Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte

Migrationspolitik: Ohne Antikapitalismus in die Barbarei

Eingereicht on 30. Juli 2018 – 15:37

Peter Schaber. Die Hauspostille jener gesellschaftlichen Schicht, die der migrantischen Haushälterin aufträgt, nur im Bioladen einzukaufen, ist entzückt. »Die schaffen das«, titelt die taz. Die Erfolgsstory handelt von »einem Spitz*enunternehmen, einer Krone der deutschen Industrie«. Der Betrieb hat einen Mitarbeiter freigestellt und Schulungsunterlagen bezahlt, um junge Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien als Mechatroniker auszubilden. Die taz-Autorin findet die Initiative wegweisend, man sei dabei, eine »Vision dafür zu entwickeln, wie das konkret aussehen könnte, dieses Merkel’sche: Wir schaffen das!« Aber es wird noch traumhafter. Der Chef der Firma, der »sich höchstpersönlich die Ehre gab«, hat zu dem Projekt gesagt: »Die Sprache der Technik ist die Sprache der Zukunft. Grenzen spielen keine Rolle mehr, wenn man die Themen Migration und Technik zusammenführt.« Hat er wirklich gesagt, Grenzen spielen keine Rollen mehr? Ja, hat er. Was für ein Kerl. Was für ein Herz. Was für ein Betrieb.

Ja, was für ein Betrieb eigentlich? Die notdürftig als Reportage verbrämte doppelseitige Werbeanzeige handelt von Airbus – einem der Flaggschiffe der europäischen Rüstungsindustrie. Und was stellen die so her? Neben militärischen Transportflugzeugen auch den Eurofighter Tycoon, der während des Angriffskrieges gegen Libyen 2011 zum Einsatz kam. Oder den Panavia Tornado, der im Irak- sowie im Afghanistankrieg flog. Noch was vergessen? Airbus betreibt eine eigene Sparte für Elektronik zur »Grenzsicherung« – und zwar sowohl zur Abschottung Europas wie auch im Dienste autoritärer Regimes.

Ist das nicht tragisch-komisch? Ein Multimilliardenkonzern, der an Krieg und Flucht verdient, lässt eine Handvoll ausgewählter Geflüchteter Platinen löten, mit denen weiter an Krieg und Flucht verdient werden kann; und eine ihrem Selbstbild nach linke Zeitung bilanziert: Ein Projekt, das »Integrations- und Industriepolitik auf exemplarische Weise zusammenbringt.«

Die Jubelarie in der taz ist kein Einzelfall. Sie repräsentiert eine Position, die unter »progressiveren« Randgruppen in CDU und SPD über die Grünen bis in die Linkspartei Mainstream ist. Der Kern dieser Position ist: Flucht und Migration werden nicht aus einer antikapitalistischen oder gar Klassenperspektive betrachtet, sondern als moralisch zu bewertendes, isoliertes Phänomen. Daran ändern auch pflichtschuldig vorgetragene Stehsätzchen über »Fluchtursachen« nichts.

Nicht ganz rechts reicht nicht

Sieht man sich die Positionen des parteipolitischen Spektrums jenseits der offen Rechtsaußen stehenden CSU- und AfD-Kreise an, ergibt sich folgendes Bild. Der rechteste Flügel – die Merkel-CDU sowie Initiativen wie »Union der Mitte« und die SPD; zudem krypto-AfDler bei den Grünen wie Boris Palmer und Winfried Kretschmann – will das »Flüchtlingsproblem« lösen, aber macht die rasante Rechtswende von Horst Seehofer nicht mit. Dieser Fraktion geht es letztlich um keine Verbesserung der Situation von Geflüchteten oder gar das Bekämpfen von Fluchtursachen, sondern um drohende Imageschäden, das Bedienen eines bestimmten Wähler*innenspektrums und nicht zuletzt die Interessen jener Kapitalfraktion, die derzeit noch die bestimmende ist. Worum es diesem Spektrum geht, hat der konservative EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani in einem Spiegel-Interview gut zusammengefasst: Keine Grenzschließungen innerhalb Europas, denn die »töten den Binnenmarkt«. Dafür Lager in Nordafrika. Tajanis einfache Formel: »Statt unsere Binnengrenzen zu kontrollieren, müssen wir unsere Außengrenzen schützen, das ist die Lösung.« Ergänzt wird das Programm durch Abschiebungen und die Einstufung völlig kaputter Nationen als »sichere Herkunftsländer«.

