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Frankreich: Sozialprotest läuft sich tot

Eingereicht on 29. Juni 2018 – 20:00

Sozialprotest läuft sich tot – Trotz Einheit CGT / FO wurde der Aktionstag vom 28. Juni d.J. zum Totalflop – Gesetz zur “Bahnreform” durch Präsident Emmanuel Macron unterzeichnet – Dennoch geht die Auseinandersetzung innerhalb der Bahngesellschaft SNCF weiter, auch aufgrund von Verhandlungen zu Branchenvereinbarungen – Aufruf zu drei neuen Streiktagen wird nur noch durch zwei der vier “tariffähigen” Branchengewerkschaften bei den Eisenbahner/inne/n mitgetragen – Hochschulprotest ist zu Ende – Stichworte zum Artikel von Bernard Schmid am 29. Juni 2018 über den Protesttag 28. Juni in Frankreich, der eine negative Bilanz zieht und dafür eine Reihe Argumente anführt – wie auch zu Fragen, die diskutiert werden müssen

Wenn ein Milliardär und Großunternehmer einen wildgewordenen Berufspolitiker darauf hinweisen muss, dass allzu viel soziale Arroganz nur schadet und ein bisschen mehr Rücksicht auf die Belange der gesellschaftlichen Unterklassen ein Stabilitätserfordernis darstellt, dann lässt dies tief blicken.

Der 81jährige frühere Holz-Großhändler und spätere Anbieter von Luxusgütern (ihm gehören unter anderem die Modemarken Gucci und Yves Saint-Laurent) François Pinault unterstützte in der Vergangenheit zeitweilig den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen, später jahrelang den bürgerlichen Staatspräsidenten Jacques Chirac. Zuletzt stand er dem Sozialdemokraten François Hollande nahe, für den er 2012 bei der Präsidentschaftswahl stimmte. Hingegen begegnet er Hollandes Amtsnachfolger mit Kritik. Am 23. Juni 2018 wurden seine Äußerungen über das seit einem Jahr amtierende Staatsoberhaupt Emmanuel Macron publik: Dieser „versteht die kleinen Leute nicht“, stellte Pinault laut einem Bericht des Magazins M (Wochenendbeilage der Pariser Abendzeitung Le Monde) fest, um hinzuzufügen, dass dessen Politik „die bescheidensten (Gesellschaftsmitglieder) vergisst“. ( Vgl. actu.orange.fr… oder lefigaro.fr…)

Pinault bedient mit seinen Produkten, und repräsentiert in vielfacher Hinsicht die oberen Segmente der französischen Bourgeoisie. Die Wortwahl des Milliardärs, konkret die Ausdrücke „kleine Leute“ und „bescheiden“, lieferten wiederum den Beratern und Ministern Macrons ( vgl. huffingtonpost.fr… ) die Argumente, um zu kontern: Mit seinen veralteten Begrifflichkeiten belege Pinault nur seine eigene soziale Arroganz. Vielleicht haben in gewissem Sinne ja beide Seiten in dieser Auseinandersetzung Recht…

Soziale Rücksichtnahmen sind tatsächlich Emmanuel Macrons Sache nicht. „Die Dampfwalzenstrategie“, titelte die Boulevardzeitung Le Parisien am 12. März dieses Jahres ( vgl. leparisien.fr…), und erläuterte ihre Überschrift folgendermaßen: „In seinem Willen, das Land ,umzuwandeln‘, startet Macron jeden Tag oder fast eine neue Reform“. Allerdings vergleicht das Blatt den Präsidenten weiter unten auch mit einem Rugbyspieler: Dieser habe den Ball ergriffen und laufe nun im Höchsttempo auf das Tor zu, „doch wenn er sich umdreht, ist es um ihn geschehen.“ Geschwindigkeit als Regierungsprinzip also.

Die Dampfwalze rollt

Zwei Punkte sind dabei jedoch erstaunlich: Zum Ersten die immer noch vorhandene, wenngleich sehr relative, Popularität von Emmanuel Macrons sowie seines amtierenden Premierministers Edourd Philippe. Zum Zweiten die Tatsache, dass soziale Widerstände zwar aufkeimen und gesellschaftliche Protestbewegungen aufkommen – wie in den vergangenen Monaten an den Universitäten, bei der französischen Bahngesellschaft SNCF oder gegen die reaktionäre Novelle in der Ausländergesetzgebung -, diese jedoch bislang erkennbar zu schwach bleiben, um sich durchsetzen zu können.

