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Über »1968« als globales Ereignis, die Chancen und das Versagen der Linken

Eingereicht on 30. Mai 2018 – 9:56

Stefan Bollinger. Geschichtsschreibung ist ein wunderlich Ding. Historische Ereignisse werden befragt in der Hoffnung, dort Antworten auf Gegenwartsprobleme zu finden, sich inspirieren zu lassen oder gewarnt zu werden. Bei historischen Bestandsaufnahmen sollte man sich allerdings auch immer die Mühe machen, den schönen Schein der Erinnerung zu entzaubern. Je nach politischer Konjunkturlage müssen in der alten Bundesrepublik gefühlt Millionen junger Menschen auf der Straße gewesen sein unter Mao- oder Che-Bildern. Vielleicht haben sie aber doch eher die neuen Freiheiten einer offeneren Lebensweise genutzt? Im Osten soll es nicht nur Florian Havemann mit seinen Flugblättern gewesen sein, der den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen verurteilte, sondern es soll unzählige gegeben haben, die durch den »Prager Frühling« und sein gewaltsames Ende politisiert und traumatisiert wurden. Auch hier wäre Nüchternheit hilfreich, ebenso aber auch das Augenmerk darauf, wann Ereignisse der Vergangenheit in einer politischen Gegenwartssituation – etwa im Herbst 1989 – tatsächlich neue Identitäten stiften konnten.

Den Blick weiten

Je weiter die Ereignisse weg sind, umso besser, da können die Zeitzeugen nicht stören. Wir sind hier, um über jene Ereignisse nachzudenken, die vor einem halben Jahrhundert die Westberliner, die Westdeutschen, die Westeuropäer bewegten …

Doch halt, fängt hier nicht schon der Irrtum an? War es nicht ein globales Ereignis, das sicher auch mit »Kommune 1«, mit sexueller Revolution, mit »Enteignet Springer« zu tun hatte, aber ein doch recht bescheidener Teil eines viel globaleren Problems – oder gar mehrerer.

Deutsche, westdeutsche Selbstüberhebung im Guten wie im Schlechten hilft da nicht unbedingt weiter. Auch wenn diese besondere Melange eines noch konservativ geprägten Westdeutschlands des Wirtschaftswunders, der Adenauer und Erhard mit ihrer unbewältigten Vergangenheit und ihrer Nibelungentreue zum neuen US-amerikanischen Verbündeten kritische Köpfe aufbegehren ließ.

Führt es nicht in die Irre, wenn wir die neuartigen Kampfformen, die Sit-ins, die Teach-ins, die Jugendlichkeit der Rebellion in den Fokus nehmen und die damaligen Jahre nur darauf abklopfen, wer alles ähnliche Kampf- und Aktionsformen verwandte?

Und reden wir tatsächlich nur über das Jahr 1968 und reduzieren es auf den Pariser Mai und das Rollen der sowjetischen Panzer gegen den »Prager Frühling«, ohne recht zu wissen, ob das studentische Prager »Mehr Licht!« wirklich identisch war mit den Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufen des Vietnam-Kongresses in Westberlin?

Offenbar ist es hilfreich, den Blick zu weiten auf eine »Chiffre 1968«, in der sicher das Ereignisjahr eine wichtige Rolle spielt, aber für einen Zeitraum von wohl zwei Jahrzehnten steht. In diesem Zeitraum verabschiedete sich die Welt von den Gewissheiten eines Jahrhunderts, von den Gewissheiten eines fordistisch organisierten Kapitalismus, von den Gewissheiten eines allein sowjetischen – und das hieß stalinistisch geprägten – Staatssozialismus, von den klaren Frontstellungen der System- und Blockkonfrontation mit ihren politischen Akteuren in Ost und West.