»Progressivere« SPD-Kreise sowie die Grünen stehen verbal weiter links; sie »bekennen« sich zum (ohnehin seit den 1990ern vollständig ausgehöhlten) »Grundrecht auf Asyl« und wollen »schnell und rechtssicher« wissen, wer bleiben darf und wer nicht. Garniert werden die fluffigen Reden mit Menschenrechtsrhetorik und sporadischen Beteuerungen, man könne durch »Entwicklungshilfe« Fluchtursachen bekämpfen. Die eigene Geschichte, was das Erzeugen von Fluchtursachen angeht, bleibt unthematisiert und, wo immer sie in Regierungsverantwortung gelangen, munter fortgesetzt.

Alles Bisherige deckt sich, nur nebenbei bemerkt, mit den Vorstellungen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Die Kapitalist*innenlobby skizziert ihre Position so: »Unsere gemeinsamen Werte verpflichten uns, die hohen Flüchtlingszahlen als europäische Herausforderung anzunehmen. Die Menschen, die zu Recht für längere Zeit oder für immer bei uns bleiben, müssen wir bestmöglich in Ausbildung, Beschäftigung und die Gesellschaft insgesamt integrieren. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Europa-Engagement für abgestimmtes Vorgehen und faire Lastenteilung, sowie eine wirksame Sicherung der EU-Außengrenzen und die Bekämpfung der Fluchtursachen.«

Die bislang beschriebenen Strömungen kann man, wenn man möchte, unter dem Spektrum »neoliberales Migrationsmanagement« verbuchen. Was auch immer diese Leute reden, am gegenwärtigen kapitalistischen Geschäftsmodell wollen sie nichts ändern. Migration/Flucht soll so gestaltet werden, dass sie Deutschland nutzt oder zumindest nicht schadet. Nationalstaatliche Grenzen mit all ihren Implikationen werden nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Aber man soll netter reden als der Heimatminister und wenn möglich, dann soll das Sterben so weit weg stattfinden, damit es keine*r hier sieht. Als irgendwie »links« gilt das alles (ja, sogar Merkel, fragen Sie die taz) nur deshalb, weil es weniger rechts ist, als die polternden Fremdenfeinde von CSU bis AfD. Für Jubelarien taugt aber weder das Gerede der Jugoslawienkriegsveteranen mit Elektroroller, noch der Managergutmenschen mit neunstelligem Kontostand.

Offene Grenzen, sichere Fluchtwege

Der Mehrheitsflügel der Linkspartei sowie diverse zivilgesellschaftliche Kreise unterscheiden sich in zwei entscheidenden Punkten tatsächlich von den Propagandist*innen des neoliberalen Migrationsmanagement: Der Forderung nach »offenen Grenzen«; und einer zumindest nicht auf »Entwicklungshilfe« reduzierten Kritik an Fluchtursachen.

Beides sind richtige und richtungsweisende Punkte. Die Forderung nach »offenen Grenzen« ist dabei tatsächlich »unrealistisch«, wie Sahra Wagenknecht nicht müde wird zu betonen. Solange es Kapitalismus und Staat gibt, ist sie nicht durchsetzbar. Und genau das ist die Pointe. Zugleich verweisen beide Punkte – Fluchtursachen sowie die aktuelle Unmöglichkeit freier Mobilität für den bei weitem überwiegenden Teil der Weltbevölkerung – auf jene globalen Ungleichgewichte, die angegangen werden müssen, will man der kommenden Katastrophe etwas entgegensetzen.

Das Problem liegt also im Falle des Bewegungsflügels der Linkspartei zunächst nicht in dem, was hier als Forderung formuliert wird – sondern darin, dass diese Forderungen weder konsequent begründet, noch konsequent durchdacht werden[1]. Und so gerät der prominentesten Repräsentantin dieses Flügels der Linken, Katja Kipping, die Verteidigung von Migration unter der Hand zur Rechtfertigung von Ausbeutungsverhältnissen: »Wir sollten jetzt nicht so tun, als ob Arbeitsmigration für uns nur eine Bedrohung ist. Ich würde es mal anders herum sagen: Wenn alle Arbeitsmigranten, die es bereits hier gibt, dieses Land verlassen würden, dann hätten wir ein richtiges Problem. Wir haben gerade Spargel-Saison. Ich wüsste gar nicht, wie der Spargel bei uns auf den Tisch kommen soll, wenn es da nicht Menschen aus anderen Ländern gäbe. Oder wenn wir in den Pflegebereich gehen: Wenn da alle Menschen ohne deutschen Pass jetzt das Land verlassen würden, dann hätten wir hier ein richtiges Problem.«

Derartiges Gerede ist kein Versehen. Es hängt damit zusammen, dass die Linke insgesamt keine auf Klassenkampf und Antikapitalismus basierende Weltanschauung verficht. Die richtigen Forderungen nach offenen Grenzen und Bekämpfung von Fluchtursachen folgen nicht aus einer Analyse globaler Ausbeutungsverhältnisse, sondern ihrerseits aus moralischer Empörung.