Niederlage der sozialen Protestbewegung 2018

Worin liegt das vermeintliche Geheimnis dahinter, aber auch der bisherigen Niederlagen sozialer Protestbewegungen? Nachdem die Hochschulproteste mit der Räumung letzter besetzter Hochschulen wie Nanterre (am 13. Juni 18; vgl. marianne.net… – und vgl. im April d.J.: sudouest.fr…) und der EHESS (am 22. Juni) faktisch endeten, und die Beteiligung am Ausstand der Bahnbeschäftigten am 22. Juni d.J. laut den Zahlen der Direktion erstmals auf unter zehn Prozent des SNCF-Personals fiel  (vgl. lemonde.fr…) , ist die Frage ernsthaft aufgeworfen.

Bei der Eisenbahngesellschaft SNCF endete der im März dieses Jahres definierte Streikkalender – mit Stop-and-Go-Streiks, im Wechsel von je zwei Streik- und drei Arbeitstagen im fünftägigen Zyklus – am gestrigen Donnerstag. TatsÄchlich zog sich der Streikkalender vom 03. und 04. April (die beiden ersten Arbeitskampftage) über den 08. und 09. April, den 13. Und 14. April.. bis einschließlich zum 27. und 28. Juni hin.  Das Ende dieser vorab festgelegten Periode ist jedoch nunmehr erreicht.

Nun steht, durch die CGT-Cheminots (Branchengewerkschaft CGT der Eisenbahner) initiiert, der Aufruf zu drei neuen Streiktagen im Raum: am Montag, den 02. Juli sowie am Freitag und Samstag, den 06. und 07. Juli. Die beiden letztgenannten Tage entsprechen dem Beginn der Ferienreisen. Dieses Mal unterstützen jedoch nur noch zwei von vier, als représentatifs (entspricht im Deutschen ungefähr „tariffähig“) anerkannten Branchengewerkschaften bei der Bahngesellschaft SNCF diesen Aufruf: die CGT-Cheminots und Sud Rail. Hingegen positionieren die beiden, aus bürgerlicher Sicht als „moderater“ geltenden Branchengewerkschaften der CFDT sowie des Gewerkschaftszusammenschlusses UNSA nunmehr klar gegen diesen neuerlichen Streikaufruf. ( Vgl.  etwa lefigaro.fr…)

Am gestrigen Donnerstag, den 28. Juni fand unterdessen ein als branchenübergreifendes Mobilisierungsdatum ausgelegter gewerkschaftlicher „Aktionstag“ statt. Zu ihm riefen die beiden Dachverbände CGT und FO (Force Ouvrière) auf; erstmals seit dem – mit einer Niederlage endenden – Kampf gegen das „Arbeitsgesetz“ im Frühjahr und Sommer 2016 zogen diese beiden Dachverbände dabei an einem Strang. (Anmerkung: Bei der Bahngesellschaft SNCF hat FO ihre Anerkennung als „tariffähig“ vor Jahren, infolge von Personalvertretungswahlen, eingebüßt.) Im April 2018 nahm der langjährige FO-Generalsekretär Jean-Claude Mailly nach dreizehn Jahren im Amt seinen Hut. Auf dem Gewerkschaftskongress im April d.J. wurde Pascal Pavageau, wie erwartet, zum Nachfolger von Jean-Claude Mailly bestimmt. Damit ging, jedenfalls auf der Ebene der verbalen gewerkschaftspolitischen Positionierung, eine gewisse Verschiebung ins Protestspektrum einher. – Mailly, welcher im Sommer und Herbst 2017 nach Kräften jeglichen Protest gegen die zweite Stufe der Arbeitsrechts„reform“ (kristallisiert in den am 22. September 17 durch Präsident Macron unterzeichneten Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft oder ordonnances) auszubremsen suchte, hat unterdessen einen neuen Abschnitt seiner Karriere begonnen. Und zwar ( vgl. europe1.fr…) bei der Consulting-/Beraterfirma von Raymond Soubie. Letzterer war übrigens unter Nicolas Sarkozy Präsidentenberater für soziale Angelegenheiten. So weit zur progressiven Substanz bestimmter Gewerkschaftsfunktionäre.

