Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, International

Flüchtlingstragödie, Imperialismus und Breite Parteien

Eingereicht on 12. Mai 2015 – 11:11

Vor etwa einem Monat erfuhr  die Welt vom entsetzlichen Tod von über 800 Flüchtlingen im Mittelmeer. Zusammengepfercht auf einem Fischerboot versuchten sie, von Libyen aus nach Europa zu gelangen. Das Boot kenterte. Es gab nur 28 Überlebende. Hunderte waren im Unterdeck eingeschlossen, darunter Frauen und Kinder.Es übersteigt unser Vorstellungsvermögen, wie qualvoll sie ertrunken sind.

Aber sie sind nur ein Bruchteil der überwiegend namenlosen und gesichtslosen Flüchtlinge, für die das Mittelmeer, die Attraktion von Tourismusbroschüren, zum riesigen Grab geworden ist. Seit 2´000 ertranken rund 27´000 Menschen bei solchen Fluchtversuchen. Jedes Jahr  werden mehr Menschen durch dieses grausame Schicksal ereilt – allein in den letzten vier Monaten dieses Jahres waren es 1´700!

In der Bevölkerung ist die Nachricht der neuen Tragödie auf Empörung und Mitgefühl gestoßen. Vielen Menschen ist klar, dass der Tod der Flüchtlinge kein Zufall ist. Sie gehören zu den Millionen Opfern der kriminellen Kriegspolitik der USA und der Europäischen Union im Nahen Osten und Nordafrika, die die größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat.

Die meisten Menschen, die diese Reise wagen, kommen aus Syrien und nehmen den Weg über Libyen. Die Massenaufstände in den arabischen Ländern wurden durch die Hoffnung auf ein würdiges Leben getragen und haben die Eliten in den USA, in Europa, in Israel und in den von ihnen  unterstützten arabischen Diktaturen aufs Äusserste erschreckt. Sie suchen nach allen Mitteln, um einen demokratischen Durchbruch dieser Aufstände zu verhindern. Das ist die Realität der «humanitären Interventionen» in diesen Ländern, wie sie bedauerlicherweise  auch von vielen Linken unterstützt wurden.

Solche Bezeichnungen sind umso zynischer, als die Europäische Union im vergangenen Jahr beschlossen hat, die Such- und Rettungsaktionen von Mare Nostrum im Mittelmeer zu beenden. Angeblich hätte dieses Programm den «Anziehungsfaktor» für Flüchtlinge verstärkt. Diese hätten die gefährliche Reise angetreten, weil sie hofften, sie würden bei Seenot gerettet.

«Lasst sie ertrinken», lautet jetzt die Parole der Festung Europa.

Diese brutale Flüchtlingspolitik ist die Kehrseite der Feindschaft der herrschenden Elite gegen die Arbeiterklasse und Jugend in Europa. Ihre sadistische Einstellung gegenüber Menschen, die vor Krieg, Armut und Unterdrückung flüchten, zeigt sich auch in der massiven Kürzungspolitik, die die EU und der IWF gegen Arbeiter und die Jugendlichen in Griechenland durchsetzen.

Die Situation in Europa gleicht immer mehr der Lage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

1940 schrieb Leo Trotzki im Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution  : «Die Welt des verfallenden Kapitalismus ist überfüllt. Die Frage der Zulassung von hundert zusätzlichen Flüchtlingen wird ein großes Problem für eine Weltmacht vom Range der Vereinigten Staaten.»

Die verfaulende kapitalistische Gesellschaft versuche, «das jüdische Volk aus all ihren Poren herauszupressen», so das Manifest weiter. «Siebzehn von den zweitausend Millionen Erdbewohnern, d.h. weniger als ein Prozent, können auf unserem Planeten keinen Platz mehr finden! Inmitten der ungeheuren Landflächen und den Wundern der Technik, die dem Menschen Himmel und Erde erschließen, hat es die Bourgeoisie fertiggebracht, unseren Planeten in ein widerwärtiges Gefängnis zu verwandeln.»

Heute, im Zeitalter der Marsexpeditionen und des Internets, in der mit einem Klick Billionen von Dollars rund um den Globus geschickt werden können, versucht der Kapitalismus erneut, die Opfer der von ihm geschaffenen sozialen Katastrophe aus seinen Poren herauszupressen.

Gleichzeitig benutzt die herrschende Elite ihr Leiden als Vorwand für weitere Raubzüge. Die europäische Bourgeoisie setzt eine riesige Polizei- und Militäroperation in Gang, mit Kriegsschiffen, Hubschraubern, Drohnen und Spezialtruppen, um die Kontrolle über ihre ehemaligen Kolonien zurückzugewinnen.

Zur Rechtfertigung verbreitet sie überall üblen Rassismus und Nationalismus. Einst verurteilten die Nürnberger Prozesse das Nazi-Propagandablatt Der Stürmer, das antisemitische und rassistische Karikaturen verbreitete und zur Vernichtung der Juden wie Ungeziefer aufrief.

Heute werden die anti-islamischen Provokationen von Charlie Hebdo als Ausdruck der «Meinungsfreiheit» gefeiert. Zugleich bezeichnet die Redakteurin Katie Hopkins in Rupert Murdochs Zeitung Sun die Mittelmeerflüchtlinge als «Plage von Wilden» und «Kakerlaken», die mit Kriegsschiffen wieder «an ihre Küsten zurückgetrieben werden» sollten.

Die Sprache der Rechtsradikalen wird wieder zum offiziellen Diskurs zugelassen, um die wirkliche Ursache der sozialen Krise zu verschleiern und neue Angriffskriege zu rechtfertigen.