Die drei großen Ereignisse des Jahres 1968 fanden in Vietnam, in Paris und in Prag statt. Sie hatten ihren jeweils eigenen Charakter, ihre eigenen Herausforderungen. Ziele, Opfer, Niederlagen und Resultate reichen dennoch weit über den Tag hinaus.

Gemeinsam war ihnen – auch wenn das erst auf den zweiten Blick erkennbar wird: Die Welt trat zu Beginn des Jahrzehnts, natürlich mit Vorläufern, in eine Technologierevolution, oder, wie es im Ostblock mit Anleihe bei Desmond Bernal hieß, in eine wissenschaftlich-technische Revolution ein. Ein Prager Wissenschaftlerteam um Radoslav Richta im Auftrage der regierenden kommunistischen Partei hat diese wissenschaftlich-technische Revolution mit ihren sozialen, ökonomischen, auch individuellen Konsequenzen untersucht und Reformbedarf in Ost wie West ausgemacht, denn auch in Prag dachte man über den Wenzelsplatz hinaus. Vor allem aber – diese wissenschaftlich-technische musste zugleich eine soziale Revolution sein.[1]

Neue Technologien formen auf lange Sicht die Wirtschaft um, intelligenzintensives Arbeiten verändert die Sozialstruktur, die waffentechnischen Konsequenzen der neuen Techniken bei Nuklear- und Raketenwaffen, Radar und elektronischer Rechenmaschine verschieben Kräfteverhältnisse und machen bisherige Kriegsstrategien obsolet.

Diese neuen Technologien, Produktivkräfte, wie Marxisten sagen würden, und nicht nur Produktionsmittel, d. h. Technik, sondern die Hauptproduktivkraft Mensch einschließend, verlangen nach neuen Formen des Wirtschaftens, der politischen, vielleicht demokratischen Gestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie müssten den Menschen verändern, sein Selbstbewusstsein, seine Gestaltungskraft, seinen Bedarf an Gemeinschaftlichkeit und seinen politisch-demokratischen Charakter, idealerweise als (Mit)Eigentümer zumindest unter sozialistischen Vorzeichen.

Mit der Tet-Offensive der südvietnamesischen FLN und nordvietnamesischer Truppen wurde erstmals deutlich: Auch eine Supermacht kann selbst gegen ein kleines, aber kampfentschlossenes, opferbereites Volk mit Unterstützung potenterer Verbündeter nicht gewinnen. Es sei denn, die USA sind bereit, zur Nuklearwaffe zu greifen. Das haben sie aus gutem, weil selbstmörderischen Grund bereits in der Berlin-, wie der Kuba-Krise (1961, 1962) vermieden. Die ehemaligen Kolonialvölker waren nun – sicher vor allem ökonomisch eingeschränkt – in der Lage, eigene Wege zu gehen.

Das imponierte vielen, die im Geiste der kubanischen, chinesischen und vietnamesischen Revolution diesen Aufbruch auch für sich nutzbar machen wollten. Bis dahin unterdrückte, ausgebeutete Völker verschafften sich auf der Weltbühne Gehör, mit der Dynamik des Beginns von etwas Neuem, das sie Sozialismus nannten oder nationale Befreiungsrevolution. Dass der Blick von außen, das neidvolle Aufsaugen des revolutionären Elans, verhinderte, auch die Schattenseiten dieser Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen, wurde jedoch in der Folge problematisch.

Problematische Verallgemeinerungen

Noch gefährlicher wurde die Verallgemeinerung konkreter Kampferfahrungen unter anderen Bedingungen. Che Guevaras und Régis Debrays »Fokustheorie« mochte in China und Kuba funktionieren, im Kongo wie in Bolivien führte sie in den Abgrund. Die westlichen Wiedergänger der Guerillas in Gestalt der Tupamaros, der Roten Brigaden, der Weathermen oder der RAF zeugten vom Hass der Kämpfenden auf den Imperialismus und von ihrer Opferbereitschaft. Dennoch: Ihr individueller Terror trug wesentlich gemeinsam mit der Infiltration der Gruppen durch Geheimdienste und Medienmanipulation zur Diskreditierung nicht nur westdeutscher 68er bei.