Und um es deutlich zu sagen: Die moralisierende Gegenreaktion zur moralischen Verkommenheit der Nadelstreifrechten von AfD bis Unionsparteien ist mehr als verständlich. Aber weil sie eben nicht aus einer Analyse erwächst, steht sie gleichzeitig in der Gefahr die eigentlich entscheidenden Fragen gar nicht zu erkennen: Wie bekämpfen wir als Linke in einer der reichsten kapitalistischen Nationen dieser Erde das neokoloniale Verhältnis von Zentrum und Peripherie? Und was folgt daraus für eine Klassenanalyse, die nicht im nationalen Rahmen verhaftet bleibt? Was heißt es denn, jenseits verbaler Beteuerungen wirklich gegen Fluchtursachen vorgehen zu wollen?

Die moralisierende Betrachtung hat zudem einen anderen Nachteil, für den der Bewegungsflügel der Linken – der zugleich der am stärksten auf Regierungsbeteiligung orientierte innerhalb dieser Partei ist – ohnehin anfällig ist. Eine panisch gewordene liberale Linke meint dann, mit jedem „kleineren Übel“ kokettieren zu müssen. Grüne und SPD, beides unreformierbar neoliberale Parteien, die kaum noch über Glaubwürdigkeit in irgendeiner Angelegenheit verfügen, werden in dieser Optik zu begehrten Bündnispartner*innen. Ein Weg in den Abgrund, wie der nüchterne Blick in andere europäische Staaten mühelos vor Augen führt.

Nationale Sozialdemokratie

Keine Antwort auf diese Ratlosigkeit des Reformismus ist allerdings das, was derzeit vom ehemals »linken« Flügel der Linkspartei diskutiert wird: Die sogenannte Sammlungsbewegung. Angestoßen von Sahra Wagenknecht handelt sich dabei im Grunde um den Versuch eines Revivals der europäischen Sozialdemokratie vor ihrer endgültigen Neoliberalisierung in der Ära Tony Blair und Gerhard Schröder. Dass der Kapitalismus den Möglichkeitsspielraum für diese Vision eines Zurück zu Willi Brandt oder Ludwig Erhard längst geschlossen hat, interessiert nicht, denn im Grunde geht es nicht um Begreifen und Umwerfen des Bestehenden, sondern um Wählerstimmen zur Erhaltung gut bezahlter Berufsmöglichkeiten und da hilft die Reminiszenz an die good old times immer.

Wagenknecht, die hier stellvertretend für die gesamte „Sammlungsbewegung“ stehen soll, knüpft dabei an eine in der kontinentalen Tradition der Arbeiter*innenbewegung stets vorhandene Strömung an, die man als »national-sozialdemokratisch« bezeichnen könnte.

Einer der bekanntesten Vertreter dieser Spezies war Eduard Bernstein (1850-1932). Der Liebling aller Reformsozialisten wandte sich gegen die Einsicht von Karl Marx, der ja behauptet hatte, der Arbeiter habe kein Vaterland. Für Bernstein traf das nicht mehr zu. Der Arbeiter „hat ein Vaterland“, schrieb er 1909, am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Denn er könne ja als „vollberechtigter Staatsbürger über die Regierung und Gesetzgebung seines Landes mitbestimmen“. Die Überhöhung der Errungenschaften bürgerlicher Demokratie und der Abschied vom Internationalismus trieben Bernstein zur Verteidigung des Kolonialismus. Er argumentierte: „Zudem kann nur ein bedingtes Recht der Wilden auf den von ihnen besetzten Boden anerkannt werden. Die höhere Kultur hat hier im äußersten Fall auch das höhere Recht. Nicht die Eroberung, sondern die Bewirtung des Bodens gibt den geschichtlichen Rechtstitel auf seine Benützung.“

