Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, Kampagnen, Schweiz

Fixpunkte einer revolutionären politisch-strategischen Orientierung in der Schweiz

Eingereicht on 11. Mai 2015 – 8:59

Im Folgenden bringen wir ein vor über vier Jahren erarbeitetes Dokument, das die programmatisch-strategischen Orientierungen der Schweizer Gauche anticapitaliste (GA), assoziierte Sektion der IV. Internationale, kurz umreisst. Damals bestand diese politische Formation nebst Einzelmitgliedern aus verschiedenen Teilen der Schweiz aus zwei Sektionen in der Romandie, einer Sektion in der Deutschschweiz (Antikapitalistische Linke Schweiz (ALS, dann AKL)) und einer Sektion in der italienischen Schweiz (Sinistra anticapitalista Ticino (SAT)). 2013 wurde beschlossen, das politische Aufbauprojekt vorerst auf die Romandie zu konzentrieren und die Sektionen in der Deutschschweiz und im Tessin aufzulösen.

Die Gründe für diesen Teilrückzug sind vielfältig und entspringen vor allem der weltweiten, strukturell-politischen Schwäche, der politischen Desorientiertheit und der damit verbundenen Lähmung der Arbeiterklasse. Dies trifft insbesondere für die Schweiz zu, wo die Arbeiterklasse kaum je über ein massenwirksames Instrument politischer Unabhängigkeit verfügt hat. In der Deutschschweiz, wo die Kommandozentralen der Schweizerischen Bourgeoisie und ihrer politischen Hilfsapparate, darunter auch der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftszentralen sitzen, ist diese Schwäche gar noch ausgeprägter. Hier stösst ein revolutionäres, politisch-organisatorisches Aufbauprojekt auf noch grössere Schwierigkeiten als in der Romandie; dies nicht zuletzt wegen der zeitlichen und räumlichen Verbindungen mit radikaleren politischen Ansätzen, beispielsweise in Frankreich, die sich über mehr als fünf Jahrzehnte in organisatorischen und persönlichen Kontinuitäten fast nur in der Romandie niedergeschlagen haben.

Dazu kommen die seit Jahrzehnten errungenen Erfolge des Schweizer Kapitalismus im Rahmen der globalen imperialistischen Konkurrenz. Dies hat einen vergleichsweise grossen Teil der Lohnabhängigen, die professionellen Mittelschichten, organisch zumindest vorderhand  an die Weitertreibung der neoliberalen Reformagenda als zentralem Pfeiler des  «Erfolgsmodells Schweiz» gebunden. Diese neuen Mittelschichten bilden denn auch das soziale Substrat der Verwandlung der Sozialdemokratie in eine politische Kraft des Neoliberalismus, dem Sozialliberalismus, allerdings mit speziellen Aufgaben. Diese soziale und politische Dynamik  arbeitet unter den gegebenen politischen Umständen in die Hände einer weiteren Festigung der uneingeschränkten politischen Hegemonie der Bourgeoisie. Entsprechend werden diese «Erfolge» von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaftsapparaten als handfeste Argumente benutzt, um die Politik der Klassenzusammenarbeit – der Sozialpartnerschaft und der Konkordanzdemokratie – gegen alle aufkommenden kämpferischen Strömungen und Ansätzen von Selbstorganisierung ins Feld zu führen. Dies ist geradezu ihre systemstabilisierende Rolle.

Wir publizieren diesen Text aus Gründen unserer Nähe zu solchen revolutionären politischen Projekten. Es ist unseres Wissens auch das einzige derzeitige Aufbau-Projekt in  der Schweiz, das überhaupt eine Debatte um eine strategische politische Orientierung führt. Wir haben hier bereits das politische Manifest der GA   aus dem Jahre 2008 publiziert, wo die Zusammenhänge und Gründe etwas ausführlicher dargelegt werden. [Redaktion maulwuerfe.ch]

1.    Ein antikapitalistischer und sozialistischer Horizont

Die Daseinsberechtigung der ALS (Antikapitalistische Linke / Gauche anticapitaliste / Sinistra anticapitalista) besteht in der Ablehnung des Kapitalismus, einem System, in dem eine kleine Zahl von multinationalen Konzernen den Gang der Dinge bestimmt, zum Schaden der grossen Mehrheit der Menschheit. Das Ergebnis: 100‘000 Personen sterben täglich an Hunger oder an seinen unmittelbaren Folgen; die wirtschaftliche Krise, als Wesen des Systems, gefährdet die Lebensgrundlagen im Norden wie im Süden ernsthaft; die klimatischen Katastrophen nehmen zu und drohen das Leben auf dem Planeten zu zerstören; die durch den auf Eroberungen orientierten Imperialismus provozierten Kriege greifen um sich.

Für die ALS leitet sich daraus die Aktualität eines revolutionären Projektes her, das als Ziel den Aufbau einer sozialistischen, ökologischen, feministischen und demokratischen Gesellschaft setzt, die jede Form von Diskriminierung, von Herrschaft und Hierarchie ablehnt. Eine Gesellschaft, die die Logik des Profits durch eine Logik der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse auf der Grundlage einer kollektiven Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums und der grundlegenden Produktionsmittel ersetzt.

2.    Möglichst breite Prozesse der Selbstorganisierung und der Selbstaktivierung anregen

Ohne Selbstorganisierung und Selbstaktivierung der Unterdrückten gibt es weder einen siegreichen Widerstand gegen die Politik der besitzenden Klassen noch Perspektiven eines Bruches mit dem Kapitalismus.

