislang nicht gekannte Zahl von Arbeitslosen und eine hohe staatliche Verschuldung. Vor allem drohte die Schweizer Wirtschaft ihre traditionell starke Position im sich verschärfenden internationalen Konkurrenzkampf zu verlieren.

Die Vorgaben für eine klare neoliberale Wende wurden ab 1991 in verschiedenen programmatischen Schriften – sogenannten Weissbüchern – von führenden Wirtschaftsverbänden, bürgerlichen PolitikerInnen und ÖkonomInnen unmissverständlich formuliert: Abbau des Sozialstaates, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Steuererleichterungen für UnternehmerInnen und InvestorInnen, Privatisierung des öffentlichen Sektors, Marktliberalisierungen.

Die Gewerkschaftsführungen hatten bereits – gegen starken inneren Widerstand – während der Krise der 70er Jahre den Unternehmern ihre Unterstützung bei der Restrukturierung der Schweizer Industrie zugesichert. Dies führte zu einer radikalen Restrukturierung der gesamten Industrie, ohne dass die Gewerkschaftsführungen dagegen Widerstand entwickelt hätten. Ferner wurde ein staatliches Abbauprogramm eingeleitet, das vor allem die Lohnabhängigen traf: Einstellungsstopp in den öffentlichen Verwaltungen und ein Sparprogramm, wo allein in den Sozialversicherungen bis Anfang der 80er Jahre über 5 Mia Fr gekürzt wurden.

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften traten völlig unvorbereitet in die neue Phase des Kapitalismus, die ab der Mitte der 70er Jahre wirtschaftliche Stagnation, anhaltende Überakkumulation und die Verstärkung der Konkurrenz auf dem Weltmarkt brachte. Ihre fortgeführte Zusammenarbeit mit den UnternehmerInnen und ihrem Staat  in der Bewältigung der Krise führte gerade in der SPS zu einer sozialliberalen Ausrichtung auf die neuen Mittelschichten. Diese aus den Anfangszeiten der Arbeiterbewegung stammenden Organisationen dadurch nicht in der Lage, im Verlaufe der Krise der 90er Jahre dem marktradikalen Neoliberalismus Widerstand zu leisten.

Und auch die traditionellen bürgerlichen Parteien, die FdP und die CVP, die über die vergangenen 150 bzw. 120 Jahre die Politik in diesem Lande bestimmt hatten, waren zu Beginn der 90er Jahre geschwächt. Einerseits durch Skandale, andererseits konnten sie bei den VerlierInnen der neoliberalen Reformen nicht Fuss fassen. Es brauchte ein neues politisches Element, um den Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen politisch in eine neue Phase zu führen.

3. Die SVP erntet die Früchte des Sozialliberalismus

Die SVP ist seit den nationalen Wahlen von 2003 die wählerstärkste Partei, während die anderen bürgerlichen Parteien und insbesondere die SPS in den 80er Jahren und nach 2000 einen unaufhaltsamen Abstieg erfahren haben. Die SPS war seit dem Ende der 1920er Jahre bis 1979 die wählerstärkste Partei, während die SVP in den Jahrzehnten vor 1990 bei nationalen Wahlen immer um die 10 % schwankte, bevor ihr Aufstieg einsetzte und sie in den letzten nationalen Wahlen von 2007 gegen 30% erreichte. Einflussreiche Unternehmer und Rechtsintellektuelle hatten in den 80er Jahre ihre Führung übernommen. Sie sammelten immer mehr radikalisierte, neoliberale und rechtsnationale Segmente aus den Mittelschichten, die die traditionelle, aber schrumpfende Klientel dieser Partei aus dem traditionellen Kleingewerbe und der Bauernschaft zu ersetzen begannen. Der Wähleranteil der SVP unter den einfachen Milieus, dem traditionellen Proletariat, beträgt heute über 40%, bei einem WählerInnenanteil von gegen 30%. Von den knapp 20 % SPS-WählerInnen gehören nur mehr etwa 12 % dem proletarischen Milieu an.

