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Die Gesamtarbeitsverträge als Weichteile der Schweizer Gewerkschaftspolitik ?

Eingereicht on 23. Mai 2015 – 11:18

Willi Eberle. Die Gesamtarbeitsverträge (GAVs) spielen alles in allem eine lediglich nachgeordnete Rolle in der gesellschaftlichen Struktur der Schweiz. Vor allem aufgrund ihres beschränkten Abdeckunggrades: sie decken lediglich etwa 42 % der Lohnabhängigen ab und viele dieser GAVs enthalten keine Bestimmungen über einen obligatorischen Mindestlohn. Und falls solche überhaupt bestehen, sind sie in vielen Fällen ungenügend, um die Lohnabhängigen vor der Armut trotz Vollzeit-Arbeit zu schützen.  So stellt der SGB 2013 selbst fest : «Die Schweiz ist das einzige…» unter den wohlhabendsten Ländern der OECD, «…das einen GAV-Abdeckungsgrad von unter 60 Prozent aufweist».  Zwar ist es möglich, einen GAV als obligatorisch in einem Bereich zu erklären, auch für Firmen, die den GAV nicht unterschrieben haben. Aber dies ist ein kompliziertes Verfahren und es ist schwierig, diese dann auch wirklich in Kraft zu setzen.

Keine der im Rahmen der sogenannten flankierenden Massnahmen versprochenen «Erleichterungen» haben erlaubt, die Lage zu verbessern.

Es war von daher nur logisch, dass die sogenannten flankierenden Massnahmen, die gerade das System der GAVs im Zentrum ihrer Architektur haben, zum Scheitern verurteilt waren, wie sich inzwischen bestätigt hat. Diese haben lediglich erlaubt, die Entwicklung des Lohn und Sozialdumpings zu «begleiten» (das heisst zu begünstigen), was seit dem Beginn der bilateralen Verträge ja  auch das eigentliche Ziel der Liberalisierung des Arbeitsmarktes gewesen ist.

Seit einigen Monaten leben wir in einer Phase einer verstärkten Unternehmeroffensive gegen das System der GAVs. Die Aufhebung des Frankenmindestkurses durch die Schweizerische Nationalbank (SNB) traf auf eine Unternehmerschaft, die über die vergangenen Jahre ihre politische Situation deutlich ausbauen und verbessern konnte – nicht zuletzt gerade wegen der Personenfreizügigkeit. Und sie trifft auf eine Arbeiterklasse, die über die vergangenen Jahrzehnte politisch noch weiter  wehrlos und geschwächt wurde.

Wir denken nicht, dass die Unternehmer mit diesem Angriff die GAVs als solche zerstören wollen. Ihre Reichweite, ihre geringe Fähigkeit, den Lohnabhängigen wirkliche Rechte und materielle Vorteile zu bringen würden aus Sicht der Unternehmer deren Beseitigung nicht rechtfertigen. Sie haben in deren Augen vielmehr solange eine nützliche Funktion, als sie das wichtigste Instrument sind, die Beziehung zwischen den Unternehmern und den Lohnabhängigen via Gewerkschaften als Treuhänder des absoluten Arbeitsfriedens zu kontrollieren. Sie dienen einfach gesagt dazu, jede aufkommende Form des Protests der Arbeiterinnen und Arbeiter in die demobilisierenden Kanäle der Sozialpartnerschaft zu lenken.

Dies jedoch hinderte die Unternehmer vor allem seit einigen Monaten nicht daran, nun noch verschärfter gegen alle Verbesserungen in den GAVs vorzugehen, die über die vergangenen Jahre erkämpft wurden. Gerade in drei Sektoren sind die Lohnabhängigen solchen Angriffen auf die wie auch immer dünnen Bestimmungen ihres GAVs unterworfen.

Das wohl augenfälligste Beispiel bietet die grafische Industrie. Über die vergangenen Tage hat die VISCOM, der Unternehmerverband der grafischen Industrie, angekündigt, sie werde einer Erneuerung des nationalen Branchen-GAVs nur beitreten, falls  die Wochenarbeitszeit von 40 auf 44 Stunden und die Überzeitzuschläge für die Nachtarbeit gestrichen werden.

In der Hotelbranche weht ebenfalls ein rauer Wind. Dort gilt einer der wichtigsten GAVs,  einer derjenigen mit der höchsten Zahl der unterstellten Lohnabhängigen, da er vor kurzem als allgemeinverbindlich deklariert wurde. Hier gilt der Angriff den Löhnen, da die Unternehmer den 13. Monatslohn abschaffen wollen.

Ferner haben die Unternehmer der Firmen für Personalverleih angekündigt, dass sie den GAV nicht mehr erneuern wollen, den sie vor drei Jahren mit den Gewerkschaften unterzeichnet haben; auch dieser GAV wurde als allgemeinverbindlich erklärt. Daraus ersieht man den entschlossenen Willen der Unternehmer, die Offensive gegen die Arbeitsbedingungen und die Löhne zu verschärfen: der Minimallohn ist dort bereits jetzt in Hochlohngebieten lediglich (z.B. Zürich) auf 3´200.- und in Tieflohngebieten (z.B. Tessin) auf 2´700.- Franken bei einem Jahrespensum von 2’187 Stunden festgelegt!

Auf Ende des Jahres läuft der Landesmantelvertrag im Bauhauptgewerbe (LMV) aus. Der LMV ist einer der über die letzten Jahren wichtigsten Verträge, in dem vor allem in den 1990er und anfangs der 2000er Jahren wichtige Errungenschaften erkämpft wurden, mit denen wirkliche materielle Verbesserungen für die Lohnabhängigen erreicht wurden – denken wir nur an die Frühpensionierung! Verbesserungen, die unter der Führung der damaligen GBI mit grossen Mobilisierungen errungen wurden.

Nun ist der LMV in grossen Schwierigkeiten. Nicht nur weil er immer häufiger umgangen und immer weniger angewandt wird. So berichtete das seco kürzlich, dass im Bauhauptgewerbe in den kontrollierten Betrieben die Verletzungen der Vertragsbestimmungen zwischen 2013 und 2014 von 10 % auf 34 % gestiegen sind. Und dies in einer Periode, wo die Gewerkschaften immer grössere Mühe haben, die Basis wirklich und erfolgreich zu mobilisieren. Es sei nur daran erinnert, dass in den verflossenen fünf Jahren die Unternehmer sowohl die Lohnobergrenze wie auch die Lohnuntergrenze mehrfach einseitig festgelegt haben, ohne dies überhaupt mit den Gewerkschaften zu diskutieren. Und diese waren nicht in der Lage, eine wie auch immer bescheidene Abwehr dieses unakzeptablen Vorgehens der Unternehmer zu organisieren.

Ein klares Zeichen eines unumkehrbaren Niederganges der wenigen positiven Aspekte des GAV-Systems.

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