Erstmals seit knapp zwei Jahren zogen die CGT und FO also wieder an einem Strang (wie auch in den vergangenen Jahren üblich, war FO etwa dem Pariser 1. Mai- Umzug unter Beteiligung der CGT fern geblieben, zugunsten einer eigenen Popelveranstaltung). Allerdings, nun folgt das dicke Aber…: In Paris beteiligten sich am gestrigen „Aktionstag“, nun, ein paar Hundert Menschen. Die Nachrichtenagentur AFP hat durchaus Recht, wenn sie die Teilnehmer/innen/zahl im dreistelligen Bereich verortet. // Vgl.  lefigaro.fr… // Um 16 Uhr war auf der place de la République – dem Abschlussort der Demonstration, die um 14 Uhr bei der place de la Bastille losging – bereits Alles gelaufen. Und zwar hatte der linksalternative gewerkschaftliche Zusammenschluss Union syndicale Solidaires (d.h. die SUD-Gewerkschaften) nicht mit seiner Unterschrift zu dem „Aktionstag“ mit aufgerufen, aufgrund von Zweifeln an dessen Mobilisierungstauglichkeit. Vor Ort waren die Teilnehmer/innen aus den Reihen von Solidaires jedoch zahlreicher als jene, die anderen Gewerkschaften angehörten…

Zuvor hatten Eisenbahner/innen, die noch zu der zahlenmäßig am stärksten vertretenen sozialen Gruppe zählten, den cortège de tête oder „Spitzenblock“ (das schwarz-bunte Gemisch an der Spitze mit z.T. autonomen Einflüssen) aus der Demo vertrieben. Was unter Linksradikalen, jedenfalls manchen – je nach Ausrichtung -, ein wenig böses Blut gab.

Was gibt es sonst noch zu vermelden? Das Gesetz zur „Bahnreform“ (u.a. zur Umwandlung des Statuts der, bislang noch öffentlich-rechtlich verfassten, Eisenbahngesellschaft SNCF und zur Einführung privatrechtlicher Arbeitsverträge ab 2020) wurde nun am Mittwoch, den 27. Juni 18, also vorgestern, durch Staatspräsident Emmanuel Macron feierlich unterzeichnet. ( Vgl. bfmtv.com…) Dieser Teil der Auseinandersetzung, jener um die Grundsätze der „Reform“, ist nun ohne Zweifel verloren. Was bleibt, ist jedoch „bahnintern“ ein gewisses Kräfteverhältnis, das noch bei den Kollektivverhandlungen (Verhandlungen über Kollektivverträge, entspricht im deutschen ungefähr „Tarif-…“) im Transportsektor zum Tragen kommt. Dies ist auch der Hauptgrund dafür, warum dort noch weiter gestreikt wird. ( Vgl. alternatives-economiques.fr…)

Konkret diskutiert wird dabei insbesondere über die sozialen Garantien, über welche SNCF-Beschäftigte in Zukunft verfügen werden, falls ihr Arbeitsvertrag an eine andere Betreibergesellschaft im Transportsektor übergebt (etwa bei Betriebsübergang). Die CFDT behauptet, Garantien herausgeholt zu haben, während die CGT-Cheminots angibt, 85 % der Forderungen diesbezüglich seine bislang unerfüllt.

Offene Fragen

Eine Niederlage also, jedenfalls was die zentralen (gesellschafts)politischen Anliegen der diesjährigen Protestbewegungen betrifft, und dies in aller Deutlichkeit.