Das neoliberale Programm bedeutet, nach etwa 35 Jahren des Aufbaus des Sozialstaates, entschlossen an dessen Zerschlagung zu gehen. Dies bedeutet, einen unmittelbaren Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen gerade der unteren und mittleren Bevölkerungssegmente durchzusetzen. Die SVP, die dieses Programm konsequent vertritt und sich durch eine forcierte nationalistisch-chauvinistische Profilierung eine Massenbasis aufbauen konnte, wird diese Kombination zwar nicht unendlich lange fortsetzen können. Sie entwickelte bereits in den 80er Jahren vor allem im Kanton Zürich einen Diskurs, der den Abbau durch eine systematische Untergrabung des universalistischen Charakters von Sozialversicherungen und Gesetzen legitimieren soll. Ihr Mandat würde jedoch sofort die Massenbasis verlieren, sobald gegen die neoliberalen Angriffe massenwirksame, kollektive Formen des Widerstandes entwickelt werden könnten. Und gerade dies wird von der Regierungslinken und den Führungen der Gewerkschaften seit Jahrzehnten unterlassen

Die SPS und die Gewerkschaften haben im Laufe der vergangenen 20 Jahren eine Reihe von Gelegenheiten vertan, die Krisen des Unternehmerparadieses Schweiz zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung zu nutzen. Die SPS ist spätestens seit 20 Jahren eine sozialliberale Partei. Die Auseinandersetzungen um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in den 90er Jahren, das Debakel um die Swissair von 2001/2002, die Durchsetzung der Personenfreizügigkeit im Rahmen der Bilateralen Verträge mit der EU (2004), die UBS-Rettung von 2008 (dabei wurden unter Umgehung aller demokratischen Regeln etwa 15 % des BIP an Steuergeldern aufgewendet) und der UBS Staatsvertrag mit den USA von 2010 waren Momente, in denen das Machtkartell der Schweiz in eine tiefe Krise geriet. Es waren Momente, in denen zumindest einige wesentliche Zugeständnisse zugunsten der Lohnabhängigen hätten abgetrotzt werden können. Dazu aber hätte die enge Zusammenarbeit mit diesem Machtkartell aufgegeben und eine breite Mobilisierung gegen die Abbauprogramme aufgebaut werden müssen.

4. Perspektiven jenseits der Klassenzusammenarbeit

Dass es nicht dazu gekommen ist  zeigt nur, dass die Strategie der Klassenzusammenarbeit, wie sie von den Gewerkschaften und der SPS in den zwanziger und vor allem in den dreissiger Jahren formuliert und intern durchgesetzt wurde, keine fortschrittliche Rolle mehr spielen kann. Sie hat diese Rolle bereits früher verloren, haben doch Regierungsmitglieder der SPS beim Umbau des Steuersystems, bei der Privatisierung und Liberalisierung des öffentlichen Sektors, beim Abbau der Sozialversicherungen vor allem ab den 90er Jahren eine führende Rolle gespielt.

Die auf  Klassenzusammenarbeit ausgerichteten Führungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie sind, zusammen mit den KapitalistInnen und derem Personal in den Regierungen, für die sich vertiefende ökonomische, soziale und ökologische Krise und den seit 2 Jahrzehnten anhaltenden Rechtsrutsch verantwortlich.

Die aktuellen Kämpfe in ganz Europa gegen die brutalen Sparvorhaben gehen über den jeweiligen Anlass der Proteste hinaus: Die Bevölkerung rebelliert zunehmend gegen die Selbstherrlichkeit der Politik und die Unverfrorenheit, mit der sie im Solde des grossen Geldes steht. Und im Unternehmerparadies Schweiz hat die lohnabhängige Mehrheit wenig zu lachen. Die Lohnabhängigen können ihre gemeinsamen Interessen nur verteidigen, wenn sie beginnen, die Herrschaft der Kapitalisten gemeinsam herausfordern.

Wir wollen diese Selbstorganisierung von unten fördern. Die Antikapitalistische Linke / Gauche anticapitaliste / Sinistra anticapitalista ist in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aktiv und hat  bei Streiks und bei politischen Kampagnen wie «2x Nein» am 28. November eine aktive Rolle gespielt. Kämpfen wir gemeinsam gegen dieses Ausbeutungssystem, machen wir den Weg frei für eine wirklich demokratische und egalitäre Gesellschaft. 

Referenzen:

Boschetti, Pietro: La conquête du pouvoir. Essai sur la montée de l’UDC. Lausanne, 2007

Bundesamt für Statistik (www.bfs.admin.ch)

Mäder, Ueli; Aratnam Jey Ganga; Schilliger, Sarah: Wie die Reichen denken und lenken. Zürich 2010

Erschienen in Inprekorr Nr. 1/2011 (Januar/Februar 2011)

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