Es bleibt: Vor allem waren der Opfermut und die ungebrochene Siegeszuversicht der Vietnamesen etwas, was selbst in den USA gegen die Politik ihrer Regierung aufrüttelte und den Krieg unführbar machte. Dank der Medien war zu sehen, dass der Krieg gegen die Vietnamesen nur mit Massakern wie dem in Son My, oder wie die Westler sagen: My Lay, zu gewinnen war. Also ein verbrecherischer Krieg. Die Strahlkraft des »American way of life« wurde von Blut verdunkelt. Und dies zu Zeiten, da auch im westlichen Musterland von »Democracy and Freedom« die unterdrückten Sklaven hundert Jahre nach ihrer vermeintlichen Befreiung endlich gleichberechtigte Staatsbürger sein wollten. Vielleicht müssten auch die Entwicklungen in Chile, die 1970 zum Sieg der Unidad Popular führten, in diesem Kontext gesehen werden.

Der Dekolonialisierungsprozess hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die Verschiebungen ermöglichten auch in den abhängigen Gebieten der Welt politische Aufbrüche. Am spektakulärsten waren wohl die Proteste im Umfeld der Olympischen Spiele 1968 in Mexico Stadt, die mit dem Massaker von Tlatelolco endeten, bei dem Scharfschützen bis zu 300 friedliche Demonstranten töteten.

Die neuen Technologien begannen langsam, aber sicher ihre wirtschaftliche Verbreitung, sie erforderten breitere Schulbildung, wissenschaftlichen Vorlauf, Forschung, viele Ingenieure und selbständig denkende Akademiker. Die Studentenzahlen begannen zu explodieren, die Selbstrekrutierung aus der Akademikerschaft reichte nicht aus, Bildung wurde immer wichtiger.

Nur, die westlichen Gesellschaften waren auf diese Entwicklung nicht vorbereitet. Georg Pichts Wort von der »Bildungskatastrophe«[2] machte die Runde. Die Studenten (aber auch die Lehrlinge) hatten allen Grund, unzufrieden zu sein – mit ihrer Lebens- und Studiensituation in überfüllten Hörsälen, mit unklaren, offenbar weniger exklusiven Berufsaussichten als ihre Väter. Und sie besaßen ein Sensorium für die Konflikte der Gesellschaft. Menschen- und Bürgerrechte waren wichtig, wie sie sich schon in den antirassistischen und Bürgerrechtsforderungen ihrer US-Kommilitonen in Port Huron (1962) manifestierten.

Die Ungerechtigkeiten der herrschenden Politik – tagtäglich über die Fernsehschirme aus Vietnam herüberflimmernd – bewegten und forderten eigenen Protest heraus, auch in der alten BRD. Das galt für die permanente Weigerung, über den Faschismus zu reden und die Nazimörder zu bestrafen (sie wurden stattdessen pensioniert) sowie überhaupt die Toleranz gegenüber den Neonazis – zumindest in der BRD. Für viele waren dies Anstöße für eine eigene kritische Aneignung linker Theorie und historischer Praxis, wenig vorbelastet von den alten Konflikten zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Sie waren gleichzeitig immer offen für linksradikale, anarchische, lebens- und aktionsbetonte Einsichten. Verbissenheit und Sektierertum waren allerdings auch nicht weit. Sie favorisierten einen Sozialismus der Phantasie, des Antietatismus, fern aller Dogmen, oftmals mit der Vorstellung, dass es nicht um die politische Macht oder um disziplinierte Organisation, etwa in den Parteien gehen müsste.