Das wird dem progressiven Lager in näherer Zukunft noch einige Analysen abverlangen. Denn die bislang letzten Versuche von Regierungen, auf ähnlich brachiale Weise zu „reformieren“ wie die jetzige, scheiterten nahezu auf der ganzen Linie und ließen diese gegen die Wand fahren. Am 15. November 1995 etwa präsentierte der damalige konservativ-liberale Premierminister Alain Juppé ein Maßnahmenpaket, das unter anderem einen – ungefähr mit der jetzt auf dem Tisch liegenden „Reform“ der SNCF zu vergleichenden – Angriff auf die französische Eisenbahn enthielt. Auch war die Deckelung der staatlichen Gesundheitsausgaben ein Bestandteil des „Reform“pakets, eine Hochschulreform zählte ebenfalls dazu. Nach einem dreiwöchigen Streik nicht allein der Bahnbeschäftigten, sondern aller öffentlichen Dienste (Post, Energiesektor, Nahverkehr) sowie der Studierenden im November/Dezember 1995 musste die damalige Bahnreform ersatzlos zurückgenommen werden. Ein Teil der Umbaumaßnahmen für das Gesundheitswesen wurde beibehalten, jedoch zunächst nur vorsichtig umgesetzt. Alles, was die Regierung Juppé in den kommenden anderthalb Jahren anfasste, misslang ihr: Bei jeder neuen Ankündigung einer größeren „Reform“ folgte ein Aufschrei, und binnen einer Woche war sie vom Tisch. In jener Phase 1996/97 bildete sich ferner eine Massenbewegung aus Solidarität mit den „illegalisierten“ Einwanderern oder Sans papiers, und die Gewerkschaften (vor allem ihr stärkster Dachverband, die CGT) vollzogen genau damals einen Positionswechsel: Hatte die CGT bis dahin und seit den 1970er Jahren „illegale Zuwanderung“ als Quelle einer Gefahr des Sozialdumpings abgelehnt und bekämpft, schrieb sie nun die allgemeine Solidarität und den Kampf für Rechtsgleichheit aller Lohnabhängigen als Gegenmittel gegen ein solches Dumping  auf ihre Fahnen. Dies machte einen Unterschied ums Ganze in der gesamtgesellschaftlichen Debatte aus.

Bis zu 150.000 Menschen gleichzeitig demonstrierten allein in Paris im Februar 1997 gegen eine damalige Verschärfung im Ausländerrecht. Von solchen Zuständen lässt sich heute nur träumen – die ebenfalls von vielen Initiativen und NGOs getragene Mobilisierung gegen die drastische Verschärfung vor allem des Asylrechts, die seit April 2018 im französischen Parlament debattiert wird, zog in ihren Hochphasen bis zu 3.000 Menschen bei Kundgebungen an.

Damals, vor gut zwanzig Jahren, schien die gesamte französische Gesellschaft in Gärung zu geraten. Bei Streiks und Arbeitskämpfen besuchten unterschiedliche Berufsgruppen sich gegenseitig: Lehrerinnen und Krankenpfleger kamen frühmorgens an die Bahngeleise, wenn die SNCF-Beschäftigte ihre Streikversammlungen abhielten, Postbedienstete kamen zu den Studierenden. Unterbrochen wurde diese immer breitere Kreise umfassende Mobilisierung durch den Regierungseintritt der Sozialdemokratie infolge der vorgezogenen Parlamentswahlen vom 25. Mai und 1. Juni 1997; Letztere hatte die Regierung Juppé anberaumt, weil sie nicht mehr ein noch aus wusste. Die Sozialdemokratie unter ihrem nunmehrigen Premierminister Lionel Jospin als Spitzenkandidat hatte viele der Forderungen der sozialen Protestbewegungen übernommen – so lange sie sich in der Opposition befand. An der Regierung führte sie die kapitalistischen „Tagesgeschäfte“ weitgehend ungebrochen fort. Entgegen einem vorherigen ausdrücklichen Wahlversprechen privatisierte sie etwa die französische Telekom (heute heißt das nunmehrige Privatunternehmen Orange) noch im Laufe des Jahres 1997.

Dennoch blieb Frankreich aus Sicht von Teilen der europäischen Bourgeoisie ein „Sorgenkind“, denn manche tiefgreifenden regressiven Umwälzungen im Sinne des Kapitals konnten hier nur in kleinen Schritten und mit Bedacht umgesetzt werden. Den Angriff auf den Kündigungsschutz musste die Regierung des Konservativen Dominique de Villepin im April 2006 infolge von Massenprotesten (drei Millionen Menschen auf der Straße) zunächst ersatzlos zurückziehen. Präsident Nicolas Sarkozy schaffte es 2010 zwar, trotz Demonstrationen das Renteneintrittsalter anzuheben. Doch Maßnahmen wie eine Infragestellung des allgemein, d.h. quasi ohne Ausnahmen geltenden gesetzlichen Mindestlohns SMIC – 1994 hatte sich die Regierung von Premierminister Edouard Balladur daran gehörig die Finger verbrannt -, von Kollektivvereinbarungen (ungefähre Entsprechung zu den deutschen Tarifverträgen) oder eine allgemeine Verlängerung der Arbeitszeit blieben heiße Eisen.