Deshalb erhalten der Front National in Frankreich, Pegida in Deutschland und die UKIP in England eine dermaßen große Medienpräsenz und werden als respektabel hofiert. In der Schweiz begann der Aufstieg der national-chauvinistischen Rechten in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie hat weniger offensichtliche Verbindungen zu neo-faschistischen  Milieus, da diese in der Schweiz eh schwächer sind, als anderswo. Aber auch die SVP bewirtschaftete die politische und soziale Fremdenfeindlichkeit, wie ihre Verwandten in Europa sehr erfolgreich und konnte grosse Segmente aus der von der Sozialdemokratie fallengelassenen Arbeiterklasse an sich ziehen. Besonders dramatisch ist diese Herausbildung eines halb-faschistoiden politischen Milieus in den Ländern Osteuropas, wo sie direkt von den imperialistischen Mächten in ihrem Aufmarsch gegen Russland instrumentalisiert werden. Allen voran in der Ukraine und in den baltischen Staaten.

Dass solche Organisationen überhaupt Anhänger in der Bevölkerung finden können, geht auf das Konto der Verrätereien der alten, diskreditierten sogenannten Arbeiterorganisationen und ihrer Unterstützung für das herrschende System.

Hauptverantwortlich für das Wiederauftreten der Rechten ist die Sozialdemokratie.

Der sozialistische Präsident Frankreichs, François Holland, lädt die Führerin des Front National, Marine Le Pen, in den Elysée-Palast ein. In Deutschland erklärt der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, es gebe ein«demokratisches Recht darauf, rechts zu sein oder deutschnational». In England konkurriert die Labour Party mit UKIP, wer die härtere Linie in der Flüchtlingspolitik vertritt.

Was die Gewerkschaften angeht, so versuchen sie, die große Kraft der Arbeiterklasse zu lähmen und sie nach Nationalitäten zu spalten. Wenn sie Opposition vortäuschen und Forderungen zur Verteidigung britischer, deutscher, französischer, schweizerischer oder amerikanischer Arbeitsplätze erheben, dann sind diese unweigerlich mit weiteren Verschlechterungen der Bezahlung und Arbeitsbedingungen verbunden und dienen einer endlosen Abwärtsspirale. In der Schweiz gruppiert sich dieser von rechts bis links geteilte Konsens des neoliberalen Abbaus um den Diskurs des sogenannten  «Erfolgsmodells Schweiz».

Die Welt verwandelt sich erneut in ein widerwärtiges Gefängnis. Unsere Einschätzung hat nichts mit den demoralisierten Auffassungen vieler Linken auch im Umfeld der Projekte der sogenannten Breiten Parteien  zu tun, die wir in ihrem Ansatz wie auch in ihrer konkreten Politik als äusserst problematisch einschätzen. Diese Projekte haben nichts mit der Einheitsfrontlinie zu tun, wie sie in der Internationale anfangs der 1920er Jahre debattiert wurde.

In Griechenland erklärt Syriza, sie müsse die Austeritätsmaßnahmen wie verlangt durchführen, weil sonst die Faschisten an die Macht kommen würden! Und dies, während sie sich selbst in einer Koalition mit den rechten Unabhängigen Griechen befindet, deren Ausländerfeindlichkeit der Goldenen Morgenröte kaum nachsteht.

So bleiben die Abschiebegefängnisse weiter bestehen, obwohl die zuständige Ministerin für Migrationsfragen, Anastasia Christodoulopoulou, und der Vizeinnenminister Giannis Panousis zugesagt haben, die inhaftierten Immigranten binnen hundert Tagen zu entlassen. Christodoulopoulou hat darüber hinaus versichert, die neue griechische Regierung werde alle EU-Richtlinien zur Flüchtlingspolitik respektieren. Und dies hat sich bis jetzt bestätigt. Tsipras will seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Troika nicht durch humanistische Konzessionen gefährden.

Das «Modell Syriza» wird trotz der Erfahrungen der vergangenen drei Monate  von den Verfechterinnen und Verfechtern des Projektes Breiter Parteien weiterhin als  Weg vorwärts hochgehalten. Die traditionelle Unterscheidung zwischen «rechts» und «links» habe keine Bedeutung mehr, behaupten sie, um ihre gegenwärtigen und zukünftigen Bündnisse mit nationalistischen und äußerst rechten Organisationen in ganz Europa zu rechtfertigen. Entsprechend werden – wie in der Sozialdemokratie – programmatische Debatten und daraus folgende Verbindlichkeiten und die Abstützung eines Aufbauprojektes auf Basisaktivitäten wenn nicht mit zynischen Floskeln gar lächerlich gemacht, so doch nicht ernst genommen. Wie beispielsweise bei Syriza – oder in einem anderen Stadium bei Podemos in Spanien.

Die Unterschiede zwischen «rechts» und «links» mögen für viele Linke irrelevant sein, für die Arbeiterklasse haben sie allerdings große Bedeutung, denn schließlich ist sie es, die, wie Karl Marx schrieb (MEW 23, 181), ihre «eigene Haut zu Markte» tragen muss.

Die wachsende nationalistische und faschistische Reaktion ist die Antwort der Bourgeoisie auf die Krise des kapitalistischen Nationalstaatensystems. Die Arbeiterklasse muss ihre eigene Antwort vorbereiten, die sich auf die internationale Vereinigung der arbeitenden Bevölkerung im Kampf für eine sozialistische Welt gründet.

 

Tags: , , , , ,