Vor allem wollten sie als die künftigen Eliten ernstgenommen werden, auch wenn sie das Wort nicht mochten. Nicht stockkonservative Politiker, hierarchische und patriarchale Strukturen sollten sie bremsen. Sie wollten – übrigens auch im Osten – als Intellektuelle, als Spezialisten akzeptiert werden und gestalten.

Allerdings erlebten sie nicht nur die herrschenden bürgerlichen Kräfte als hemmend, sondern oft auch die Arbeiter. Die waren meist bodenständiger, wussten, was sie erreicht hatten, und begriffen oft nicht, was die Studenten von ihnen wollten, zumal sie deren Soziologensprache nicht verstanden.

Die Sternstunden waren gemeinsame Kämpfe gegen das herrschende System – namentlich im Mai 1968 Frankreich am Rand einer Revolution. Aber diese Sternstunden blieben die Ausnahme, egal, welche Taktiken und Konzepte die Studenten entwickelten. Sie standen mit ihren Flugblättern vor den Werktoren, brachten sich selbst als »Proletarier« am Fließband ein, und besonders in Italien oder Frankreich halfen sie den Arbeitern bei ihren Versuchen der Selbstverwaltung. All das reichte jedoch nicht.

Nachfordistisches Wirtschaften

Die technologischen Veränderungen hatten und haben weit langfristigere Konsequenzen, als zunächst abzusehen war. In den Industriestaaten stellte sich die Frage, ob weiter um Stückzahlen und Tonnen gerungen wird und die Arbeiter den Reichtum produzieren müssen. Oder ob die neuen Möglichkeiten die Rolle der Arbeiter und der Arbeiterklasse schwächen werden und sie von qualifizierteren Technikern, Ingenieuren, Akademikern verdrängt werden müssen. Die Konsequenzen für die bisherigen starken Arbeiterbewegungen begannen sich langsam, aber sicher abzuzeichnen. Gleichzeitig stellte sich die Frage, inwieweit die Formen des Wirtschaftens Folgen für die internen Arbeitsbeziehungen haben, ob es ein Mehr an dezentralen, aber intelligenzintensiven Strukturen geben wird, ob aus der Selbständigkeit der Arbeitskollektive auch betriebswirtschaftliche, betriebsorganisatorische und vielleicht gar demokratisch Ansprüche erwachsen.

In den Ostblockstaaten begriffen die Wirtschaftsspezialisten, teilweise auch die Politiker, dass die Zeiten des extensiven Wirtschaftens vorbei waren. Nun müssten Wirtschaftsreformen, egal, ob die NÖS, NÖM oder »Prager Frühling« genannt wurden[3], greifen. Wirtschaftliche Intensivierung stand auf der Tagesordnung, und das hieß Abschied von einer dirigistischen Planwirtschaft und hin zu einer mit ökonomischen Hebeln, mit Gewinn und materieller Interessiertheit arbeitenden Wirtschaft. Die DDR und die CSSR waren als höchstentwickelte Ostblockstaaten dafür prädestiniert.

Aber Berlin und Prag gingen unterschiedliche Wege. Bald stand in der CSSR die Frage nach politischem Pluralismus auf der Tagesordnung – und damit die Machtfrage. Die Moskauer Lösung dieses Problems ist bekannt.

Weniger genau wird allerdings auf die unmittelbaren Konsequenzen der Reformen geschaut. Sie hatten nur bedingt Erfolg – und das hat nicht allein seine Ursache in einer Verweigerungshaltung der Funktionäre. Auch die Arbeiter waren oft keineswegs begeistert, wenn nun ihre eigene Leistung oder Leistungszurückhaltung zum ausschlaggebenden Maßstab werden sollte. Wer konnte jetzt noch korrigieren, um soziale Belange zu berücksichtigen und Konflikte zu vermeiden?