Anders als in der von Lenin und Luxemburg ausgehenden Tradition des proletarischen Internationalismus zog sich nationaler Chauvinismus durch die gesamte Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Die Existenz einer solchen gesellschaftlichen Kraft ist indessen nicht zufällig. Sie hat ihren Grund in den internationalen Klassen- und Kräfteverhältnissen. Die innere Klassenspaltung in den reichsten, entwickeltsten kapitalistischen Ländern kann nicht isoliert von globalen Prozessen der Ausbeutung und Arbeitsteilung betrachtet werden. Die Ausbeutung anderer Länder ermöglicht in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Nationen das Entstehen einer Schicht von Arbeiter*innen, deren Lohn weit über dem Subsistenzlohn liegt und die die Interessen der jeweils eigenen Nation als nahezu deckungsgleich mit den eigenen sehen.

Diese Schicht, Lenin nannte sie »Arbeiteraristokratie«, neigt nicht zum revolutionären Aufbegehren. Ihr Interesse ist es vielmehr, sich durch Kompromisse mit der eigenen herrschenden Klasse den relativen Wohlstand zu sichern. Die Vermittler dieser Kompromisse sind die großen Gewerkschaften und die sozialdemokratischen Parteien. Die Zeit von Nachkriegsprosperität, »Sozialpartnerschaft« und »Normalarbeitsverhältnis« samt Vollbeschäftigung war die Periode der Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland, in der dieses Konzept am ehesten aufging.

Der neoliberale Umbau der vergangenen Dekaden hat die Arbeiter*innenaristokratie sowie das Kleinbürgertum aufgescheucht. Die herrschende Klasse kündigte den Kompromiss teilweise auf. Die SPD spielte mit und wurde zur wichtigsten Kraft bei der Durchsetzung neoliberale „Reformen“. Die Sammlungsbewegung will nun hier anknüpfen und im Wesentlichen eine mit populistischer Rhetorik verbrämte Standortpolitik durchsetzen.

Fluchtbewegungen kommen in dieser auf nationale Klassenlagen beschränkten Optik nur noch als Gefahr für den hiesigen »kleinen Mann« vor. Um das zu begründen, halluziniert Wagenknecht ein Interesse des deutschen Kapitals an offenen Grenzen. Und als Gegenbewegung fordert sie einen starken Nationalstaat, der hin und wieder die härtesten Auswüchse des Kapitalismus reguliert, gleichzeitig aber auch (bürgerliches) Recht und »Sicherheit« gewährleistet – unter anderem durch eine besser ausgerüstete Polizei.

Im Wesentlichen trennt die Sammlungsbewegung nationale Klassenpolitik von einer internationalistischen revolutionären Perspektive. Diese mag heute weit weg erscheinen. Doch in jedem Fall ist es sinnvoller, mit allem, was man hat, für sie zu kämpfen, anstatt sich ein Leben lang die Frage zu stellen, wer den Spargel sticht, sich Ludwig Erhard zurück zu wünschen oder Loblieder auf den Airbus-Vorstandschef zu singen.

Ohne Klassenanalyse und Antimilitarismus geht‘s nicht

Beginnen wir mit der guten Nachricht: Seit Jahren gibt es einen mobilisierbaren Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, der gegen die Drangsalierung von Geflüchteten auf die Straße geht. Von der »Willkommenskultur«-Phase 2015 bis zu den aktuellen #Seebrücke-Demonstrationen haben sich Hunderttausende auf der Straße und in sozialen Medien für einen humaneren Umgang mit Refugees ausgesprochen. Im Hinblick auf das Tempo, mit dem sich die politische Landschaft der Bundesrepublik nach rechts bewegt, ist das nicht nix.

Aber: Die Empörung alleine reicht nicht. Wir müssen dafür streiten, dass in der Linken ein Verständnis davon verankert wird, dass die Gründe, die Menschen zur Flucht treiben, zum überwiegenden Teil nicht in jenen Weltregionen entstehen, aus denen Geflüchtete sich auf den Weg machen. Es sind »unsere« Nationen – allen voran die USA und die EU -, die von genau jenem System profitieren, das Milliarden Menschen zu Armut, Krieg und Tod verdammt. Und es sind »unsere« Nationen, die dieses System auf Gedeih und Verderb aufrecht erhalten.