Sarkozys verfolgte als Präsident von 2007 bis 2012 zwar einerseits eine ziemliche ähnliche Überwaltigungsstrategie – durch viele „Reformen“ schnell und gleichzeitig – wie heute nunmehr Macron. Doch andererseits fiel das Herüberschwappen der „Subprimekrise“ aus den USA nach Europa in seine Amtszeit, und Sarkozy fürchtete die Reaktionen (vor allem) der CGT, die er folglich zu integrieren und in seine Strategie einzubinden versuchte. Sarkozy war es, unter dem im August 2008 das neue Gesetz zur représentatitivé(entspricht ungefähr dem deutschen Begriff der „Tariffähigkeit“) der Gewerkschaften verabschiedet wurde. Es koppelte deren Vertretungsmacht zum allerersten Mal rechtlich an Einfluss und Wahlergebnisse; faktisch begünstigte es die CGT und wertete diese gegenüber kleineren, eher gelben Gewerkschaften erheblich auf.

Auch der als aggressiver Konservative angetretene Präsident Sarkozy schaffte es aus diesen und anderen Gründen nicht, Frankreich mit der Brechstange zu „reformieren“, weshalb die Bourgeoisie in den stabilsten EU-Ländern wie Deutschland und den Niederlanden herablassend auf das Land zu blicken begann. Während auch der wirtschaftliche Einfluss Frankreichs sank – 2014 wurde etwa der führende Industriekonzern Alstom verscherbelt, nach einigem Tauziehen zwischen General Electric und Siemens setzte sich dann der US- gegen den deutschen Konzern durch -, begannen Repräsentanten der herrschenden Klassen in Europa wie Wolfgang Schäuble, Frankreich nahezu als behandlungsbedürftigen kranken Mann des Kontinents zu betrachten.

Emmanuel Macron scheint es nun zu schaffen, die Schocktherapie zu verabreichen, die in diesen Kreisen als nötig erachtet wird. Und dies sogar, allem Anschein nach, ohne allzu beträchtliche politische Verluste für ihn selbst: Im Juni 2018 erntet er in Umfragen etwa bei YouGov 33 Prozent zustimmende und 54 Prozent ablehnende Wertungen. Er bleibt damit jedoch stabil, obwohl die bisher größte Welle sozialer Proteste im Laufe seiner Amtsperiode im Mai lag. In anderen Erhebungen legt Macron sogar leicht zu, was daran liegt, dass die Wählerschaft des formal in der Opposition stehenden konservativen Blocks ihn stärker unterstützt; vgl. europe1.fr…. ( Kurz darauf ist Macrons Popularität inzwischen wiederum erneut gesunken, vgl. bfmtv.com…)

Fakt ist jedenfalls: Das z.T. substanzlos-dümmliche Gefasel von faszinierten deutschen Linken und nicht materialistisch analysierenden, sondern eher romantisch ausgerichteten französischen Linksradikalen vom Typus Julien Coupat, der Mai 2018 werde (aufgrund des fünfzigsten Jahrestages) zum „neuen Mai 1968“, entbehrte jeglicher Grundlage. Nein, es muss beklagt werden, doch die jetzige Situation ist eine völlig andere als die damalige Ausgangslage!, und sie muss gefälligst ordentlich analysiert werden.