Die Westlösung musste anders aussehen und war nicht von solchen politischen Vorbehalten geprägt. Unternehmer und zunehmend Politiker setzten auf Milton Friedmans Neoliberalismus. Die neoliberale Umgestaltung hat ideologische wie politische Dimensionen, und sie kann auf eigentlich positive Effekte des 68er-Aufbruchs zurückgreifen. Sie wird – am konsequentesten von Margaret Thatcher (ab 1979) und Ronald Reagan (ab 1981) im Folgejahrzehnt praktiziert – auch mit brachialer Gewalt gegen die traditionelle Arbeiterbewegung, gegen die Gewerkschaften durchgesetzt. Die Zerschlagung der britischen Bergarbeiterbewegung 1984/85 war der Wendepunkt. Dieser Prozess dauerte – dann aber, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, konnte dieses System sich weltweit durchsetzen. Dank SPD und Bündnisgrünen vollendete er sich in der Bundesrepublik 2004 in Gestalt von »Hartz IV«.

Heute kann man mit Interesse und ein wenig Kopfschütteln jene Hinterzimmerdiskussion von Rudi Dutschke, Hans Magnus Enzensberger, Bernt Rabehl und Christian Semler lesen, die 1967/68 darüber nachdachten, Westberlin zu einer sozialistischen Insel nach dem Vorbild der Pariser Kommune zu revolutionieren. Enzensberger warf die Frage auf: »Die Hypothese von einem befreiten Berlin – weiter ist es ja nichts – diese Hypothese schleppt mit sich das Problem des Sozialismus in einem Land. Für den Fall einer solchen Hypothese hätte man hier in Berlin zu rechnen mit einer feindlichen Außenwelt, die bis zur Blockade gehen wird, vom Westen her – vielleicht auch von Seiten der DDR. Ein komplizierender Faktor sind die Besatzungsmächte. Das ist eine Situation, die sonst nirgends existiert. Allgemeinere Fragen sind: der Schutz nach außen, und die Gegenmaßnahmen des Klassenfeindes im Innern.«[4] Realistischerweise fanden die Diskutanten dafür keine Lösung.

Im Kontext von 1968 war für jeden Reform- und Veränderungsversuch die Existenz der Systemkonfrontation tödlich. Den einen wurde empfohlen »Geht doch rüber«, und sie wurden als »Hand Moskaus« denunziert. Genauso ging es jenen, die im Osten einen modernen, menschlicheren Sozialismus wollten, egal, ob in der Partei und ihren Führungsgremien oder auf der Straße oder im Hörsaal. Auch hier war die Zuschreibung »Fünfte Kolonne« allgegenwärtig und folgenreich.

Für den realen Sozialismus war dies bis zuletzt eine tödliche, desorientierende Prägung, die dieses System schließlich untergehen ließ. Nun waren in der finalen Krise nicht mehr Reformen gefragt, sondern die Übernahme des perfekten kapitalistischen Modells, wie es scheinbar in der BRD oder in Skandinavien sozialstaatlich und ökonomisch so gut florierte. Nur, das hatten die Massen im Osten übersehen, dieses System war längst auf dem neoliberalen Trip, der eine Verschmelzung von harter Deutscher Mark oder hartem Dollar mit den sozialen Errungenschaften des Ostens für alle Gesellschaftsangehörigen ausschloss.

Auch dies gehört zu den verdrängten Wahrheiten: Die Gewaltlösung war immer präsent hinter freiheitlich-demokratischer wie hinter realsozialistischer Fassade – egal, ob es sowjetische Panzer, die Fäuste polnischer Bergarbeiter oder die Nationalgarde, die Rückversicherung de Gaulles im Mai 1968 bei seinen Truppen in Baden-Baden oder das Durchpeitschen der Notstandsgesetze war.