Die gelegentliche Nennung des Umstandes, dass es Fluchtursachen gibt, reicht dafür nicht. Das wird auch in der Praxis sichtbar: Weder spielen globale Produktionsketten und weltweite Lohnungleichgewichte eine Rolle in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, noch erfreuen sich die Solidarisierung mit Befreiungsbewegungen im Trikont hierzulande größerer Beliebtheit. Eine handlungsfähige, wahrnehmbare Anti-Kriegs-Bewegung gibt es derzeit nicht. Das bloße Einfordern von mehr Humanität in sozialen Medien und im Zuge von Demo-Events muss letztlich wirkungslos bleiben, wird es nicht weiter entwickelt zu einer grundsätzlichen Ablehnung von Kapitalismus und Imperialismus, von Ausbeutung und Krieg – und zwar weltweit.

Im Herzen des Monsters

Eine aktuelle Analyse, die zumindest eine Diskussion um all das wieder anstoßen könnte, ist das neue Buch des dänischen Militanten Torkil Lauesen. Lauesen begann Ende der 1960er Jahre seine politische Laufbahn im Umfeld des maoistischen Kommunistisk Arbejdskreds (KAK), aus dem eine pointierte wie streitbare These erwuchs: Die «Schmarotzerstaattheorie«.

Verkürzt zusammengefasst besagt diese Theorie, dass aufgrund der Extraprofite aus der Ausbeutung abhängiger Länder in den reichsten imperialistischen Nationen kein revolutionäres Aufbegehren der Arbeiter*innen zu erwarten sei. Die Initiative liege bei den antikolonialen Befreiungsbewegungen, bei den unterdrückten Massen der Peripherie. Die »Blekingegade-Bande«, der Lauesen angehörte, nahm diese Theorie ernst. Sie raubte Banken und Postämter aus, um revolutionäre Bewegungen im Trikont zu finanzieren. 1989 endete diese Praxis durch staatliche Repression, Lauesen und seine Genossen wurden inhaftiert. Jenseits der polizeilichen Unterbrechung der Umverteilungsaktionen hat sich aber auch ansonsten einiges seit den 1970er-Jahren verändert.

Und so legt Lauesen, immer noch überzeugter Kommunist, mit seinem Buch »The Global Perspective« eine umfangreiche Aktualisierung der »Schmarotzerstaattheorie« vor. Anknüpfend an dependenztheoretische Autoren (Samir Amin, Arghiri Emmanuel, and Andre Gunder Frank) sowie die Weltsystemtheorie will Lauesen zeigen, dass auch nach der Erringung der politischen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien profitable Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den imperialistischen Hauptmächten und den Ländern des Trikont bestehen bleiben.

Das Buch präsentiert nicht nur einen wirklich interessanten Überblick zur (Nicht-)Beachtung der kolonialen Frage in der kontinentalen Arbeiter*innenbewegung, sondern – und hier könnte es als Anknüpfungspunkt zur Weiterentwicklung der gegenwärtigen Bewegung für Geflüchtetenrechte ebenso wie der Debatte um „Neue Klassenpolitik“ dienen – eine ausführliche Analyse globaler Macht- und Unterdrückungsverhältnisse heute.

Lauesen betont, dass sich Klassenverhältnisse in einem globalisierten Kapitalismus nicht beschränkt auf den nationalstaatlichen Rahmen verstehen lassen. Er greift die bereits in den 1970er-Jahren entwickelte Theorie des „ungleichen Austausches“ auf, allerdings unter den Bedingungen einer massiven „export-orientierten Industrialisierung des Globalen Südens“. Das Bild, dass sich ergibt, ist ein düsteres: Für Hungerlöhne produzieren im Rahmen globaler Produktionsketten die ausgebeuteten Massen jene Konsumgüter, die in den entwickelten kapitalistischen Nationen über die Ladentische gehen.

Durch die Überausbeutung der Peripherie wird es der herrschenden Klasse in den Metropolen möglich, die früher „gefährlichen Klassen“ zu befrieden. Der sozialdemokratische Klassenkompromiss tritt an die Stelle der Subversion. In ihrem berühmten Kommuniqué »You Don‘t Need a Weatherman to Know Which Way the Wind Blows« schrieb die US-amerikanische Stadtguerilla Weather Underground im Jahr 1969: »Wir leben im Herz des weltweiten Monsters; in einem Land, das so reich von seinen weltweiten Plünderungen ist, dass sogar die Brotkrümel, die den geknechteten Massen innerhalb seiner Landesgrenzen ausgeteilt werden, eine materielle Existenz weit über den Verhältnissen der Massen der Menschheit weltweit gewährleisten.« Ihren Landsleuten rufen sie zu: »All die United Airlines Flugzeuge, all die Holiday Inns, eure Fernseher, Autos und Kleiderschränke gehören zu einem großen Teil den Menschen der restlichen Welt.«