Die Interventionen der AktivistInnen der ALS möchten deshalb zur Entwicklung der Mobilisierung und zu den Kämpfen am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft beitragen. Angestrebt wird das Hervortreten einer neuen Bewegung der Selbstbefreiung der Lohnabhängigen, einer radikalen Umwandlung der Gesellschaft von unten.

Der Anspruch, die Prozesse der Selbstorganisation und der Mobilisierung im breitesten Massstab anzuregen, ist nicht ohne Konsequenzen:

  • Er bedeutet, dass die ALS nicht, wie Marx gegenüber den Sektierern hinwies, «ihre besondere Gestalt» kultivieren soll, sondern immer wenn notwendig dazu beiträgt, dass sich eine möglichst breite Front herausbilden kann, um die Politik der Herrschenden bekämpfen zu können. Somit setzt sich die ALS für eine möglichst breite Einheitsfront zur Verteidigung punktueller Forderungen ein. Die Einheit im Handeln ist dabei der Garant der Kraft. Sie unterstützt desgleichen alle Formen des Widerstandes der Unterdrückten, sei dieser gegen die Unterdrückung in gesellschaftlicher, rassenbezogener, geschlechterbezogener Hinsicht oder von gleichgeschlechtlicher Liebe gerichtet, sowohl im nationalen wie im internationalen Rahmen.
  • Er äussert sich in der Notwendigkeit, für Strukturen und Orte einzutreten, insbesondere die Gewerkschaftsbewegung, die es ermöglichen, solche Prozesse der Selbstorganisierung und der Mobilisierung anzuregen und die Herausbildung von Einheitskomitees von AktivistInnen in einzelnen Kämpfen zu fördern.

3.    Eine revolutionäre politische Organisation aufbauen

Das Engagement der AktivistInnen der ALS darf sich jedoch nicht auf die – sicher unverzichtbare – Arbeit beschränken, die Organisierung und die Selbstaktivität der Unterdrückten im breitesten Sinne vorwärtszubringen. Wir müssen ebenfalls eine revolutionäre politische Kraft aufbauen, die in der Lage ist, im Klassenkampf eine aktive Rolle zu spielen. In der Tat ist eine solche Kraft ein unverzichtbarer Faktor bei der «Zusammenfügung» einer neuen Bewegung der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse – mit dem Endziel der vollständigen Beseitigung der Lohnabhängigkeit – eines antikapitalistischen und sozialistischen gesellschaftlichen Blocks.

Die Bildung und die Formierung eines politisch-organisatorischen, marxistisch-revolutionären Kernes im Dienste der kollektiven Organisierung und der Selbstaktivierung der Lohnabhängigen: dies ist deshalb eine unumgängliche Aufgabe.

Der Aufbau der ALS als solcher ist von daher unsere zweite „Aufgabe“.

Es geht nicht darum, eine Organisation aufzubauen, die sich nur auf sich selbst bezieht, wie dies bei einigen Sekten der extremen Linken üblich ist, sondern eine antikapitalistische Kraft in der Arbeitswelt und in der Jugend zu verwurzeln. Dies setzt eine lebendige Demokratie innerhalb der ALS voraus worin jedes Mitglied seinen Platz findet. Das Ziel ist, mit der Zeit einen Beitrag zu leisten an die Entstehung einer Organisation, die die soziale und politische Avant-Garde der Unterdrückten zusammenführt.

4.    Ablehnung jeder Beteiligung an kapitalistischen Regierungen

Der Anspruch der Unabhängigkeit gegenüber dem bürgerlichen Staat und seinen Institutionen – Institutionen, die für und durch das kapitalistische System geschaffen wurden – und die Ablehnung jeder Beteiligung an Regierungen, die das kapitalistische System verwalten, sowohl auf nationaler wie auf lokaler Ebene, ist ein unverzichtbares Element der ALS. Kurzum, der Verwaltung des Systems setzt die ALS die Notwendigkeit eines Bruches mit dem Kapitalismus und der Schaffung der dazu notwendigen Bedingungen gegenüber.

5.    Für eine neue Linke, eine Linke der Linken

Der Ansatz der ALS befindet sich also Tausende von Meilen entfernt von demjenigen der Führer der sogenannten «Linken» in all ihren Versionen. Sie haben in der Tat auf jede Perspektive eines «Jenseits des Kapitalismus» verzichtet, zugunsten einer Politik der Verwaltung der kapitalistischen Geschäfte und der Klassenkollaboration mit den bürgerlichen Parteien.

Die ALS lehnt jedes Bündnis im Parlament und/oder in der Regierung mit den Sozialliberalen ab. Die durch solche Bündnisse geförderte Auffassung, diese würden eine Alternative zu der Rechten darstellen, ist in keinerlei Hinsicht ein Mittel zur Stärkung eines anti-systemischen oder eines auf Klassen bezogenen Bewusstseins unter den Lohnabhängigen. In Wirklichkeit hat dies nur ein Ergebnis: der angeblichen Identität der «Linken» Ansehen zu verschaffen, mit der sich die Politik der Sozialliberalen herausputzt, eine Logik, die zur Verwirrung und zur Entpolitisierung beiträgt und die angesichts der realen Natur dieser Politik die Quelle der endlosen Desillusionierung ist und Phänomene des Populismus, insbesondere die SVP, begünstigt.

Für die ALS ist eine neue Linke, eine Linke der Linken, des Kampfes und nicht der Regierung notwendiger denn je.

Domodossola, den 21. Mai 2011

 

Tags: ,