Dauerkonflikt

Bis heute imponiert die Konsequenz linksradikaler Kritik an den verbürokratisierten, traditionellen Arbeiterorganisationen, die in den 1968er Diskussionen eine so große Rolle spielen. So stellten die Cohn-Bendits in ihrer »Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus« fest: »Die Kritik an den Arbeiterorganisationen in Frankreich ließ uns erkennen, dass nicht etwa deren Führungen versagt, Fehler gemacht oder Verrat begangen haben, sondern dass sie an der Ausbeutung teilhaben, da sie dazu beitragen, die Arbeiter ins System zu integrieren.«[5]

Nach kurzen Berührungsversuchen blieb es letztlich bei einem Dauerkonflikt zwischen den neuen sozialen Bewegungen und der alten Arbeiterbewegung, die selbst gespalten war. Zugleich war es ein anderes Verständnis von Sozialismus.

Letztlich etablierten sich die neuen sozialen Bewegungen als soziale Bewegung der Intelligenz, der gebildeteren Schichten, der Studenten in vielen Ländern als eigenständige, auch parteipolitische Kraft. Mit der Umweltfrage, mit einer großen Aufgeschlossenheit für alternative Lebensweisen, für den Feminismus waren sie oft ein Gegenbild zu den verbissen um ihre (keineswegs immer umweltfreundlichen) Arbeitsplätze und ihren sozialen Status ringenden alten Bewegungen. Deren Organisationsformen – selbst in den vermeintlich harmlosen gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Formen im Vergleich zu den strengen kommunistischen – waren für sich selbst verwirklichende, oft noch jüngere Studierte wenig attraktiv.

Indes verschlossen die linken Parteien und Gewerkschaften zu lange die Augen vor dem großen sozialen Wandel, der ihre soziale Basis, die wohlorganisierte, schlagkräftige Arbeiterschaft langsam, aber sicher zerbröseln ließ.

Unter dem Eindruck des 68er-Aufbruchs und der durch ihn ausgelösten Diskussionen und innerparteilichen personellen Wandlungen konnten linke Parteien in den 1970er Jahren nochmals anziehend werden. Sei es das »Mehr Demokratie wagen« von Willy Brandts Partei (1969), sei es der Versuch von François Mitterrand und Georges Marchais, endlich den alten Volksfrontgedanken mit einem gemeinsamen Regierungsprogramm von Sozialisten und Kommunisten zu krönen (1981), sei es der Versuch westlicher kommunistischer Parteien von Spanien bis Japan, sich in Eurokommunismus und ähnlichen modernen Varianten des Abschieds von leninistischen Prinzipien zu erneuern.

Heute stehen Linke vor dem Problem, dass sich ihre Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen lange vom Klassenkampf und überhaupt vom Klassenbegriff verabschiedet haben – mehr oder weniger. Das liegt nicht nur daran, dass die Klasse heterogener, segmentierter geworden ist und es schwierig ist, Gemeinsamkeiten zu finden, sich zu organisieren und zu kämpfen. Während manche der damals gegründeten Parteien wie die bundesdeutschen Grünen einen Wandel hin zu liberalen Organisationen durchgemacht haben, suchten Sozialdemokraten und die linkssozialistischen Nachfolger der kommunistischen Parteien ihr Glück in der Übernahme jener lebensweiseorientierten, moralisierenden Kapitalismuskritik der neuen sozialen Bewegungen.

Eine wirkliche Anschlussmöglichkeit bei diesen Kräften haben sie dabei weniger gewonnen. Verloren haben sie über weite Strecken den Blick für diejenigen, die nicht von schönen Ideen, sondern von Lohnarbeit leben. Verschärfung des Arbeitstempos, Arbeitslosigkeit, Auspowerung, Konkurrenz am Arbeitsplatz, Egoismus, Fremdbestimmung, soziale Deklassierung, oder auch nur die berechtigte Angst davor lassen wenig Platz für große Traumgespinste. Die Arbeiter wollen etwas Handfestes, und sie finden in den rechtskonservativen, nationalistischen, teilweise offen rassistischen Verteidigern der alten Werte und Ansprüche ihre vermeintlichen neuen Unterstützer.