Militarisierung der Grenzen

Ob die „Schmarotzerstaattheorie“ und ihre Aktualisierung durch Lauesen – auch und gerade, was die Einschätzung der chinesischen Arbeiter*innenbewegung anbelangt – tragfähig ist, soll hier nicht diskutiert werden. Was »The Global Perspective« aber tut, ist eine alte Einsicht der radikalen Linken jenseits von Lippenbekenntnissen wiederzubeleben, nämlich die, dass der Reichtum »unserer« Gesellschaften mit der Armut jener anderen Gesellschaften zu tun hat, aus denen Menschen fliehen.

Die Kriege, die zur Aufrechterhaltung des globalen Kapitalismus und zur Abgrenzung geopolitischer wie ökonomischer Einflusssphären geführt werden, sind ein Teilaspekt dieser Ungleichheit. Andere sind ebenso bestimmend für Fluchtbewegungen und werden sich in den kommenden Dekaden weiter verschärfen: Die ökologischen Verheerungen in der Peripherie, das Abschöpfen natürlicher Ressourcen aus dem Süden in den Norden und die Zerstörung gewachsener landwirtschaftlicher Selbstversorgung.

All das sind Fluchtgründe. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Fluchtbewegungen in den kommenden Jahrzehnten abflauen – ganz im Gegenteil. 68,5 Millionen Flüchtlinge – die aktuelle Zahl der UNHCR für 2017 -, das klingt viel. Eigentlich aber ist es verwunderlich, dass nicht viel mehr Menschen auf der Flucht sind. Sehen wir uns einige Zahlen an: Mehr als drei Milliarden Menschen leben von unter 2,50 US-Dollar am Tag; 357 Millionen Kinder leben in Kriegsgebieten – beinahe jedes vierte Kind; 840 Millionen Menschen wohnten im Jahr 2016 nach Angaben des Peace Researche Institute Oslo in unmittelbarer Nähe von Konfliktzonen.

Und anders, als die Verfechter des national-sozialdemokratischen Populismus meinen, liegt es dabei auch nicht im Interesse des Kapitals, die Grenzen zu öffnen. Der gegenwärtige Kapitalismus braucht Grenzen und wird sie weiter militarisieren – was unschwer an der Entwicklung sowohl der Fortress Europe wie auch der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze zu erkennen ist.

Jenseits der moralischen Selbstbestätigung

Die bürgerlich-humanistische Selbstvergewisserung des liberalen Milieus stellt die globalen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse nicht in Frage. Und deshalb ist sie auch ungeeignet, irgendeine Antwort auf die systematische staatliche Misshandlung von Geflüchteten zu finden. Wer unter Berufung auf die »Werte Europas« fordert, doch ein bisschen weniger zu seehofern, leistet dem eigenen Gewissen einen Dienst – sonst niemandem.

Was zu tun wäre, klingt zwar unrealistisch, ist aber dennoch die einzig mögliche Lösung: »Mit einer globalisierten kapitalistischen Produktion ist die Notwendigkeit für die Arbeiter*innenklasse, sich über nationale Grenzen hinweg zu vereinen, größer denn je“, schreibt Lauesen. Die zunehmende Mobilität von Kapital über Ländergrenzen hinweg habe die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit verschoben, die Konkurrenz innerhalb der Arbeiter*innenklasse dramatisch erhöht. »Nur globale Solidarität unter Arbeiter*innen kann das ändern.«

Der Kampf um die Verlangsamung des Rechtsrucks in den kapitalistischen Metropolen und damit der gegen die immer brutalere Abschreckungspolitik gegenüber Geflüchteten ist dabei wichtig, aber defensiv. Parallel zur Abwehrschlacht muss der Aufbau einer internationalistischen, kämpferischen Linken stehen, die auch lokal aus einer globalen Perspektive handelt.

Quelle: lowerclassmag.com… vom30. Juli 2018

[1] Ganz abgesehen davon, dass die Linkspartei natürlich noch ganz andere Probleme hat und als reformistische, auf Gedeih und Verderb an den Parlamentarismus gekettete Partei ohnehin nicht in der Lage sein wird, irgendetwas Relevantes zu erkämpfen – zumindest nicht ohne außerparlamentarische Bewegung, die sie ordentlich schubst.

Tags: , , , ,