Hintergründe

Ein Teil der Antwort auf die offenen Fragen dazu liegt darin, dass in allen Teilen der Gesellschaft die Entsolidarisierung gegenüber früheren Jahren, in denen erfolgreiche soziale Bewegungen stattfanden (wie 1995 und 2006) stark gewachsen ist. Auch 1995 wurde zur Genüge giftige Propaganda etwa über die Bahnbeschäftigten als vermeintlich gegenüber anderen Lohnabhängigen „privilegierte“ Gruppe verbreitet. Nur verfing sie damals in breitesten Kreisen nicht. Hinzu kommt, dass der jugendlich-dynamisch auftretende Macron zumindest einen Bonus für sich reklamieren kann: Anders als etwa Präsident Chirac – dieser hatte Juppé zum Premierminister ernannt und stand hinter ihm – 1995 und danach weist er nicht die Legitimationsschwäche auf, die daraus erwächst, vor und nach den Wahlen jeweils gegenteilige Dinge zu erzählen. Jacques Chirac war am Ende von vierzehn Jahren sozialdemokratischer Präsidentschaft François Mitterrands, die die etablierte Regierungslinke vorübergehend restlos diskreditiert hatte, als Kandidat um seine Nachfolge angetreten. Wählen ließ er sich jedoch faktisch mit einem weitgehend sozialdemokratischen Wahlkampfdiskurs, in dem Bemühen, die Lücke aufzufüllen, welche der damals bereits kriselnde Parti Socialiste (PS) hinterlassen hatte. Vier Monate nach seiner Wahl, also kurz nach der Sommerpause, setzte er sich im September 1995 ins französische Fernsehen und verkündete folgende Botschaft: Tut mir leid, Leute, aber eine von mir angeordnete Bilanz der Staatsfinanzen zeigt, dass ich die Probleme unterschätzt hatte. Aus dem angekündigten Politikwechsel wird leider nichts werden – und tschüs dann, danke für Ihre Aufmerksamkeit. Solcherart Verschaukelung, wie sie in breiten Kreisen angesehen wurde, kam nicht gut an.

Emmanuel Macron kann sich zugute halten, bereits vor den Wahlen im Frühjahr 2017 das meiste von dem, was er heute tut, auch so oder ähnlich angekündigt zu haben. (Dies gilt allerdings nicht für die SNCF-Reform; für die übrigen Maßnahmen ja.) Gewählt wurde er dennoch; funktioniert hat dies nur aus zwei Gründen. Erstens, weil die Sozialdemokratie unter François Hollande sich bei dem Versuch, die von Schäuble und Anderen geforderten „Sanierungsmaßnahmen“ in Angriff zu nehmen und insbesondere das Arbeitsrecht zu „reformieren“ (Gesetz vom 08. August 2016), vollends in den Abgrund befördert hat. In total zerfleddertem Zustand erreichte sie bei den Präsidentschaftswahl noch lächerliche 6 Prozent. Allerdings steht der Linkssozialist Jean-Luc Mélenchon währenddessen in den Startlöchern, um eine neue Sozialdemokratie an ihre Stelle zu setzen, geht dabei allerdings auf einen immer stärker linksnationalistischen Kurs, bis zur jüngst erfolgten Ausrufung eines „französischen indépendantisme (Unabhängigkeitsdenken)“ als neuem Konzept.

Zum Zweiten stand aus ebendiesem Grunde Emmanuel Macron in der Stichwahl, nach der Niederlage der Altparteien auf sozialdemokratischer und konservativer Seite, allein der Neofaschistin Marine Le Pen gegenüber. In linken wie bürgerlichen Kreisen erschien er gegenüber der absolut unwählbaren Rechtsextremen dadurch automatisch als das kleinere Übel. Relativ „reinen Wein“ einzuschenken, was seine sozialpolitischen Vorhaben betrifft, kostete ihm deswegen bei den Wählern doch nicht den Sieg.

Negativ zu Buche schlägt aber auch die (pseudo-)linksradikale bzw. linksradikalistische Ausrichtung eines Teils des Protestspektrums in diesem Frühjahr 2018, und auch hier spielen romantisch verklärte politische Vollidioten wie der oben erwähnte Revolutionslyriker Julien Coupat eine gewisse Rolle.

Ein Teil des als „autonom“ bezeichneten Spektrums in Frankreich ähnelt dabei eher jenem, das man noch in den 1980er Jahren in Westdeutschland eher als „Antiimp-Spektrum“ bezeichnet hätte. So wurde am diesjährigen 1. Mai in Paris ein riesiges Graffity mit roter Farbe auf einem Gebäude gezeichnet, das folgende Inschrift trug: Holger, la lutte continue! (Zu deutsch: „Holger, der Kampf geht weiter!“) Eine Parole, die sich offensichtlich auf die westdeutsche RAF bezieht und nach dem Hungerstreik-Tod von Holger Meins entstand. Einen solchen Slogan am Rande einer 1. Mai-Demonstration in Paris am 1. Mai 2018 zu pinseln, ist in doppelter Hinsicht politisch irre: Zum Einen, weil kaum jemand es verstehen dürfte. Zum Zweiten, weil das politische Vorbild RAFdefinitiv ausgedient haben sollte, nicht aus moralischen Gründen, sondern aus Gründen der politischen Vernunft.

Quelle: labournet.de… vom 29. Juni 2018

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