Idealer Nährboden

Das Jahr 1968 steht unter diesen Vorzeichen in zweierlei Hinsicht für eine Niederlage der linken, sozialistischen Ziele. Zum einen hat der Realsozialismus 1968 mit der Niederwerfung des Prager Frühlings – so verständlich er zur Wahrung des Status quo sein mochte – die Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstkorrektur, zur Weiterentwicklung zerstört. Zwanzig Jahre später war es offenkundig zu spät. Einschränkend muss allerdings auch daran erinnert werden, dass keiner weiß, wie es 1968 in Prag ausgegangen wäre. Oder auch im Pariser Mai. Die Erfahrung von 1989/91 ist hier in den osteuropäischen Staaten wenig ermutigend.

Aber die kommunistischen Parteien in Ost wie West haben aus Angst vor solchen Folgen lieber den Kopf in den Sand gesteckt und auf Weiterentwicklung in großen oder kleinen Schritten, als Elitenprojekt oder Massenbewegung, verzichtet – wenn wir von China und seinem Umfeld absehen.

Zum anderen haben es die Linken der neuen sozialen Bewegungen wie auch die westeuropäischen nichtkommunistischen Parteien nicht verstanden, was sie eigentlich bewegt hatten und was nicht. Sie konnten eine offenere, liberalere, tolerantere Lebensweise durchsetzen, konnten in Maßen eine kritische Gesellschaftstheorie befördern, konnten zumindest in der alten Bundesrepublik darüber nachdenken, was es bedeutete, dass »Opa ein Nazi« war. Sie konnten zum »Marsch durch die Institutionen« antreten und hoffen, oben anzukommen. Das Rütteln am Kanzleramtszaun trug aber in der Regel nur dazu bei, dass die einst Aufmüpfigen nun mehr oder minder eingebunden, etabliert waren.

Herbert Marcuse hatte recht mit seiner These von der »repressiven Toleranz«. Reden darf heute jeder über (fast) alles, Gefühlen darf freier Lauf gelassenen werden, roter Stern und Che sind längst kommerzialisiert. Über den Kapitalismus und Imperialismus soll aber niemand so genau und zu revolutionär nachdenken. Überhaupt: Die vermeintliche Selbstverwirklichung hat als Individualisierung und Vereinzelung den idealen Nährboden für die neoliberale Zurichtung der Gesellschaft gebracht. Esoterik und Veganismus statt politisches Engagement und Ringen um politische und theoretische Konzepte, die Intelligenzler wie Arbeiter, Freelancer wie Prekäre mitnehmen.

Gern schwelgen wir heute in den noch vorhandenen linken Milieus in der Erinnerung an die Festtage der Revolution, als scheinbar spontan Massen auf die Straße gingen, Parolen skandierten und ein neues, befreites Lebensgefühl verkörperten. Das kann auch heute inspirieren, bleibt aber ohne den kritischen Blick auf damals und das, was daraus wurde, leer. 1968 war – vielleicht – eine andere Welt möglich. Heute müssen wir uns zum mindesten wieder dieser Aufgabe stellen, denn die Welt ist anders, ist schlechter geworden – und gefährdet wie nie.

Quelle: jungewelt.de… vom 30. Mai 2018


[1] Radovan Richta und Kollektiv (Hg.): Richta-Report. Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Zivilisation am Scheideweg. Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse, Frankfurt am Main 1971.

[2] Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe: Analyse und Dokumentation, Olten 1964.

[3] Neues Ökonomisches System, ab 1963 in der DDR, Neuer Ökonomischer Mechanismus in Ungarn ab 1968, die tschechoslowakische Wirtschaftsreform seit 1966.

[4] Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Christian Semler (mit Hans Magnus Enzensberger): Ein Gespräch über die Zukunft, in: Kursbuch (1968), H. 14, S. 174

[5] Gabriel und Daniel Cohn-Bendit: Linksradikalismus – Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 265.

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